Wer randaliert, der zahlt! Wer „nur" dabei ist, manchmal auch...

OVG Lüneburg, Urteil vom 24.02.2014, 11 LC 228/12

von Life and Law am 01.12.2014

+++ Kosten der Unterbringung im Polizeigewahrsam +++ Pflicht zur inzidenten Rechtmäßigkeitsprüfung des Polizeigewahrsams +++ Vereinbarkeit der Freiheitsentziehung mit Art. 5 EMRK +++ §§ 18, 19 Nds. SOG, Art. 104 II GG, Art. 5 I S. 2 lit. b u. c EMRK

Sachverhalt (verkürzt und leicht abgewandelt): Am 05. Februar 2011 kam es im Vorfeld der Bundesligapartie zwischen Hannover 96 und dem VfL Wolfsburg um 10:30 Uhr zu einem Angriff hannoverscher Ultras gegen Fans des VfL Wolfsburg. Aus einer Gruppe von bis zu 50 Personen warfen die Ultras an einer Baustelle aufgenommene Steine und Teile der Baustellenabsperrungen in Richtung des Lokals „E", in dem sich zu diesem Zeitpunkt bis zu 150 Wolfsburger Fans aufhielten. Dabei gingen Fensterscheiben der Gaststätte zu Bruch. Außerdem zündeten die Ultras Knallkörper und entfachten ein bengalisches Feuer. Sie fühlten sich von den Wolfsburger Fans provoziert, da diese mit dem Lokal „E" eine Gaststätte in unmittelbarer Nähe der Gaststätten „K" und „L" aufsuchten, welche als Treffpunkte der hannoverschen Ultra-Szene bekannt sind. Die Ultras von Hannover 96 hatten sich, für ein Heimspiel untypisch, bereits am Vormittag um 9:00 Uhr in der Gaststätte „P" getroffen. Von dort aus begaben sie sich zielgerichtet in Richtung Gaststätte „E", um den Angriff durchzuführen.

Nach der Beendigung des Angriffs, der nur ca. eine Minute dauerte, gelang es der Polizei, einzelne Personen der Ultra-Gruppierung zu verfolgen und - formell rechtmäßig - festzunehmen, darunter den Kläger. Im Rahmen einer Beschuldigtenvernehmung gab er an, er sei zwar seit zwei Jahren Mitglied der Ultra-Gruppe, er habe aber weder Gegenstände geworfen noch habe er gesehen, wie Scheiben eingeworfen wurden. Polizeilichen Ermittlungen zufolge war die Ultra-Gruppierung von Hannover 96 in der Vergangenheit bereits häufiger in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt.

Laut polizeilichem Aktenvermerk wurde der Kläger im Anschluss an die Vernehmung um 13:10 Uhr in Gewahrsam genommen, um weitere Auseinandersetzungen zu verhindern. Zeitgleich suchten die Beamten in einem Telefonat mit dem zuständigen Bereitschaftsrichter um eine richterliche Vorführung des Klägers nach. Der Richter erklärte, er sei bis etwa 16:00 Uhr mit Haftanträgen beschäftigt. Bei erneuter Rücksprache um 16:00 Uhr teilte der Richter mit, eine Vorführung könne wegen der vorrangigen Befassung mit der Verkündung von Haftbefehlen auch bis 17:20 Uhr nicht sichergestellt werden. Der in Gewahrsam genommene Kläger sei deshalb noch am selben Tag nach Beendigung des Bundesligaspiels zu entlassen. Der Kläger wurde daraufhin nach Spielende um 17:30 Uhr entlassen.

Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen den Kläger wurde mangels Tatnachweises gem. § 170 II StPO eingestellt.

Mit Bescheid vom 18. April 2011, am selben Tag (Montag) zur Post gegeben, zog die Beklagte den Kläger gem. §§ 1, 3, 5 NVwKostG formell rechtmäßig zu den Kosten der Unterbringung im Polizeigewahrsam i.H.v. 25,- € heran. Hiergegen erhob der Kläger am 10. Mai 2011 Anfechtungsklage vor dem zuständigen VG Hannover. Die konkrete Freiheitsentziehung sei unverhältnismäßig gewesen. Darüber hinaus sei der Richtervorbehalt des § 19 I Nds. SOG missachtet worden. Im Übrigen verstoße die Freiheitsentziehung gegen Art. 5 I S. 2 lit. c EMRK. Die Beklagte ist der Auffassung, das VG dürfe die Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme mangels Rechtswegzuständigkeit gar nicht überprüfen, da hierfür gem. § 19 III Nds. SOG das Amtsgericht zuständig sei.

Hat die Klage Aussicht auf Erfolg? Die Höhe der Gebühren ist nicht zu beanstanden. Auf § 11 I NVwKostG wird hingewiesen.

A) Sounds

1. Wird eine amtsrichterliche Entscheidung über die Zulässigkeit einer polizeilichen Ingewahrsamnahme nicht getroffen, ist im Streit über die Erhebung von Gebühren für die Unterbringung im polizeilichen Gewahrsam die Rechtmäßigkeit der polizeilichen Maßnahme eine wegen Art. 19 IV GG inzident zu prüfende Voraussetzung für die Gebührenpflicht.

2. Der Eingriffsgrund des Art. 5 I S. 2 lit. c EMRK bietet keine ausreichende Grundlage für die Rechtfertigung einer Freiheitsentziehung im Wege eines polizeilichen Präventivgewahrsams.

3. Der polizeiliche Präventivgewahrsam kann nach Art. 5 I S. 2 lit. b EMRK gerechtfertigt sein.

B) Problemaufriss

Immer wieder kommt es im Rahmen von Großveranstaltungen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen rivalisierender Gruppen. Wie der G8-Gipfel in Heiligendamm im Jahr 2007 oder die Ausschreitungen rund um das Projekt „Stuttgart 21" zeigen, ist dies kein spezielles Problem des Fußballs.

Leider sorgen aber auch Hooligans und teilweise gewaltbereite sog. „Ultras" im Rahmen von Fußballspielen häufig für tätliche Übergriffe auf gegnerische Fans. Die Polizei steht dann vor der Aufgabe, potenzielle Opfer zu schützen und Straftaten zu beenden und präventiv zu unterbinden, ohne jedoch selbst gegen Recht und Gesetz zu verstoßen, Art. 20 III GG. Hierbei bewegt sich die Polizei häufig auf einem schmalen Grat. Insbesondere der Polizeigewahrsam stellt einen erheblichen Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit der Person gem. Art. 2 II GG dar. Auch der Schutz der Allgemeinheit, zu dem die Polizei ebenfalls durch Art. 2 II GG verpflichtet ist, rechtfertigt deshalb keinen inflationären Einsatz dieses scharfen Schwertes. Erforderlich ist vielmehr eine verhältnismäßige Handhabung im Einzelfall.

Wie der vorliegende Fall zeigt, muss sich die Problematik einer Freiheitsentziehung längst nicht mehr nur an nationalen (Verfassungs-) Normen messen lassen. Auch wenn es mancher Student und möglicherweise einige Praktiker nicht gerne hören: Art. 5 EMRK und die hierzu korrelierende Rechtsprechung des EGMR müssen im Rahmen von Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit von Freiheitsentziehungen ausreichend berücksichtigt werden.

Anmerkung: Angesichts sich (vermeintlich) häufender Polizeieinsätze bei Fußballspielen wird die Forderung lauter, künftig die Fußballvereine hierfür zur Kasse zu bitten. Hierzu müssten die Landeskostengesetze geändert werden, die bislang für entsprechende Polizeieinsätze die Kostenfreiheit vorsehen. Das Bundesland Bremen schreitet hier voran und hat am 22.10.2014 eine entsprechende Änderung beschlossen. Künftig soll die DFL (Deutsche Fußball Liga) zumindest bei Problemspielen als Veranstalter mit bis zu 250.000,- € pro Spiel herangezogen werden. Diese Gesetzesänderung erscheint äußerst fragwürdig. Juristisch ist fraglich, ob die Kostenerhebung bei den Vereinen mit dem Verursacherprinzip des Kostenrechts vereinbar ist. Politisch ist eine entsprechende Regelung sicherlich populär -- bei Nichtfußballfans. Fußballfans werden hingegen ins Felde führen, dass die Vereine der ersten und zweiten Liga 2013/2014 annähernd eine Milliarde Euro Steuern gezahlt haben, womit die Kosten der Polizeieinsätze ja wohl gezahlt sein sollten. Die DFL hat ihrerseits bereits angekündigt, die Kosten ggf. an Werder Bremen „weiterzuleiten".

C) Lösung

Die Klage hat Aussicht auf Erfolg, wenn alle Sachentscheidungsvoraussetzungen1 vorliegen und die Klage begründet ist.

I. Vorliegen der Sachentscheidungsvoraussetzungen

Zunächst müssten alle Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen.

1. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

Der Verwaltungsrechtsweg müsste eröffnet sein.

Dies ist vorliegend gem. § 40 I S. 1 VwGO der Fall, da streitentscheidende Normen solche des NVwKostG, des Nds. SOG und der EMRK sind und damit Normen des öffentlichen Rechts. Somit liegt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vor.

Aus § 19 III Nds. SOG folgt kein anderes Ergebnis, da es nicht unmittelbar um die Rechtmäßigkeit der polizeilichen Ingewahrsamnahme, sondern um die des Gebührenbescheids geht.2 Auch § 23 EGGVG ist als anderweitige Rechtswegzuweisung nicht einschlägig, da die Polizei den Kläger schwerpunktmäßig aus präventiven Gründen in Gewahrsam nahm und nicht aus Gründen der Strafverfolgung. Nur in letztgenanntem Fall gilt aber § 23 I S. 1 EGGVG.

2. Statthafte Klageart

Der Heranziehungsbescheid der Beklagten ist ein für den Kläger belastender Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG.

Anmerkung: Existiert in Ihrem Bundesland eine eigene landesrechtliche Regelung wie z.B. in Hessen mit § 35 S. 1 HessVwVfG, so sollten Sie selbstverständlich diese zitieren, sofern es sich um einen Verwaltungsakt handelt, auf den das Landes-VwVfG Anwendung findet.

Damit ist die Anfechtungsklage nach § 42 I Alt. 1 VwGO die statthafte Klageart.

3. Klagebefugnis

Als Adressat eines belastenden Verwaltungsakts ist der Kläger möglicherweise jedenfalls in Art. 2 I GG verletzt und damit klagebefugt gem. § 42 II VwGO.

4. Frist

Die Klage müsste gem. § 74 I S. 2 VwGO fristgerecht innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheids erhoben worden sein.

Der Bescheid wurde am Montag, dem 18. April 2011 zur Post gegeben. Gem. § 41 II S. 1 VwVfG gilt der Verwaltungsakt daher am Donnerstag, dem 21. April 2011 als bekannt gegeben. Die Frist begann somit nach § 57 II VwGO, § 222 I ZPO, § 187 I BGB am Freitag, 22. April 2011, zu laufen und endete gem. § 188 II BGB eigentlich am 21. Mai 2011. Da es sich hierbei um einen Samstag handelte, verschob sich das Fristende gem. § 222 II ZPO auf den Ablauf des folgenden Montags, 23. Mai 2011.

Die Anfechtungsklage vom 10. Mai 2011 ist somit fristgemäß erhoben.

Anmerkung: Sind die Daten im Sachverhalt genannt, sollten Sie in der gebotenen Kürze das Fristende unter Nennung der einschlägigen Normen berechnen, auch wenn die Frist wie hier offensichtlich eingehalten wurde. Fristprobleme begegnen Ihnen in fast jedem Examenstermin. Geben Sie sich hier keine Blöße und verschenken Sie keine einfachen Standardpunkte.

5. Übrige Sachentscheidungsvoraussetzungen

Vom Vorliegen der übrigen Sachentscheidungsvoraussetzungen ist mangels entgegenstehender Angaben im Sachverhalt auszugehen. Insbesondere sind die Beteiligten beteiligten- und prozessfähig gem. §§ 61, 62 VwGO. Ferner ist das VG Hannover laut Sachverhalt sachlich und örtlich gem. §§ 45, 52 VwGO zuständig.

6. Zwischenergebnis

Es liegen alle Sachentscheidungsvoraussetzungen der Klage vor.

II. Begründetheit

Fraglich ist, ob die Klage auch begründet ist.

Dies ist der Fall, wenn sich die Klage gegen den richtigen Beklagten richtet, der Heranziehungsbescheid rechtswidrig und der Kläger hierdurch in seinen subjektiven Rechten verletzt ist, §§ 78, 113 I S. 1 VwGO.

1. Passivlegitimation

Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte im Sachverhalt richtet sich die Klage gegen den richtigen Beklagten, § 78 I VwGO.

hemmer-Methode: Je nach der gängigen Praxis in Ihrem Bundesland kann die Passivlegitimation auch als Zulässigkeitsvoraussetzung zu prüfen sein. Auch die Frage, ob das Rechtsträgerprinzip, § 78 I Nr. 1 VwGO, oder das Behördenprinzip des § 78 I Nr. 2 VwGO gilt, richtet sich nach dem jeweils einschlägigen Landesrecht.

2. Rechtmäßigkeit des Bescheids

Zu prüfen ist die Rechtmäßigkeit des Bescheids.

a) Rechtsgrundlage

Laut Sachverhalt wurde der Heranziehungsbescheid auf die taugliche Rechtsgrundlage der §§ 1, 3, 5 NVwKostG gestützt.

b) Formelle Rechtmäßigkeit

Die Behörde handelte laut Sachverhalt formell rechtmäßig.

c) Materielle Rechtmäßigkeit

Fraglich ist, ob der Heranziehungsbescheid auch materiell rechtmäßig erlassen wurde.

Die Behörde hat laut Aufgabenstellung die Rechtsgrundlage richtig subsumiert, der Gebührenbescheid ist der Höhe nach nicht zu beanstanden.

aber: Pflicht zur inzidenten Rechtmäßigkeitskontrolle des Polizeigewahrsams

Jedoch könnte sich die materielle Rechtswidrigkeit des Bescheids daraus ergeben, dass die Ingewahrsamnahme selbst nicht rechtmäßig erfolgte. Gem. § 11 I NVwKostG sind Kosten, die dadurch entstanden sind, dass die Behörde die Sache unrichtig behandelt hat, zu erlassen. Die Vorschrift ist Ausprägung von Art. 20 III GG. Ein Bescheid, der Gebühren für eine rechtswidrige Amtshandlung verlangt, ist rechtswidrig.

Anmerkung: Im Kostenrecht gilt also der Grundsatz der Konnexität. Nur für rechtmäßige Handlungen können rechtmäßig Kosten erhoben werden. Ist die zugrundeliegende Maßnahme rechtswidrig, ist dies automatisch auch der Kostenbescheid.

Rechtswegproblem

Fraglich ist insoweit aber, ob das VG die Rechtmäßigkeit der polizeilichen Ingewahrsamnahme überhaupt überprüfen darf. Hiergegen könnte sprechen, dass § 19 I S. 1, III S. 1 Nds. SOG für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung die Amtsgerichte für zuständig erklärt.

Es ist aber vorliegend zu berücksichtigen, dass der Kläger bereits um 17:30 Uhr entlassen wurde, noch bevor eine solche Überprüfung durch den zuständigen Bereitschaftsrichter tatsächlich stattfand. Auch eine spätere Prüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung durch das Amtsgericht gem. § 19 II S. 1 Nds. SOG, welche innerhalb eines Monats nach Beendigung der Freiheitsentziehung beantragt werden kann, scheidet vorliegend aus, da die Monatsfrist verstrichen ist.

hemmer-Methode: Interessant ist auch die umgekehrte Situation: Hat eine Prüfung durch den Amtsrichter anders als hier stattgefunden und hat dieser einen Beschluss erlassen, so darf das VG im Rahmen des Gebührenbescheids diese Frage gerade nicht mehr prüfen. Die Verwaltungsgerichte sind auch an die im Bereich anderer Gerichtsbarkeiten ergangenen rechtskräftigen Entscheidungen gebunden.3

Die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes, Art. 19 IV GG, gebietet es daher, die Rechtmäßigkeit des polizeilichen Gewahrsams im Rahmen der Überprüfung des Heranziehungsbescheids inzident zu überprüfen.4 Zwar hat sich der Landesgesetzgeber dazu entschieden, den Rechtsschutz unmittelbar gegen die Ingewahrsamnahme den Amtsgerichten im Wege der abdrängenden Sonderzuweisung nach § 40 I S. 2 VwGO anzuvertrauen, dagegen die nachgelagerte Prüfung der Rechtmäßigkeit des auf der Ingewahrsamnahme beruhenden Heranziehungsbescheids bei den Verwaltungsgerichten zu belassen. Eine solche Rechtswegspaltung hat jedoch nicht automatisch zur Folge, dass es einem angerufenen Gericht verwehrt ist, Vorfragen zu prüfen, die, wären sie Hauptfrage, in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Gerichts fielen.5 Gemäß § 17 II S. 1 GVG, der über § 83 S. 1 VwGO auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit Anwendung findet, hat das Gericht des zulässigen Rechtswegs auch rechtswegfremde, entscheidungserhebliche Vorfragen zu prüfen und zu entscheiden.6 Bei der Frage der Rechtmäßigkeit der polizeilichen Ingewahrsamnahme handelt es sich um eine solche entscheidungserhebliche Vorfrage im Sinne des § 17 II S. 1 GVG, wie sich aus § 11 I NVwKostG ergibt.

Die Rechtmäßigkeit des Polizeigewahrsams ist deshalb vorliegend inzident zu prüfen.

hemmer-Methode: Alleine aus klausurtaktischen Gründen müssen Sie diesen Weg gehen, da die Überprüfung der Ingewahrsamnahme den Schwerpunkt der Klausur bildet!

Wer dies trotzdem anders sieht, fällt zwar möglicherweise durch, befindet sich aber immerhin in Gesellschaft einiger Verwaltungsrichter.7 Deren Argumentation, der Kläger habe die Frist des § 19 II S. 1 Nds. SOG verstreichen lassen und hierin läge eine zurechenbare Versäumung eigener Rechtsverteidigung, wirkt aber letztlich grotesk: Danach müsste der Betroffene in weiser Voraussicht gem. § 19 II S. 1 Nds. SOG die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung vom Amtsrichter fristgerecht prüfen lassen, um dann - für alle Fälle - gegen einen verwaltungsrechtlichen Gebührenbescheid gewappnet zu sein (sozusagen „Rechtsschutz auf Vorrat").

Von einer zurechenbaren Versäumung eigener Rechtsverteidigung kann aber nur dort gesprochen werden, wo der Regelungsgehalt eines Rechtsbehelfs und die Folgen einer nicht fristgemäßen Einlegung erkennbar sind. § 19 II S. 1 Nds. SOG schließt aber eine Inzidentprüfung i.R.d. Kontrolle nachgelagerter Gebührenbescheide weder aus noch ordnet er eine materielle Präklusion der gegen die Ingewahrsamnahme gerichteten Einwände an.8

aa) Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme

Zu prüfen ist daher, ob die polizeiliche Ingewahrsamnahme vom 05. Februar 2011 rechtmäßig war.

(1) Rechtsgrundlage

Als taugliche Rechtsgrundlage kommt § 18 I Nr. 2 lit. a Nds. SOG in Betracht. Hiernach kann die Polizei eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn dies unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern.

(2) Formelle Rechtmäßigkeit

An der formellen Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme bestehen nach dem Sachverhalt keine Zweifel.

(3) Materielle Rechtmäßigkeit

Fraglich ist deshalb alleine die materielle Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme.

Subsumtion unter die Rechtsgrundlage

Gem. § 18 I Nr. 2 lit. a Nds. SOG müsste die Ingewahrsamnahme unerlässlich gewesen sein, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern.

Der Begriff der „unmittelbar bevorstehenden Begehung" einer Straftat ist vor dem Hintergrund des hohen Ranges der Freiheit einer Person und damit eng auszulegen. Hieraus ergeben sich zum einen besondere Anforderungen an die zeitliche Nähe des Schadenseintritts, zum anderen stellt der Begriff strengere Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad. Es müssen daher nachvollziehbare, bestimmte Tatsachen vorliegen, die die Annahme begründen, dass der Schaden sofort oder in allernächster Zeit und zudem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten wird.9 Maßgeblich ist die ex-ante-Sicht eines vernünftigen, objektiven Durchschnittsbeamten.

Aus der maßgeblichen Sicht ex-ante war zu befürchten, dass die hannoverschen Ultras nach Abschluss des Angriffs im weiteren Tagesverlauf bis zur Beendigung des Fußballspiels erneut die gewalttätige Auseinandersetzung mit Wolfsburger Fans suchen würden. Starkes Indiz hierfür ist, dass der Angriff der Ultras lediglich eine Minute dauerte und sich die Personengruppe danach trennte. Vieles spricht daher dafür, dass es sich um ein erstes Aufeinandertreffen handelte, dem weitere Tathandlungen folgen sollten. Dies wird unterstrichen durch die Tatsachen, dass sich die Ultras von den Wolfsburger Fans provoziert fühlten. Ungewöhnlich war zudem, dass sich die Ultras von Hannover 96, für ein Heimspiel untypisch, bereits am Vormittag um 9:00 Uhr trafen. Dieses Verhalten kann nur so gedeutet werden, dass dort das strategische Vorgehen gegen die Wolfsburger Fans abgestimmt werden sollte. Weitere Straftaten waren daher aus der Sicht ex-ante durchaus wahrscheinlich.

Auch mussten die Beamten davon ausgehen, dass der Kläger sich an diesen weiteren Straftaten beteiligen würde. Zum einen spricht hierfür, dass der Kläger zusammen mit den anderen Tätern nach Abschluss des Angriffs floh. Zum anderen gab der Kläger an, seit zwei Jahren der Ultra-Gruppe anzugehören. Die Ultrabewegung grenzt sich zwar von Hooligans ab, bei denen die gewalttätige Auseinandersetzung mit anderen Gruppen im Vordergrund steht und Fußballspiele nur den Anlass dazu bieten. Bei einzelnen Ultra-Gruppierungen ist der Einsatz von Gewalt aber ein akzeptiertes Mittel im Rahmen der Auseinandersetzungen mit gegnerischen Fangruppen. Eine konkrete Beteiligung am strafbaren Geschehen rund um die Gaststätte „E" konnte dem Kläger zwar nicht nachgewiesen werden. Jedoch gehört er als Mitglied der Ultras einer Gruppe an, die in der Vergangenheit bereits regelmäßig durch Gewaltbereitschaft aufgefallen ist. Kennzeichnend für solche Gruppierungen ist der große Zusammenhalt ihrer Mitglieder untereinander und ihr geschlossenes Auftreten nach außen. Darüber hinaus kann auch bereits derjenige, der durch anfeuernde Zurufe eine psychische Stütze für Personen einer gewalttätigen Menschengruppe ist, den Straftatbestand des Landfriedensbruchs verwirklichen.10 Jedenfalls dies war aus der Sicht ex-ante sehr wahrscheinlich.

Anmerkung: Das Vorgehen gegen mögliche Gewalttäter, denen aber bislang noch keine konkrete Gewalttat nachgewiesen werden konnte, ist eine Problemstellung, die Ihnen auch im Strafrecht -- Landfriedensbruch, Beteiligung an einer Schlägerei, psychische Beihilfe als Stichworte -- und im Zivilrecht begegnen kann. So hat der BGH ein bundesweites Stadionverbot bestätigt, das alleine wegen möglicher künftiger Straftaten verhängt wurde: „Bei der Festsetzung von Stadionverboten sind andere Maßstäbe anzuwenden als bei der strafrechtlichen Sanktionierung von Störungen bei früheren Spielen. Während insoweit nach dem Grundsatz in dubio pro reo eine Bestrafung unterbleibt, wenn keine Tat bewiesen ist, können Stadionverbote eine nennenswerte präventive Wirkung nur dann erzielen, wenn sie auch gegen solche Besucher ausgesprochen werden, die zwar nicht wegen einer Straftat verurteilt sind, deren bisheriges Verhalten aber besorgen lässt, dass sie bei künftigen Spielen sicherheitsrelevante Störungen verursachen werden. .... Anknüpfungspunkt für das Stadionverbot ist nicht die Verwirklichung eines Straftatbestandes, sondern das Verhalten des Klägers, das Anlass für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegeben hat.

Die Umstände, die dazu geführt haben, haben auch nach Einstellung des Verfahrens weiterhin Bedeutung. Der Kläger ist nicht zufällig in die Gruppe, aus der heraus Gewalttaten verübt worden sind, geraten, sondern war Teil dieser Gruppe. Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, mit der der Kläger in Gewahrsam genommen wurde, rechtfertigt die Annahme, dass er sich bei Fußballveranstaltungen in einem zu Gewalttätigkeiten neigenden Umfeld bewegt und von ihm deshalb künftige, Dritte gefährdende Störungen zu besorgen sind; auf den Nachweis, er habe sich an den aus der Gruppe heraus begangenen Gewalttätigkeiten beteiligt, kommt es nicht an."

Weiterhin müsste die Ingewahrsamnahme des Klägers „unerlässlich" im Sinne des § 18 I Nr. 2 lit. a Nds. SOG gewesen sein. Dieses Merkmal ist eine tatbestandliche Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und bedeutet daher, dass das Mittel der polizeilichen Ingewahrsamnahme nur angewendet werden darf, wenn es zur Verhinderung der befürchteten Straftat geeignet und erforderlich ist. Wenn die mit Strafe bedrohte Handlung durch andere polizeiliche Maßnahmen verhütet werden kann, die den Einzelnen und die Allgemeinheit weniger beeinträchtigen, ist die Ingewahrsamnahme nicht erforderlich und daher nicht unerlässlich.11

Solche milderen Mittel sind vorliegend jedoch nicht ersichtlich. Insbesondere ist die Erteilung eines Aufenthaltsverbotes kein gleich effektives Mittel, denn mit den üblicherweise bei einem Fußballspiel vorhandenen Polizeikräften wäre es nicht möglich, ein solches Verbot effektiv zu kontrollieren und nötigenfalls mit unmittelbarem Zwang durchzusetzen.

Verhältnismäßigkeit der Maßnahme

Angesichts des Ausmaßes der bereits eingetretenen und weiterhin zu erwartenden Störungen der öffentlichen Sicherheit war die Ingewahrsamnahme des Klägers auch im Übrigen gem. § 4 Nds. SOG verhältnismäßig. Auch die Dauer der Maßnahme ist nicht zu beanstanden. Der Kläger wurde zeitnah nach Ende des Fußballspiels gegen 17:30 Uhr entlassen.

Verstoß gegen Richtervorbehalt, Art. 104 GG

Bei der Ingewahrsamnahme handelt es sich um eine die Freiheit der Person nicht nur beschränkende, sondern aufhebende Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 104 II GG.12 Dem Kläger wurde vorübergehend die Freiheit entzogen. Dies folgt aus Intensität und Dauer der gegen ihn ergriffenen, seine körperliche Bewegungsfreiheit nach allen Richtungen aufhebenden Maßnahme.

Folglich müssten die verfassungsmäßigen Voraussetzungen des Richtervorbehalts gem. Art. 104 II S. 1 GG eingehalten worden sein.

Ist wie hier wegen des Charakters des Eingriffs als Gefahrenabwehrmaßnahme eine vorherige richterliche Anordnung nicht möglich, muss die richterliche Entscheidung nach Art. 104 II S. 2 GG unverzüglich nachgeholt werden. Diesen Anforderungen genügt die Vorschrift des § 19 I Nds. SOG. Gem. § 19 I S. 2 Nds. SOG bedarf es einer richterlichen Entscheidung dann nicht, wenn anzunehmen ist, dass die Entscheidung erst nach Wegfall des Grundes der Maßnahme ergehen wird. Auch diese Ausnahme ist wegen des polizeirechtlichen Grundsatzes der Effektivität der Gefahrenabwehr verfassungsmäßig, zumal dem Betroffenen die Möglichkeit der nachträglichen Rechtmäßigkeitsprüfung des § 19 II S. 1 Nds. SOG verbleibt und Art. 19 IV GG damit gewahrt ist.

Vorliegend haben die Polizeibeamten zweimal telefonisch, um 13:10 Uhr und um 16:00 Uhr, versucht, eine richterliche Entscheidung herbeizuführen. Der zuständige Richter sah wegen der vorrangigen Befassung mit Haftsachen keine Möglichkeit, den Kläger anzuhören. Bei diesen Telefonaten handelte es sich nicht um eine richterliche Entscheidung i.S.d. Art. 104 II S. 1 GG, denn eine solche setzt wegen Art. 103 I GG eine mündliche Anhörung gerade voraus.13 Das Verhalten des Bereitschaftsrichters kann daher nur so verstanden werden, dass er die erforderliche Anhörung zunächst zurückstellen wollte und dann wegen des Wegfalls des Grundes der Maßnahme i.S.d. § 19 I S. 2 Nds. SOG nicht mehr für erforderlich gehalten hat. Zu dem Zeitpunkt, zu dem sich der Richter mit der Sache hätte befassen können, war das Spiel bereits beendet und der Kläger wurde auf richterliche Weisung entlassen. Das Merkmal der „Unverzüglichkeit" gem. Art. 104 II S. 2 GG steht diesem Vorgehen nicht entgegen, da dies lediglich bedeutet, dass die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachgeholt werden muss.14 Die vorrangige Befassung mit Haftsachen stellt jedoch einen hinreichenden Sachgrund dar.

Verstoß gegen Art. 5 EMRK

Möglicherweise könnte aber ein Verstoß gegen Art. 5 EMRK vorliegen.

Rechtsfolgen eines solchen Verstoßes

Dabei ist zunächst fraglich, welche Folgen ein solcher Verstoß überhaupt hätte, denn die EMRK gilt als völkerrechtlicher Vertrag innerstaatlich nicht unmittelbar; sie genießt - im Gegensatz zum Unionsrecht - keinen Anwendungsvorrang vor dem abweichenden innerstaatlichen Recht. Jedoch ist die Bundesrepublik ihrer Verpflichtung, der EMRK innerstaatliche Geltung zu verleihen, durch die Transformation der EMRK in die deutsche Rechtsordnung in Form eines Bundesgesetzes nachgekommen. Auch wenn die EMRK damit im Rang unter dem Grundgesetz steht, ist sie als Auslegungshilfe bei der Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes sowie des innerstaatlichen Rechts unterhalb des Grundgesetzes heranzuziehen. Wegen des Verfassungsgrundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit, welcher sich aus Art. 59 II GG ableitet, sind Verwaltung und Gerichte dazu verpflichtet, das innerstaatliche Recht in Einklang mit der EMRK auszulegen, soweit dies nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation vertretbar erscheint.15 Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) haben eine über den jeweils entschiedenen Fall hinausgehende Orientierungs- und Leitfunktion für die Auslegung der EMRK.16

Sollte Art. 5 EMRK und die hierzu korrelierende Rechtsprechung bei der Auslegung des § 18 Nds. SOG verletzt und damit nicht ausreichend berücksichtigt worden sein, so hätte dies daher die Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme zur Folge.

Zulässigkeit einer Freiheitsentziehung nach EMRK

Vorliegend könnte gegen Art. 5 I S. 1 EMRK, wonach jede Person das Recht auf Freiheit und Sicherheit hat, verstoßen worden sein. Dies wäre der Fall, wenn keine rechtfertigende Ausnahme nach Art. 5 I S. 2 lit. a bis f EMRK einschlägig ist.

Rechtfertigung nach Art. 5 I S. 2 lit. c EMRK

Es könnte die Vorschrift des Art. 5 I S. 2 lit. c EMRK greifen.

Diese gestattet eine rechtmäßige Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde,

  • wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat (Alt. 1), oder
  • wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern (Alt. 2).

Da dem Kläger im Rahmen des Angriffs kein strafrechtliches Verhalten nachgewiesen werden konnte, ist Alt. 1 keinesfalls einschlägig.

Jedoch könnte Alt. 2 gegeben sein. Hiernach ist aber neben dem Vorliegen des Verdachts einer bevorstehenden Straftat nach dem Eingangssatz des Art. 5 I S. 2 lit. c EMRK Voraussetzung, dass die Festnahme „zum Zweck der Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde" vorgenommen wird. Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR ist die Freiheitsentziehung nach lit. c deswegen nur im Zusammenhang mit einem Strafverfahren zulässig.17 Diese Auslegung durch den EGMR ist vom erkennenden Gericht zu berücksichtigen.

hemmer-Methode: Genau das hat das VG aber in erster Instanz nicht getan. Vielmehr hat es sich an die Rspr. des EGMR wegen fehlender Rechtskrafterstreckung nicht gebunden gefühlt. Im Rahmen einer eigenen Auslegung kam es zu dem Ergebnis, dass der Präventivgewahrsam vom Wortlaut des Art. 5 I S. 2 lit. c EMRK gedeckt sei.

Über die Auslegung des Wortlauts und die Frage der Zulässigkeit des Präventivgewahrsams kann man sicherlich streiten. Ein anderes Ergebnis wäre hier ebenfalls denkbar.18 Nach den oben genannten Maßstäben darf ein deutsches Gericht aber die Rechtsprechung des EGMR, der nun einmal zuständig ist für die Auslegung der EMRK, nicht völlig ignorieren!

Eine Rechtfertigung über Art. 5 I S. 2 lit. c EMRK scheidet damit aus.

Rechtfertigung nach Art. 5 I S. 2 lit. b EMRK

Die Ingewahrsamnahme könnte jedoch nach Art. 5 I S. 2 lit. b EMRK gerechtfertigt sein.

Hiernach darf die Freiheit u.a. „zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung" entzogen werden. Wegen des hohen Stellenwertes der Freiheit einer Person ist dieses Merkmal jedoch einschränkend auszulegen. Nicht ausreichend hierfür ist die allgemeine Verpflichtung zur Befolgung der Gesetze. Der EGMR hat folgende Voraussetzungen19 aufgestellt:

  • Es muss sich um eine spezifische und konkrete Verpflichtung handeln, der der Betroffene bis dahin nicht nachgekommen ist, wobei eine solche Verpflichtung darin bestehen kann, die Begehung einer nach Ort, Zeitpunkt und Opfer hinreichend konkretisierten Straftat zu unterlassen.
  • Es bedarf des Hinweises auf die konkret zu unterlassene Handlung und der Weigerung des Betroffenen; eines solchen Hinweises bedarf es ausnahmsweise dann nicht, wenn der Betroffene eindeutige und aktive Schritte unternommen hat, die darauf hindeuten, dass er seiner Verpflichtung, den Frieden durch die Nichtbegehung einer spezifischen und konkreten Straftat zu wahren, nicht erfüllen wird.
  • Ferner darf die Freiheitsentziehung keinen Strafcharakter haben (hierfür wäre wie gezeigt lit. c einschlägig) und sie muss verhältnismäßig sein.

Nach dem bereits zu § 18 I Nr. 2 lit. a Nds. SOG Gesagten liegen diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall vor:

Die Freiheitsentziehung des Klägers diente der Erzwingung einer ihm obliegenden spezifischen und konkreten Verpflichtung, namentlich es zu unterlassen, sich weiterhin an gewalttätigen Auseinandersetzungen der Ultra-Gruppe zu beteiligen und dadurch die Straftatbestände der Körperverletzung, der Sachbeschädigung und des Landfriedensbruchs zu verwirklichen. Nach dem ersten Angriff bestand nach dem oben Gesagten auch die konkrete Befürchtung, dass sich der Kläger an weiteren Angriffen beteiligen wird.

Aus dem Verhalten des Klägers war weiter zu erkennen, dass er nicht gewillt war, den Frieden durch die Nichtbegehung der Straftat zu wahren. Der Kläger befand sich innerhalb einer gewalttätigen Gruppierung, aus der heraus unmittelbar zuvor der Angriff erfolgte und Straftaten begangen wurden. Damit hatte er aktive und eindeutige Schritte unternommen, die diesen Rückschluss zulassen. Eines ausdrücklichen Hinweises, welche konkrete Handlung der Kläger zu unterlassen habe, bedurfte es daher nicht.

Ferner diente die Ingewahrsamnahme der Verhinderung weiterer Straftaten und damit präventiven Zwecken. Sie wies daher keinen Strafcharakter auf.

Wie bereits zu § 18 I Nr. 2 lit. a Nds. SOG ausgeführt, war die Maßnahme auch verhältnismäßig.

bb) Zwischenergebnis

Die Ingewahrsamnahme des Klägers war rechtmäßig. Somit war auch der Heranziehungsbescheid materiell rechtmäßig.

III. Ergebnis

Es liegen zwar alle Sachentscheidungsvoraussetzungen vor, die Klage ist jedoch unbegründet. Die Klage hat daher keine Aussicht auf Erfolg.

D) Kommentar

(mg). Die Entscheidung des OVG Lüneburg überzeugt sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung. Es muss der Polizei möglich sein, im Rahmen von gewalttätigen Auseinandersetzungen bei Großveranstaltungen Straftaten, die aus einer großen Menschenmasse heraus begangen werden, effektiv in rechtmäßiger und zugleich praxistauglicher Weise zu unterbinden und präventiv zu verhindern. Genau das wäre aber nicht möglich, wenn eine für die Ingewahrsamnahme ausreichende Gefahr erst dann vorläge, wenn ein konkreter Tatverdacht hinsichtlich zuvor begangener Straftaten bestünde. Dies widerspräche dem Grundsatz der „Effektivität der Gefahrenabwehr".

Das OVG begründet die Entscheidung noch viel ausführlicher, als hier dargestellt. Dabei genügt das OVG mustergültig den Anforderungen der EGMR-Rspr. und rettet damit das Urteil der Vorinstanz jedenfalls im Ergebnis, indem es zwar Art. 5 I S. 2 lit. c EMRK ablehnt, jedoch lit.b für anwendbar hält. Zur Ehrenrettung des erstinstanzlichen VG sei erwähnt, dass das neue Urteil des EGMR, in dem er die Voraussetzungen des lit. b benennt, erst nach Erlass des erstinstanzlichen VG-Urteils erlassen wurde. Die vorherige Rspr. des EGMR zu Art. 5 I S. 2 lit. c EMRK deshalb völlig zu ignorieren, rechtfertigt dieser Umstand jedoch nicht.

Von Ihnen wird man im Examen keine detaillierten Inhalte der EGMR-Rspr. erwarten. Wahrscheinlicher ist es, dass diese im Sachverhalt skizziert wird. Das Verhältnis zwischen der EMRK bzw. der Rspr. des EGMR und der nationalen Rechtsordnung ist jedoch Examensstoff und sollte deshalb von Ihnen beherrscht werden.

E) Background

Mit einer ähnlichen Thematik setzte sich das

VG Trier, Urteil vom 07.10.2014,
1 K 854/14.TR

auseinander.

Nachdem der Kläger im April bei dem Spiel Eintracht Trier gegen KSV Hessen Kassel als Beteiligter an einem Platzsturm aufgefallen war, verhängte die Polizeibehörde für das gleiche Spiel im Juli dem Kläger gegenüber ein ganztägiges Aufenthaltsverbot im Stadtgebiet von Trier.

Zur Begründung führte die Polizeiinspektion Trier aus, dass zu dem genannten Spiel zwischen den Vereinen die Polizei die Anwesenheit einer großen Anzahl von Problemfans erwarte. Im Zusammenhang mit den szenetypischen Verhaltensweisen käme es regelmäßig zu Straftaten nach dem Strafgesetzbuch, wie Sachbeschädigung, Landfriedensbruch und Körperverletzung. Darüber hinaus werde in diesem Zusammenhang oftmals rücksichtslos fremdes Eigentum und die körperliche Unversehrtheit unbeteiligter Dritter erheblich beeinträchtigt. In dieser Problemfanszene habe sich in den vergangenen Jahren ein extrem feindschaftliches Verhältnis entwickelt. Zum jetzigen Zeitpunkt sei daher davon auszugehen, dass der Großteil der Problemfans (ca. 120 Personen) am Spieltag in Trier anwesend sein werde. In Anbetracht dieser Mobilisierung müsse davon ausgegangen werden, dass bei einem unkontrollierten Aufeinandertreffen der verfeindeten Fanszenen es unmittelbar und unabdingbar zu heftigen körperlichen Auseinandersetzungen kommen werde. Des Weiteren, so den Erkenntnissen der Vergangenheit zufolge, sei bei den sogenannten Derbys auch mit Verabredungen der Problemfanszene zu körperlichen Auseinandersetzungen, sogenannten „Drittort-Auseinandersetzungen", im Vorfeld der Begegnungen zu rechnen. Diese würden in der Regel an Örtlichkeiten, die nicht direkt im Stadionumfeld bzw. im Innenstadtbereich lägen, ausgeführt. Aus diesem Grunde sei das Aufenthaltsverbot für den gesamten Stadtbereich zu erlassen. Der Kläger sei nach polizeilichen Erkenntnissen Angehöriger der polizeilich bekannten und als gewaltgeneigt eingestuften Problemfanszene des KSV Hessen Kassel. Dem bisherigen Erkenntnisstand zufolge seien gegen den Kläger insgesamt drei Ermittlungsverfahren wegen diverser Straftaten eingeleitet worden. All diese Verfahren hätten unmittelbaren Bezug zu Fußballspielen und der genannten Problemfanszene aus Kassel. Auch habe er bisher zwei Einträge als „Gewalttäter Sport" im Fahndungssystem der Polizei. Aufgrund dieses Verhaltens, insbesondere bei dem letzten Fußballspiel beider Mannschaften am 05. April, 19:00 Uhr in Trier, bestehe die gerechtfertigte Prognose, dass der Kläger das vorgenannte, kommende Fußballspiel zwischen SV Eintracht Trier und dem KSV Hessen Kassel dazu nutzen werde, um erneut anlassbezogene Straftaten zu begehen. Angesichts dieser Gefahrenprognose sei die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes in dem genannten räumlichen und zeitlichen Umfang erforderlich. Das Aufenthaltsverbot sei das geeignete, erforderliche und angemessene Mittel, den Kläger von der Begehung von Straftaten abzuhalten.

keine ausreichenden Gründe

Diese Begründung trägt das ausgesprochene Verbot nach Ansicht des Gerichts nicht. Es lag zwar die Gefahr einer Straftatenbegehung vor. Der Kläger ist aber nicht Verursacher dieser Gefahr.

Die berechtigte Annahme, dass der Antragsteller aktives Mitglied der Ultraszene ist, genügt für sich genommen nicht, das Aufenthaltsverbot zu begründen, da dies noch nicht allein mit einer möglichen künftigen Straftatenbegehung gleichzusetzen ist. Gleiches gilt für die bloße Einleitung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren, da dieses nur auf einem Anfangsverdacht und nicht auf einer nachgewiesenen Straftat beruht. Der nachgewiesene Tatbeitrag eines „Platzsturms" wiegt so gering, dass das ganztägige Aufenthaltsverbot unverhältnismäßig ist.

Anmerkung: Die Begründung erscheint eher dünn. So setzt sich das VG überhaupt nicht mit der Problematik der Gruppendynamik und der Verursacherstellung aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit auseinander, s.o. Unabhängig davon erscheint freilich die Maßnahme als rechtswidrig, da ein Aufenthaltsverbot im kompletten Stadtgebiet unverhältnismäßig ist.

F) Zur Vertiefung

  • Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme

Hemmer/Wüst, Polizeirecht Bayern, Rn. 199 ff.

G) Wiederholungsfrage

  1. Was unterscheidet eine Freiheitsentziehung von einer

    Freiheitsbeschränkung?


  1. Wegen § 17a II S. 1 GVG, der über § 83 S. 1 VwGO auch für die sachliche und örtliche Zuständigkeit des Gerichts gilt, ist die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs und die Zuständigkeit des Gerichts keine echte Zulässigkeitsvoraussetzung mehr. Mit der hier gewählten Begrifflichkeit der SEV machen Sie daher keinen Fehler. Alternativ ist es ebenso möglich, die beiden Punkte vorweg gesondert zu prüfen und anschließend mit den bekannten Oberpunkten Zulässigkeit und Begründetheit fortzufahren.

  2. Zur Frage, ob § 19 III Nds. SOG nur das „Ob" oder auch das „Wie" einer Freiheitsentziehung betrifft, vgl. BayVGH, Urteil vom 27.01.2012, 10 B 08.2849 = Life & Law 06/2012.

  3. Vgl. Kopp/Schenke, § 121 VwGO, Rn. 12.

  4. Vgl. etwa OVG Lüneburg, Urteil vom 24.02.2014, Az. 11 LC 228/12, NVwZ-RR 2014, 552 ff. , BVerfG, Beschl. vom 29.07.2010, Az. 1 BvR 1634/04, NVwZ 2010, 1482 ff. = Life & Law 2011, 124 , VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.09.24 Az. 1 S 2206/03, NVwZ-RR 2005, 540 ff.

  5. BVerfG, Beschl. vom 29.07.2010, Az. 1 BvR 1634/04, NVwZ 2010, 1482 ff. = Life & Law 2011, 124

  6. BVerfG, a.a.O., m.w.N.

  7. Vgl. VG Lüneburg, Urteil vom 23.01.2004, Az. 3 A 120/02

  8. BVerfG, Beschl. vom 29.07.2010, Az. 1 BvR 1634/04, NVwZ 2010, 1482 ff. = Life & Law 2011, 124 

  9. BVerwG, Urteil vom 26.02.2011, Az. 1 C 31/72

  10. Schönke/Schröder, § 125 StGB, Rn. 14ff.

  11. BVerwG, a.a.O., Rn. 29

  12. BVerfG, Beschluss vom 15.05.2002, Az. 2 BvR 2292/00

  13. BVerfG, Beschluss vom 07.10.1981, Az. 2 BvR 1494/80 , VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.03.2011, Az. 1 S 2513/10

  14. BVerfG, Beschluss vom 15.05.2002, Az. 2 BvR 2292/00

  15. BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004, Az. 2 BvR 1481/04 BVerfG, Urteil vom 04.05.2011, Az. 2 BvR 2333/08

  16. BVerwG, Urteil vom 28.02.2013, Az. 2 C 3/12

  17. EGMR, Urteil vom 01.12.2011, Az. 8080/08 u. 8577/08, NVwZ 2012, 1089 ff. , und Urteil vom 07.03.2013, Az. 15598/08, NVwZ 2014, 43 ff.

  18. Vgl. etwa die in der jüngsten EGMR-Entscheidung zusammengefasste Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland.

  19. EGMR, a.a.O.