Rechtsprechungsübersicht Öffentliches Recht (3)

EuGH, Große Kammer, Urteil vom 03.10.2013, C-583/11

von Life and Law am 01.06.2014

+++ Nichtigkeitsklage +++ Begriff „Rechtsakte mit Verordnungscharakter" +++ Art. 263 AEUV +++

Sachverhalt (vereinfacht): Die Verordnung Nr. 1007/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 enthält Beschränkungen des Handels mit Robbenerzeugnissen. Gegen diese Verordnung erhebt der Inuit K Nichtigkeitsklage zum EuG, da er sich in seiner Berufsfreiheit verletzt fühlt.

Wie wird das EuG entscheiden?

Lösung: Die Nichtigkeitsklage ist statthaft, Art. 263 I AEUV, da sie auf die Prüfung der Wirksamkeit der Verordnung, also einer Handlung der Organe der Gemeinschaft gerichtet ist. Das EuG ist nach Art. 256 I AEUV für die Klage auch zuständig.

K ist gem. Art. 263 IV AEUV als natürliche Person aktiv beteiligtenfähig.

Gem. Art. 263 IV AEUV sind natürliche oder juristische Personen nur dann in der Lage, eine Nichtigkeitsklage zu erheben, wenn sie auch klagebefugt sind.

Dies ist zum einen der Fall, soweit der Kläger gerade Adressat der angefochtenen Maßnahme ist, Art. 263 IV Var. 1 AEUV, was bei einer Verordnung naturgemäß ausscheidet.

Nach Art. 263 IV Var. 2 AEUV ist die Klagebefugnis bei sonstigen Handlungen dann zu bejahen, wenn K als Kläger von der Verordnung unmittelbar und individuell betroffen sind.

Mit dem Vertrag von Lissabon wurde in Art. 263 IV AEUV eine dritte Variante hinzugefügt, mit der die Zulässigkeitsvoraussetzungen von Nichtigkeitsklagen natürlicher und juristischer Personen gelockert wurden. Ohne die Zulässigkeit der von natürlichen und juristischen Personen erhobenen Nichtigkeitsklagen von der Voraussetzung der individuellen Betroffenheit abhängig zu machen, eröffnet diese Variante nämlich einen Rechtsbehelf gegen „Rechtsakte mit Verordnungscharakter", die keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen und den Kläger unmittelbar betreffen.

Unter „Rechtsakten mit Verordnungscharakter" versteht der EuGH aber gerade nur Handlungen „mit allgemeiner Geltung unter Ausschluss von Gesetzgebungsakten". Die Verordnung selbst ist demnach gerade kein Rechtsakt mit Verordnungscharakter.1

Der EuGH begründet dies zum einen mit der Entstehungsgeschichte der dritten Variante des Art. 263 IV AEUV. Der Begriff „Rechtsakte mit Verordnungscharakter" soll zudem gerade hinter dem allgemeinen Begriff Handlungen, unter den auch die eigentliche Verordnung fällt, zurückbleiben und nur ein weniger beinhalten.

Im vorliegenden Fall sind damit die Voraussetzungen des Art. 263 IV Var. 2 AEUV maßgeblich, K muss unmittelbar und individuell betroffen sein. Eine unmittelbare Betroffenheit in diesem Sinne bejaht man dann, wenn die angegriffene Gemeinschaftsmaßnahme sich ohne Durchführungsakt der Mitgliedstaaten auf die Rechtsstellung des Betroffenen auswirkt. Eine individuelle Betroffenheit ist bei einer Verordnung nur dann gegeben, wenn der Kläger geltend machen kann, dass die Verordnung ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebenden Umständen berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten einer Entscheidung.

Hier wird durch die Verordnung generell-abstrakt der Handel mit Robbenerzeugnissen geregelt. Die Anzahl der möglichen Adressaten der Verordnung steht damit auf keinen Fall von Anfang an fest, sondern kann sich jederzeit verändern.

Eine individuelle Betroffenheit und damit eine Klagebefugnis ist damit im Ergebnis zu verneinen.

hemmer-Methode: Der EuGH stellt mit dieser Entscheidung bei erster Gelegenheit klar, dass unter „Rechtsakten mit Verordnungscharakter" gerade nicht die Verordnungen selbst zu subsumieren sind. Bei diesen ist weiterhin eine unmittelbare und individuelle Betroffenheit erforderlich. Da es hieran meist fehlen wird, kommt eine Überprüfung der EU-Verordnung nur in Betracht, wenn einer der nach Art. 263 II AEUV Klageberechtigten die Überprüfung in die Wege leitet oder wenn ein nationales Gericht im Rahmen eines Rechtsstreits die Verordnung nach Art. 267 AEUV dem EuGH vorlegt.


  1. EuGH, Urteil vom 03.10.2013, C 583/11 P.