Das Therapieunterbringungsgesetz auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand

BVerfG, 2 BvR 2302/11; 2 BvR 1279/12 -- Beschluss vom 11. Juli 2013

von Life and Law am 01.12.2013

+++ Freiheitsentziehung durch Therapieunterbringung, Art. 2 II S. 2 GG +++ Gesetzgebungskompetenzen +++ Rückwirkungsverbot +++ Bestimmtheitsgebot +++ Verbot des Einzelfallgesetzes +++ Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR +++ Art. 5 I S. 2 EMRK +++

Sachverhalt (vereinfacht): A hat seit seinem zwanzigsten Lebensjahr mehrfach Gewaltdelikte überwiegend mit Sexualbezug begangen. Dabei stand er vorwiegend unter starkem Alkoholeinfluss. Bei einer neuerlichen Tat im Jahre 1988, bei der A unter akuter Alkoholisierung eine Frau zunächst entkleidete, würgte und sie dann bei Außentemperaturen von Null Grad in einem Wald liegen ließ, ging das urteilende Landgericht aufgrund der aus dem jahrelangen Alkoholmissbrauch resultierenden Persönlichkeitsstörung des A von Schuldunfähigkeit aus. Es verurteilte A wegen Vollrauschs zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und ordnete die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB an. Kurz darauf entwich A und griff erneut stark alkoholisiert eine Frau an. In der Folgezeit befand sich A bis 2005 im Maßregelvollzug in einem psychiatrischen Krankenhaus. Im gleichen Jahr erklärte das Landgericht die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt, weil A zwar noch gefährlich, aber nicht mehr erheblich in seiner Schuldfähigkeit beeinträchtigt sei. Noch bevor A seine ausstehende Reststrafe bis 2007 in Strafhaft vollständig verbüßt hatte, ordnete das Landgericht durch Urteil die nachträgliche Sicherungsverwahrung gem. § 66b StGB a.F. an. Es erging ein vorläufiger Unterbringungsbefehl gem. § 275a V StPO a.F. Im Jahr 2009 hob der BGH vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR auf die Revision des A hin das an sich rechtsfehlerfreie Urteil des Landgerichts auf. A wurde noch am gleichen Tag freigelassen und befand sich fortan unter polizeilicher Begleitung und Überwachung.

Am 12.07.2011 beantragte die Stadt S die Unterbringung des A nach dem Therapieunterbringungsgesetz (im Folgenden: ThUG). Daraufhin ordnete eine zuständige Zivilkammer des Landgerichts gestützt auf § 1 ThUG die Therapieunterbringung des A an. Die gegen diese Entscheidung eingelegte sofortige Beschwerde zum OLG blieb erfolglos. In seiner Entscheidung befasste sich das OLG insbesondere mit der Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das ThUG, seiner Vereinbarkeit mit den Vorgaben des EGMR zur Sicherungsverwahrung sowie der Anwendbarkeit des Gesetzes auf Fälle der vorläufigen Unterbringung gem. § 275a V StPO, die im Wortlaut des Gesetzes nicht vorgesehen ist. Bei der Anwendung der Vorschriften des ThUG stellte das OLG zutreffend fest, dass A an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung mit emotional instabiler Persönlichkeit mit verschärfend hinzutretender Alkoholabhängigkeit leide, die sowohl für § 1 I ThUG, als auch Art. 5 I S. 2 lit. e EMRK hinreichend sei. Da der Wortlaut des § 1 ThUG keinen Hinweis auf einschränkende Merkmale enthalte, unterliege die Gefahrprognose, welche die Norm fordert, keinen Restriktionen. Der Gefahrmaßstab sei dabei vorliegend überschritten, da zwei Gutachten übereinstimmend von einer hohen Wiederauftretenswahrscheinlichkeit von Delikten der gleichen Oberkategorie bei A ausgehen. Gegen die Beschwerdeentscheidung des OLG ist kein Rechtsmittel gegeben.

Hat eine form- und fristgerecht eingelegte Verfassungsbeschwerde des A gegen die Entscheidung des OLG Aussicht auf Erfolg? Auf Art. 316e IV EGStGB wird hingewiesen.1

A) Sounds

1. § 1 I des ThUG ist unter der Maßgabe mit den Grundgesetz vereinbar, dass die Unterbringung oder deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten sind.

2. Der Bund hat die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das Therapieunterbringungsgesetz aufgrund des Kompetenztitels für das Strafrecht gem. Art. 74 I Nr. 1 GG.

3. Hinsichtlich Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit gelten für das ThUG die gleichen Anforderungen wie für die Verfassungsmäßigkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Dabei ist insbesondere die Entscheidung des EGMR zur Sicherungsverwahrung zu berücksichtigen.

4. Die Bezugnahme auf anerkannte psychiatrische Klassifikationssysteme genügt den Voraussetzungen der Gesetzesbestimmtheit.

B) Problemaufriss

Das ThUG vom 01.01.2011 ist eine Reaktion des Gesetzgebers auf die Entscheidung des EGMR vom 17.12.2009.2 In dieser Entscheidung sah der EGMR die nachträgliche Aufhebung der Zehnjahresgrenze für die nachträgliche Sicherungsverwahrung als Verstoß gegen Art. 5 I EMRK an. In der Folge stellte das BVerfG unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung auch die Verfassungswidrigkeit der entsprechenden Norm fest.3 Daraufhin entspann sich eine gesellschaftliche wie juristische Kontroverse über die Notwendigkeit der sofortigen Freilassung der potenziell gefährlichen Sicherungsverwahrten. Um Rechtssicherheit bis zur verfassungskonformen Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung zu schaffen, erließ der Gesetzgeber das ThUG.4 Dieses sieht sich verschiedenen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Neben dem Fehlen einer Bundeskompetenz kann insbesondere der Vorwurf erhoben werden, das ThUG stehe nicht im Einklang mit den Anforderungen des EGMR zum Rückwirkungsverbot und der Verhältnismäßigkeit bezüglich der Sicherungsverwahrung. Auch die Bestimmtheit des Gesetzes kann bezweifelt werden. Eine zusätzliche Komponente gewinnt die verfassungsrechtliche Beurteilung durch den möglichen Verstoß des ThUG gegen das Verbot des Einzelfallgesetzes gem. Art. 19 I S. 1 GG. Maßgebliche grundrechtliche Schranke ist dabei Art. 2 II S. 2 GG. Hieran knüpft auch die prozessuale Einkleidung der Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit des ThUG an. Es handelt sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde gestützt auf Art. 2 II GG gegen die letztinstanzliche Bestätigung der Unterbringungsentscheidung.

Die Entscheidung des BVerfG betrachtet anhand des kontroversen Themas der Therapieunterbringung damit vielfältige verfassungsrechtliche Aspekte. Sie ist so nicht nur übungsweise von Relevanz, sondern auch für staatsrechtliche Klausurfälle gut geeignet. Dies gilt insbesondere, weil sich das BVerfG erneut mit dem aktuellen Problem des Verhältnisses von BVerfG und EGMR auseinandersetzt.

C) Lösung

Die Verfassungsbeschwerde des A hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

I. Zulässigkeit

Die Verfassungsbeschwerde des A müsste zulässig sein. Es müssten alle Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen.

Für die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde findet sich eine in Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. § 13 Nr. 8a BVerfGG enumerierte Zuständigkeit des BVerfG.

Beim Beschluss des OLG handelt es sich um einen tauglichen Beschwerdegegenstand. Erfasst sind gem. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. § 90 I BVerfGG alle Akte der grundrechtsgebundenen öffentlichen Gewalt, hierzu gehören auch solche Akte der Judikative.5 Es liegt eine sog. Urteilsverfassungsbeschwerde vor. Beschwerdegegenständlich ist ohne nähere Bestimmung durch den Beschwerdeführer daneben gleichzeitig auch die Ausgangsentscheidung des LG.6

A ist als natürliche Person, die Grundrechtsträger sein kann, „Jedermann" i.S.d. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. § 90 I BVerfGG und damit beschwerdeberechtigt.7 Er ist überdies beschwerdebefugt. Hierzu müsste er die Möglichkeit substantiiert dartun, durch den angegriffenen Akt in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein.8 Die Darlegung der Verletzungsmöglichkeit gelingt A in Bezug auf sein Recht auf körperliche Fortbewegungsfreiheit gem. Art. 2 II S. 2 GG i.V.m. Art. 104 GG sowie das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 II GG. Subsidiär kann jedenfalls Art. 2 I GG verletzt sein. A ist überdies selbst, gegenwärtig und, da die Entscheidung des OLG keinen Vollzugsakt erfordert, auch unmittelbar betroffen.9

Frist und Form der Einlegung der Verfassungsbeschwerde sind laut Sachverhalt eingehalten.

Der Rechtsweg ist i.S.d. § 90 II BVerfGG erschöpft, da gegen die Beschwerdeentscheidung des OLG kein Rechtsmittel gegeben ist. Auch unter Subsidiaritätsgesichtspunkten ergeben sich keine Einschränkungen. Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis ist bei A gegeben.

Alle Sachentscheidungsvoraussetzungen liegen vor. Die Verfassungsbeschwerde ist mithin zulässig.

II. Begründetheit

Die Verfassungsbeschwerde des A ist begründet, wenn die angegriffene Entscheidung des OLG tatsächlich gegen Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte verstößt. Dabei prüft das BVerfG nicht die Verletzung einfachen Rechts, sondern nur diejenige spezifischen Verfassungsrechts. Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz.10

hemmer-Methode: Da sich das Problem des Verhältnisses zwischen BVerfG und den Fachgerichten insbesondere bei Urteilsverfassungsbeschwerden stellt, empfiehlt es sich hier, den Prüfungsmaßstab stets kurz zu konkretisieren.

1. Art. 103 II GG

Der Bestimmtheitsgrundsatz gem. Art. 103 II GG ist ein grundrechtsgleiches Recht, das mit der Verfassungsbeschwerde rügefähig ist, vgl. Art. 93 I Nr. 4a GG. Allerdings ist der Schutzbereich dieses Rechts nicht eröffnet. Bei der Therapieunterbringung handelt es sich nicht um „Strafe" in diesem Sinne. Der Strafe ist eigentümlich, dass sie Missbilligung zum Ausdruck bringt und zumindest auch auf einen Schuldausgleich abzielt. Diese Komponente fehlt bei der Therapieunterbringung.11 Art. 103 II GG ist nicht einschlägig und mithin nicht verletzt.

2. Art. 2 II S. 2 GG i.V.m. Art. 104 GG

Es könnte sich ein Verstoß gegen Art. 2 II S. 2 GG i.V.m. Art. 104 GG als Recht auf Freiheit der Person ergeben, indem das OLG die Therapieunterbringung des A auf seine Beschwerde hin bestätigt.

a) Schutzbereich

Der Schutzbereich des Grundrechts müsste eröffnet sein. In sachlicher Hinsicht schützt Art. 2 II S. 2 GG i.V.m. Art. 104 GG die körperliche Fortbewegungsfreiheit. Erfasst ist jedenfalls das Recht, sich von einem bestimmten Ort wegbewegen zu können und nicht dort im Sinne einer willkürlichen Freiheitsentziehung oder Freiheitsbeschränkung unter Zwangsanwendung festgehalten zu werden.12 Eine Freiheitsentziehung -- für solche gelten gem. Art. 104 II GG besondere Rechtfertigungsanforderungen -- liegt in Abgrenzung zur Freiheitsbeschränkung dann vor, wenn die körperliche Bewegungsfreiheit auf einem engen Raum nach jeder Richtung hin aufgehoben wird.13 Dies ist bei A der Fall, da er durch die Entscheidung des OLG weiter in Therapieunterbringung verbleibt und er so insgesamt zur Fortbewegung außer Stande ist. Folglich ist eine Freiheitsentziehung gegeben und die sachliche Schutzgewährleistung des Art. 2 II S. 2 GG i.V.m. Art. 104 GG ist berührt. A unterfällt auch dem persönlichen Schutzbereich des „Jedermann-Grundrechts" des Art. 2 II S. 2 GG i.V.m. Art. 104 GG. Der Schutzbereich des Grundrechts ist damit eröffnet.

b) Eingriff

In diesen Schutzbereich müsste eingegriffen worden sein. Eingriff ist dabei jedes dem Staat zurechenbare Verhalten, welches eine Freiheitsbetätigung, die in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder zum Teil unmöglich macht oder beschränkt. Das klassische Verständnis von einem Grundrechtseingriff ist gekennzeichnet durch die Merkmale der Rechtsförmigkeit, Imperativität, Finalität und Unmittelbarkeit.14

hemmer-Methode: Abschließend sind diese Zurechnungskriterien nicht. Der Zurechnungstatbestand hat bezüglich jedes Merkmals mittlerweile Erweiterungen erfahren, sog. moderner Eingriffsbegriff.15 Gleichwohl sollte der klassische Eingriffsbegriff als Ausgangspunkt genutzt werden, da seine Erfüllung jedenfalls hinreicht und sich Ausführungen zu bestimmten Erweiterungen dann erübrigen.

Indem das OLG durch die streitgegenständliche letztinstanzliche Entscheidung die Therapieunterbringung des A aufrechterhält, greift es in seine Fortbewegungsfreiheit ein. Der Eingriff hat, wie soeben dargestellt, die Intensität einer Freiheitsentziehung. Die Beschwerdeentscheidung ergeht in Rechtsform und statuiert eine unmittelbare und zweckgerichtete Befolgungsanordnung. Folglich ist der Eingriff auch dem Staat zurechenbar. Ein Eingriff in den Schutzbereich liegt somit vor.

c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Dieser Eingriff führt dann zu einer Grundrechtsverletzung, wenn er nicht gerechtfertigt ist.

Dies setzt zunächst voraus, dass das betreffende Grundrecht überhaupt einschränkbar ist. Das Recht aus Art. 2 II S. 2 GG i.V.m. Art. 104 GG kann gem. Art. 2 II S. 3 GG i.V.m. Art. 104 I S. 1 GG auf Grund eines formellen Gesetzes eingeschränkt werden. Das Recht auf Freiheit der Person unterliegt damit einem Gesetzesvorbehalt und ist unter Wahrung von dessen Voraussetzungen einschränkbar. Vorliegend ist als Schrankengesetz das ThUG einschlägig. Hierbei handelt es sich um ein formelles Bundesgesetz, sodass es grundsätzlich taugliche Schranke des Freiheitsrechts des Art. 2 II S. 2 GG i.V.m. Art. 104 GG sein kann und die Grundlage für die Entscheidung des OLG bilden kann.

Dies wäre aber nur dann der Fall, wenn das Gesetz seinerseits mit den Vorgaben der Verfassung in Einklang steht. Zudem müsste die Anwendung des Gesetzes im Einzelfall verfassungsmäßig sein und insbesondere die Voraussetzungen des Gesetzesvorbehalts gem. Art. 104 GG einhalten.

aa) Verfassungsmäßigkeit des ThUG

Fraglich ist, ob das ThUG verfassungsmäßig ist.

(1) Formelle Verfassungsmäßigkeit

Hinsichtlich der formellen Verfassungsmäßigkeit des ThUG ist allein problematisch, ob dem Bund eine Kompetenz für den Erlass des ThUG zustand. Grundsätzlich legen Art. 70 I, 30 GG fest, dass, sofern eine Gesetzgebungsmaterie nicht ausdrücklich dem Bund zugewiesen ist, die Gesetzgebungszuständigkeit bei den Ländern liegt. Somit könnte notwendiger und eventuell einschlägiger Kompetenztitel für eine konkurrierende Zuständigkeit des Bundes Art. 74 I Nr. 1 GG sein. Hiernach steht dem Bund die Kompetenz für das Strafrecht zu. Problematisch ist aber, ob das ThUG als Strafrecht in diesem Sinne aufgefasst werden kann. Sollte dies nicht der Fall sein, vielmehr das ThUG als Sicherheitsrecht -- in der Nähe der landesrechtlichen Unterbringungsgesetze -- einzuordnen sein, läge die Kompetenz bei den Ländern.

Die Kompetenztitel des Grundgesetzes sind statisch und mit dem Fokus auf ihren Wortlaut und ihre Entstehungsgeschichte auszulegen. Mittels einer dynamisch-evolutiven Auslegung wäre dem Bund die Möglichkeit eröffnet, abseits der strengen Maßstäbe einer Änderung des Grundgesetzes seine Kompetenzen einseitig zu Lasten der Länder zu erweitern.16

Zunächst spricht für die Einordnung als Strafrecht, dass das ThUG seinem Wortlaut nach an eine Anlassstraftat anknüpft. Dass darauf aufbauend ein freiheitsorientiertes Therapiekonzept verfolgt wird, steht dem nicht entgegen, weil sich die Anforderungen der Sicherungsverwahrung in diesem Punkt nicht wesentlich von denen der Therapieunterbringung unterscheiden. Für letztere geht die ganz h.M. aber von einer Zugehörigkeit zum Strafrecht aus.17

Weiterhin ist hinsichtlich des Terminus des Strafrechts zu konstatieren, dass historisch auch die spezialpräventive Reaktion auf eine Straftat, neben der vom Sühnegedanken geleiteten Sanktion, von der Kompetenz erfasst ist. Der Verfassungsgeber fand das zweispurige Sanktionssystem aus der Zeit der Weimarer Republik vor.18 Da er keinen Abweichungswillen kundtat, ist davon auszugehen, dass er dieses Verständnis auch für Art. 74 I Nr. 1 GG zu Grunde legte. Zwar unterscheidet sich die Therapieunterbringung nach der Gesetzesbegründung fundamental von Strafe.19 Dies erlaubt aber keinen Rückschluss auf die Kompetenz gem. Art. 74 I Nr. 1 GG. Der Begriff des Strafrechts ist weiter zu verstehen als derjenige der Strafe.

Schließlich spricht für eine Einordnung der Therapieunterbringung als Strafrecht gem. Art. 74 I Nr. 1 GG in systematischer Hinsicht auch der Anlass des ThUG. Das Gesetz schließt eine verfassungsrechtlich gebotene und verfassungsrechtlich gleichzeitig problematische Lücke im strafrechtlichen Sanktionssystem, die durch das Verdikt des EGMR entstand. Wenn das ThUG so Unzulänglichkeiten im Recht der Sicherungsverwahrung beseitigt, muss es wie dieses dem Strafrecht angehören. Gegen die Einordnung als Strafrecht könnte das Verfahren des ThUG streiten, das eine Entscheidungsbefugnis der Zivilkammer des Landgerichts vorsieht. Doch vermag auch dieses Gegenargument nicht zu überzeugen. Ansonsten könnte der Gesetzgeber durch die Wahl des Verfahrens seine Kompetenzen willkürlich verschieben.

Damit umfasst der Begriff des Strafrechts die Regelung aller, auch nachträglicher, repressiver und präventiver staatlicher Reaktionen auf Straftaten, wozu auch die Therapieunterbringung gehört. Folglich hat der Bund die Gesetzgebungskompetenz für das ThUG.

Anmerkung: Diese Feststellung des BVerfG veranlasste den Richter Huber des erkennenden Senats zu einem in der Begründung abweichenden Sondervotum. Er rügt die ausufernde Interpretation des Kompetenztitels des Art. 74 I Nr. 1 GG. Die Anknüpfung an die Anlassstraftat werde verwässert, da die Therapieunterbringung gesetzgeberisch intendiert betont strafrechtsfern ausgestaltet sei. So sei die Therapieunterbringung keine Reaktion auf eine Straftat, sondern nur Reaktion auf eine fortbestehende Gefährlichkeit. Regelungen diesbezüglich sähen aber schon die Unterbringungsgesetze der Länder vor. Dennoch stimmt das Sondervotum im Ergebnis der Senatsmehrheit zu. Dies folgt aus der Annahme einer ungeschriebenen Kompetenz kraft Sachzusammenhangs mit dem Strafrecht gem. Art. 74 I Nr. 1 GG.20 Die Therapieunterbringung hängt nach dieser Auffassung gleichwohl mit der Verurteilung wegen Straftat zusammen. Dies begründe den notwendigen Sachzusammenhang, ebenso wie die lückenfüllende Funktion des ThUG im Recht der Sicherungsverwahrung. Als Kompensation für temporäre Schwäche des Rechts der Sicherungsverwahrung sei die Therapieunterbringung in das Maßregelsystem eingepasst.

Zwischenergebnis: Damit ist das ThUG formell verfassungsmäßig.

(2) Materielle Verfassungsmäßigkeit

Das ThUG müsste überdies materiell verfassungsmäßig sein. Dabei ergeben sich verschiedene verfassungsrechtliche Probleme. Neben Vertrauensschutzgesichtspunkten ist fraglich, ob das ThUG verhältnismäßig ist und im Einklang mit dem Bestimmtheitsgebot steht. Weiterhin bedarf die Qualität des ThUG als Einzelfallgesetz i.S.d. Art. 19 I S. 1 GG näherer Betrachtung.

(a) Vertrauensschutz -- Rückwirkungsverbot

Das ThUG löst Probleme des Vertrauensschutzgebots aus. Dieses folgt in seiner allgemeinen Form aus dem Rechtsstaatsprinzip und dient dem Schutz des Vertrauens der Bürger in die Kontinuität des Rechts, insbesondere durch die Einschränkung nachträglicher Rechtsänderungen.21 Das ThUG berührt solche Vertrauensschutzgesichtspunkte. Art. 103 II GG mit seiner besonderen Ausprägung des Vertrauensschutzes im Bereich des Strafrechts ist nicht anwendbar (s.o.). Zwar verfolgt es primär die zukunftsgerichtete Zwecksetzung des Schutzes der Allgemeinheit vor Straftaten durch psychisch gestörte Gewaltstraftäter aufgrund einer aktuellen Gefährlichkeitsprognose. Allerdings nimmt es dabei auf die Vergangenheit Bezug. Die Therapieunterbringung hängt von einer früheren Anlassstraftat ab, sodass den Betroffenen bezogen auf den Zeitpunkt der Tatbegehung Vertrauensschutz zu gewähren ist. Dabei hängt der Schutzumfang des Verbots rückwirkender Gesetze von der Art der Rückwirkung ab. Die Rückwirkung von Rechtsfolgen ist hinsichtlich eines abgeschlossenen Sachverhalts grundsätzlich verboten und nur in Ausnahmefällen erlaubt, sog. echte Rückwirkung bzw. Rückbewirkung von Rechtsfolgen. Hier findet der Gesetzgeber einen abgeschlossenen Vertrauenstatbestand vor. In Fällen einer nachträglichen Regelung für bereits begonnene, aber nicht abgeschlossene Sachverhalte (sog. unechte Rückwirkung bzw. tatbestandliche Rückanknüpfung) ergibt sich umgekehrt deren grundsätzliche Zulässigkeit, sofern nicht das Vertrauen des Betroffenen ausnahmsweise besonders schutzwürdig ist.22

Das ThUG stellt hiernach einen Fall der unechten Rückwirkung dar, da der normierte Tatbestand -- die vorherige Anordnung der Sicherungsverwahrung -- an ein Verhalten anknüpft, das bereits vor der Gesetzesverkündung begann, aber hinsichtlich der Sanktion noch nicht abgeschlossen ist. Grundsätzlich ist diese Rückwirkung also zulässig. Es greift keine Ausnahmefallgruppe ein. Im Gegenteil lässt die Vorgeschichte des ThUG mit der Entscheidung des BVerfG und der zu erwartenden Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung auf eine Entwertung des Vertrauens schließen.

Damit ist das Rückwirkungsverbot nicht verletzt. Gleichwohl spielen Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes aufgrund der hohen Eingriffsintensität der Therapieunterbringung bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des ThUG eine Rolle, indem sie die Position des Untergebrachten zusätzlich aufladen.23

(b) Verhältnismäßigkeit

Fraglich ist, ob das ThUG dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit hat insbesondere die Vorgaben zu berücksichtigen, die der EGMR zur nachträglichen Sicherungsverwahrung gemacht hat und die das BVerfG entsprechend seiner Pflicht zur Beachtung der Rechtsauffassung des EGMR auf Verfassungsebene verankert hat. Die Therapieunterbringung ist mit der Sicherungsverwahrung vergleichbar, da Eingriffsintensität derjenigen der Sicherungsverwahrung entspricht. Auch aufgrund der Therapieunterbringung ist eine lebenslange Freiheitsentziehung möglich. Divergenzen bei den Vollzugsbedingungen und dem therapiefokussierten Ansatz des ThUG fallen demgegenüber nicht ins Gewicht, sodass die genannte Rechtsprechung zu übertragen ist und in der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Sinne eines Übermaßverbots zu berücksichtigen ist.

hemmer-Methode: Unter Anerkennung der Rechtsprechungsgewalt des EGMR berücksichtigt das BVerfG die Entscheidungen des EGMR in seiner eigenen Rechtsprechung. Es unterwirft sich aber keiner strengen Befolgungspflicht.24

Das ThUG verfolgt den verfassungsrechtlich in Art. 2 II GG fundierten und mithin jedenfalls legitimen Zweck, die Allgemeinheit vor den Gefahren psychisch gestörter Gewalttäter zu schützen. Hierzu ist die Therapieunterbringung von Gewalttätern auch geeignet. Angesichts des funktionellen Ersatzes der nachträglichen Sicherungsverwahrung erscheint die Therapieunterbringung auch als relativ mildestes Mittel, um das erstrebte Ziel zu erreichen. Dies gilt jedenfalls vor dem Hintergrund der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers in diesem Punkt.

Fraglich ist demnach nur die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, die Angemessenheit des ThUG. Dabei hat eine Abwägung zwischen dem Schutzziel des Gesetzes und dem Eingriffstatbestand stattzufinden.

Auf der einen Seite der Abwägung steht der Gesundheits- und Lebensschutz der Allgemeinheit als besonders hochrangiges Rechtsgut. Konträre Abwägungsposition ist der Schutz der Grundrechte der Untergebrachten. Diese sehen sich, verstärkt durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes (s.o.), einem sehr intensiven Grundrechtseingriff ausgesetzt. Diese Position darf nicht einseitig zu Gunsten des Schutzes der Allgemeinheit relativiert werden. Vielmehr ist die Rechtsstellung des Untergebrachten dadurch zu berücksichtigen, dass die Voraussetzungen der Therapieunterbringung restriktiv interpretiert werden. Eine Anordnung berücksichtigt die Belange des Untergebrachten nur dann ausreichend, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist. Wenn sich diese Restriktion, die ebenso für die nachträgliche Sicherungsverwahrung gilt,25 nicht aus dem Wortlaut des ThUG ergibt, ist eine verfassungskonforme Auslegung vorzunehmen.26 Dies ist möglich, soweit Wortlaut und Zweck des § 1 ThUG nicht entgegenstehen. Der Wortlaut der Norm ist offen formuliert und der Gesetzgeber erkennt in der Begründung zum ThUG ausdrücklich die verfassungs- und konventionsrechtlichen Grenzen des Gesetzes an. Folglich kann diese verfassungskonforme Einschränkung im Wege der Auslegung in § 1 ThUG verankert werden.

Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit hat die weiteren, auf Verfassungsebene zu berücksichtigenden Anforderungen des EGMR zu beachten. Die Schutzwürdigkeit der Grundrechtsposition der Untergebrachten erfordert danach einen Abstand zur Strafhaft.27 Dieser ist gegeben. Die Therapieunterbringung erfolgt sowohl räumlich als auch organisatorisch getrennt von den Einrichtungen des Strafvollzugs. Auch ist das medizinisch-therapeutische Grundkonzept des ThUG auf eine möglichst kurze Unterbringungszeit und zudem darauf ausgelegt, den Untergebrachten möglichst wenig zu belasten. Diese wesentlichen Unterschiede zwischen Strafhaft und Therapieunterbringung genügen dem Abstandsgebot. Durch diese deutliche Abgrenzung ist gleichzeitig impliziert, dass die Therapieunterbringung wie schon i.R.d. Art. 103 II GG nicht als Strafe i.S.d. Art. 7 I EMRK anzusehen ist und das konventionsrechtliche Verbot rückwirkender Strafschärfung nicht schon per se zur Unverhältnismäßigkeit führt.

Das ThUG kann schließlich nur dann angemessen sein, wenn es nicht im Widerspruch zu den Wertungen des Art. 5 I S. 2 lit. e EMRK steht, sich also auf diesen konventionsrechtlichen Rechtfertigungsgrund für eine Freiheitsentziehung stützen kann. Das Tatbestandsmerkmal der psychischen Störung erfüllt diese Voraussetzung. § 1 I ThUG lehnt sich begrifflich nach dem Willen des Gesetzgebers explizit an das Konventionsrecht an und ist hinreichend offen, um diese Wertung jedenfalls in den fachgerichtlichen Einzelentscheidungen zu berücksichtigen. Daran ändert sich nichts, wenn die Anwendung des ThUG nicht von der Schuldfähigkeit des Untergebrachten nach §§ 20 f. StGB abhängt. Ausweislich früherer Entscheidungen des EGMR fordert Art. 5 I S. 2 lit. e EMRK keinen Gleichlauf von psychischer Störung und Schuldfähigkeit.28 Neben einer bestimmten Intensitätsschwelle der psychischen Störung muss das innerstaatliche Recht wegen Art. 5 I EMRK aber verfahrensrechtlichen Anforderungen genügen. Es muss hinreichend zugänglich, präzise und in seiner Anwendung vorhersehbar sein. Zudem hat es adäquaten Rechtsschutz und ein faires und angemessenes Verfahren bereitzustellen.29 Diesen Anforderungen genügt das ThUG. Insbesondere ist die Dauer der Therapieunterbringung an das Fortbestehen der Störung geknüpft und die festgelegten Unterbringungsbedingungen sind dem Anordnungszweck angemessen. Einzig die Vorhersehbarkeit wirft ein Problem auf, da bei Begehung der Anlassstraftat das ThUG noch nicht erlassen war. Allerdings ist es nicht sinnvoll, den Zeitpunkt der Vorhersehbarkeit auf die Begehung der Straftat zu beziehen. Dies entspräche den Maßgaben des Art. 7 I EMRK und wäre deshalb systematisch fragwürdig, da diese Norm gerade nicht einschlägig ist.

Zwischenergebnis: Das ThUG ist mit der genannten verfassungskonformen Einschränkung bezüglich Schwere der Straftat und Begehungswahrscheinlichkeit verhältnismäßig.

(c) Bestimmtheit

Art. 103 II GG findet hinsichtlich der Bestimmtheit des ThUG keine Anwendung (s.o.).

Der allgemeine rechtstaatliche Bestimmtheitsgrundsatz wird aber durch Art. 104 I S. 1 GG konkretisiert. Je intensiver der Grundrechtseingriff in die Fortbewegungsfreiheit, desto genauer muss die Regelung der Freiheitsbeschränkung sein.30 Dabei schadet die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe nicht an sich, wenn deren Aussagegehalt durch Auslegung ermittelbar ist und jedenfalls die Rechtsprechung verbleibende Unklarheiten im Wege der Präzisierung und Konkretisierung beheben kann.31

Vor diesem Hintergrund ist das ThUG nicht zu beanstanden. Trotz der offenen Fassung des Begriffs der psychischen Störung lehnt es sich an in der Psychiatrie anerkannte Klassifikationssysteme an. Eine hinreichende Kontur wird dem Unterbringungstatbestand zusätzlich durch den notwendigen Kausalzusammenhang zwischen psychischer Störung und der verbleibenden Gefahr durch den Gewalttäter verliehen. Die Gefahrprognose wird anhand einer Gesamtbetrachtung von Persönlichkeit, Vorleben und Lebensverhältnissen getroffen, welche die Rechtfertigung der Unterbringung durch Grad oder Art der psychischen Störung ausreichend konkret sicherstellt. Die Gefahr ist damit ein Korrektiv, das eine Ausuferung des Merkmals der psychischen Störung jedenfalls zu verhindern geeignet ist. Außerdem ist zu beachten, dass die Reichweite der Eingriffsnorm durch die Verfahrensanforderungen des ThUG zusätzlich eingegrenzt wird.

Auch die besonderen Bestimmtheitsanforderungen für Prognoseentscheidungen sind erfüllt. Der EGMR und in der Folge das BVerfG fordern bei präventiven Freiheitsentziehungen eine gesetzgeberische Entscheidung nicht nur über die tatbestandlichen Voraussetzungen, sondern auch darüber, welche zeitlichen Wirkungen der Prognoseentscheidung zukommen und wann diese zu überprüfen ist. Das ThUG legt den Unterbringungszeitraum konkret auf zunächst achtzehn Monate fest und bindet die Verlängerungsentscheidung an die Vorschriften über die Erstanordnung unter erneuter angepasster Begutachtung des psychischen Zustandes des Untergebrachten.

Zwischenergebnis: Nach allem ist das ThUG genügend bestimmt.

(d) Verbot des Einzelfallgesetzes

Die materielle Verfassungswidrigkeit des ThUG könnte sich aber gem. Art. 19 I S. 1 GG aus dem Verbot des Einzelfallgesetzes ergeben. Art. 19 I S. 1 GG ist eine besondere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes. Es verbietet dem Gesetzgeber, einen Fall willkürlich zu regeln, steht aber Gesetzen nicht entgegen, die einen singulären Sachverhalt betreffen, soweit hierfür ein zwingendes Bedürfnis besteht.32 Diese teleologische Begrenzung des Verbotes des Art. 19 I S. 1 GG verhindert die Kollision der Norm mit anderen fundamentalen Verfassungsprinzipien, insbesondere dem Vorbehalt des Gesetzes und dem Demokratieprinzip.33

So verstanden steht Art. 19 I S. 1 GG dem ThUG nicht entgegen. Zwar betrifft das ThUG einen singulären Sachverhalt. Es ist aber abstrakt gefasst und gilt für eine unbestimmte Zahl von Personen. Dass diese Zahl eventuell gering ist, ändert ob der fehlenden Individualisierung der Betroffenen an der Abstraktheit des Gesetzes nichts. Bei Erlass des Gesetzes war überdies nicht absehbar, wie das Urteil des EGMR zur nachträglichen Sicherungsverwahrung im nationalen Recht rezipiert würde, sodass im Voraus nicht erkennbar war, welche Personen dem ThUG unterfallen würden.

Das ThUG ist kein Einzelfallgesetz i.S.d. Art. 19 I S. 1 GG.

Zwischenergebnis: Unter verfassungskonformer Auslegung ist das ThUG auch materiell verfassungsmäßig.

bb) Verfassungsmäßigkeit der Gesetzesanwendung im Einzelfall durch die Entscheidung des OLG

Wenn damit der Gesetzesvorbehalt abstrakt generell in verfassungskonformer Weise ausgefüllt ist, müsste das ThUG vom OLG im Fall von A auch verfassungskonform angewandt worden sein. Die qualifizierten Schranken des Art. 104 II GG sind eingehalten, indem die Therapieunterbringung zunächst richterlich durch das LG angeordnet wurde. Problematisch ist die Entscheidung des OLG aber, da sie nicht die restriktiven Maßstäbe der Verhältnismäßigkeit rezipiert, die in verfassungskonformer Auslegung hergeleitet wurden. Das OLG fordert nicht, dass die Unterbringung nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten sind. Dieses Defizit begründet die Unverhältnismäßigkeit der Anwendung des ThUG. Die Entscheidung des OLG ist demnach verfassungswidrig.

Anmerkung: Fraglich ist darüber hinaus, ob sich die Verfassungswidrigkeit der Entscheidung des OLG auch aus dem Analogieverbot ergibt. Die Anwendbarkeit des ThUG auf Fälle der einstweiligen Unterbringung ohne rechtskräftige Entscheidung hierüber gem. § 275a V StPO a.F. ist in § 1 ThUG nicht vorgesehen. Hierin könnte eine verbotene Analogie zu sehen sein. Dies ist indes nicht der Fall. Art. 316e IV EGStGB erlaubt in diesem Fall ausdrücklich eine Unterbringung, sodass eine gesetzliche Bestimmung besteht und ein Verstoß gegen das Analogieverbot ausscheidet.

Zwischenergebnis: Der Grundrechtseingriff des OLG ist damit nicht gerechtfertigt. Das Grundrecht des Art. 2 II S. 2 GG i.V.m. Art. 104 GG ist verletzt.

3. Art. 2 I GG

Die allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 I GG tritt subsidiär hinter das einschlägige Recht des Art. 2 II S. 2 GG zurück.34

III. Ergebnis

Die Verfassungsbeschwerde des A ist begründet. Sie ist somit zulässig und begründet und hat daher Aussicht auf Erfolg.

D) Kommentar

(bb). Trotz festgestellter Verfassungswidrigkeit kam es nicht zur Aufhebung der Entscheidung gem. § 95 II BVerfGG. Denn diese war nicht mehr Grundlage für die aktuelle Unterbringung des A.

In der Sache zeigt die Entscheidung auf, wie stark mittlerweile der Einfluss der EGMR auf nationales Recht ist.35

E) Zur Vertiefung

  • Zur Gesetzgebungskompetenz Hemmer/Wüst, Staatsrecht II, Rn. 144 ff.
  • Zum Vertrauensgrundsatz und zum Bestimmtheitsgrundsatz Hemmer/Wüst, Staatsrecht II, Rn. 131 ff.

F) Wiederholungsfragen

  1. Welche Besonderheiten bestehen bei der Auslegung von

    Kompetenztiteln?

  2. Welche Einschränkung ist bei der Verhältnismäßigkeit des ThUG zu beachten?

  1. § 1 I ThUG: Steht auf Grund einer rechtskräftigen Entscheidung fest, dass eine wegen einer Straftat der in § 66 III S. 1 StGB genannten Art verurteilte Person deshalb nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann, weil ein Verbot rückwirkender Verschärfungen im Recht der Sicherungsverwahrung zu berücksichtigen ist, kann das zuständige Gericht die Unterbringung dieser Person in einer geeigneten geschlossenen Einrichtung anordnen, wenn 1. sie an einer psychischen Störung leidet und eine Gesamtwürdigung ihrer Persönlichkeit, ihres Vorlebens und ihrer Lebensverhältnisse ergibt, dass sie infolge ihrer psychischen Störung mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person erheblich beeinträchtigen wird, und 2. die Unterbringung aus den in Nummer 1 genannten Gründen zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich ist.

  2. Vgl. EGMR, Urteil v. 17.12.2009, Nr. 19359/04. Ausführlich hierzu vgl. Berberich/Heer, Life & Law 2010, 273 ff.

  3. Vgl. BVerfGE 128, 326, 326 ff.

  4. Vgl. BT-Drucks. 17/3403, S. 20.

  5. Vgl. Epping, Grundrechte, Rn. 175.

  6. Vgl. Jarass/Pieroth, Art. 93 GG, Rn. 51.

  7. Zur Definition vgl. Jarass/Pieroth, Art. 93 GG, Rn. 48.

  8. Allgemein Sachs, Art. 93 GG, Rn. 88.

  9. Vgl. allgemein Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 45 ff.

  10. Vgl. Epping, Grundrechte, Rn. 207.

  11. Vgl. auch die Gesetzesbegründung des ThUG BT-Drucks. 17/3403, S. 20 f., wonach sich die Unterbringung „fundamental von Strafe [unterscheidet]".

  12. Vgl. Jarass/Pieroth, Art. 2 GG, Rn. 110.

  13. Vgl. Sachs, Art. 104 GG, Rn. 5.

  14. Vgl. Epping, Grundrechte, Rn. 392.

  15. Hierzu Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 110 ff.

  16. Vgl. BVerfGE 68, 319, 328; 106, 62, 105

  17. Vgl. BVerfGE 109, 190, 225 ff.

  18. Vgl. BVerfGE 109, 190, 213 f.

  19. S.o. Fn. 11.

  20. Zu den ungeschriebenen Kompetenzen, insbesondere zur Kompetenz kraft Sachzusammenhangs, Jarass/Pieroth, Art. 70 GG, Rn. 9 ff.

  21. Vgl. Maunz/Dürig, Art. 20 GG, Abs. VII, Rn. 70 ff.

  22. Zum Ganzen Sachs, Art. 20 GG, Rn. 131 ff.

  23. Vgl. BVerfGE 128, 326, 390; 109, 133, 186 f.

  24. Hierzu Berberich/Löper, Life & Law 2013, 618 ff.

  25. Vgl. zur Sicherungsverwahrung BVerfGE 128, 326, 399

  26. Allgemein hierzu BVerfGE 119, 247, 274

  27. Vgl. BVerfGE 128, 326, 374

  28. Vgl. etwa EGMR, Urteil v. 17.12.2009, Nr. 19359/04, wo diese Voraussetzung nicht gefordert wird.

  29. Vgl. EGMR, Urteil v. 17.12.2009, Nr. 19359/04, Rn. 90 ff.

  30. Vgl. Jarass/Pieroth, Art. 104 GG; Rn. 4 sowie Art. 20 GG, Rn. 57; vgl. BVerfGE 76, 363, 387

  31. Vgl. BVerfGE 87, 234, 263 f.; 92, 1, 12

  32. Vgl. BVerfGE 25, 371, 399

  33. Vgl. Maunz/Dürig, Art. 19 GG, Abs. I, Rn. 15.

  34. Vgl. Sachs, Art. 2 GG, Rn. 137.

  35. Instruktiv hierzu Berberich/Löper, Life & Law 2013, 618 ff. sowie Voßkuhle, NJW 2013, 1329 ff.