Richtlinien zwischen Privaten nicht unmittelbar anwendbar!

EuGH, Urteil vom 15.01.2014, Rs. C-176/12 (Association de médiation sociale)

von Life and Law am 01.06.2014

+++ Reichweite der Richtlinien +++ Unmittelbare Anwendbarkeit zwischen Privaten +++ Art. 267, 288 AEUV +++

Sachverhalt: Die Richtlinie der EU 2002/14 regelt das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer von in der Gemeinschaft ansässigen Unternehmen oder Betrieben. Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Richtlinie ist ein Betrieb mit mindestens 20 Arbeitnehmern, wobei Art. 2 der Richtlinie den Arbeitnehmer als eine Person, die in dem betreffenden Mitgliedstaat als Arbeitnehmer aufgrund des einzelstaatlichen Arbeitsrechts und entsprechend den einzelstaatlichen Gepflogenheiten geschützt ist, definiert.

Nach Art. L. 2312-1 des französischen Arbeitsgesetzbuchs (Code du travail) müssen bei allen Betrieben mit mindestens elf Beschäftigten Belegschaftsvertreter gewählt werden. Nach Art. L. 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs werden bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl des Unternehmens u.a. Lehrlinge nicht berücksichtigt.

Im Rahmen eines Rechtsstreits vor einem französischen Arbeitsgericht zwischen der Gewerkschaft G und dem Betrieb B geht es um die Frage, ob die Gewerkschaft G das Recht hat, in dem Betrieb B einen Belegschaftsvertreter zu benennen. Der Betrieb B hat nur unter Berücksichtigung der in ihm beschäftigten Lehrlinge mehr als zehn Beschäftigte. Das französische Gericht ist der Auffassung, dass Art. L. 1111-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs gegen Art. 2 der Richtlinie 2002/14 bzw. gegen Art. 27 der Grundrechtscharta der EU verstoße und deshalb diese nationale Vorschrift nicht anwendbar sei. Die Lehrlinge seien demnach bei der Berechnung der Beschäftigten mit zu berücksichtigen.

Da sich das französische Gericht seiner Sache allerdings nicht sicher ist, legt es dem EuGH folgende Frage vor:

Kann das in Art. 27 der Charta anerkannte und durch die Bestimmungen der Richtlinie 2002/14 konkretisierte Grundrecht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in einem Rechtsstreit zwischen Privaten geltend gemacht werden, um die Rechtmäßigkeit einer widersprechenden nationalen Maßnahme zur Umsetzung dieser Richtlinie überprüfen zu lassen?

Wie wird der EuGH antworten? Dabei ist davon auszugehen, dass Art. 1111-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs gegen Art. 2 der Richtlinie verstößt.

A) Sounds

1. Die Verpflichtung des nationalen Richters zur richtlinienkonformen Auslegung darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem dienen.

2. Auch eine genaue und unbedingte Richtlinienbestimmung, mit der dem Einzelnen Rechte gewährt oder Verpflichtungen auferlegt werden sollen, kann im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, nicht als solche Anwendung finden.

B) Problemaufriss

Das Unionsrecht gehört mittlerweile in allen Bundesländern zum Pflichtfachbereich. Ein Standardproblem sind dabei die Folgen einer nicht ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung.

Anmerkung: Soweit eine Richtlinie ordnungsgemäß umgesetzt wurde, liegt ein nationales Gesetz vor, das wie ein sonstiges Gesetz in nationalen Rechtsstreitigkeiten anzuwenden ist. Eine Besonderheit gilt allerdings für Verfassungsrechtsbehelfe gegen ein solches Gesetz.

Dieses ist, soweit es sich um die Umsetzung zwingender Richtlinienvorgaben ohne Spielraum für den nationalen Gesetzgeber handelt, genauso wie eine EU-Verordnung vom BVerfG nur eingeschränkt überprüfbar.1 Solange der EuGH selbst einen ausreichenden Grundrechtsschutz gewährleistet, überprüft das BVerfG nur, ob sekundäres Unionsrecht ultra-vires erlassen wurde, was insbesondere dann der Fall ist, wenn es dem Kernbereich der Art. 23 I S. 3, 79 III, 1, 20 GG zuwiderläuft.2

Der EuGH nutzt die vorliegende Entscheidung, um die bislang nicht eindeutig geklärte Frage, wieweit eine nicht ordnungsgemäß umgesetzte Richtlinie in einem Rechtsstreit zwischen Privaten Wirkung erlangt, zu klären.

C) Lösung

I. Zulässigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens

Zulässigkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens, Art. 267 AEUV

  • Zuständigkeit des EuGH, Art. 256 I AEUV
  • Vorlageberechtigung, Art. 267 II AEUV
  • Vorlagegegenstand, Art. 267 I AEUV
  • Vorlagebefugnis = Entscheidungserheblichkeit, Art. 267 II AEUV

1. Zuständigkeit

Zunächst stellt sich die Frage nach der Zuständigkeit des EuGH. Hier einzig relevant ist jedoch die Organzuständigkeit, also eine Abgrenzung zwischen den Zuständigkeiten des Gerichts (erster Instanz) und des Gerichtshofs. Gem. Art. 256 I AEUV liegt die Zuständigkeit für das Vorabentscheidungsverfahren allein beim EuGH (und nicht beim Gericht).

Anmerkung: Nach Art. 256 III AEUV besteht die Möglichkeit, die Zuständigkeit für Vorabentscheidungsverfahren in der Satzung des EuGH auf das EuG zu übertragen. Von dieser Möglichkeit wurde aber bislang kein Gebrauch gemacht!

2. Vorlageberechtigung

Das nationale französische Gericht ist als mitgliedstaatliches Gericht auch gem. Art. 267 III AEUV vorlageberechtigt.

Anmerkung: Hier können Sie sich stets kurz fassen, wenn ein nationales staatliches Gericht vorlegt. Mehr Ausführungen sind nur verlangt, wenn es um „Sondergerichte" wie bspw. Schieds- oder Sportgerichte geht.

Der Begriff des Gerichts ist unionsrechtlich autonom auszulegen. Der EuGH stellt auf eine Reihe von Merkmalen ab, wie z.B. gesetzliche Grundlage des Gerichts, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen sowie die Unabhängigkeit des Gerichts. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH erfüllt ein Schiedsgericht diese Voraussetzungen grundsätzlich nicht, da für die Vertragsparteien weder eine rechtliche noch eine tatsächliche Verpflichtung besteht, ihre Streitigkeiten vor ein Schiedsgericht zu bringen, und die Träger der öffentlichen Gewalt weder in die Entscheidung, den Weg der Schiedsgerichtsbarkeit zu wählen, einbezogen sind noch von Amts wegen in den Ablauf des Verfahrens vor dem Schiedsrichter eingreifen können. Etwas anderes kann allerdings dann gelten, wenn die Zuständigkeit des Schiedsgerichts nicht vom Willen der Parteien abhängt.3 Für Schiedsgerichte nach der ZPO gilt dies allerdings nicht, da § 1029 ZPO eine entsprechende Schiedsvereinbarung der Parteien voraussetzt.

3. Vorlagegegenstand

Die mitgliedstaatlichen Gerichte können Fragen über die Auslegung der Verträge und auch über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der EU stellen, Art. 267 I lit. a und b AEUV.

Nicht vorlagefähig sind Fragen der Auslegung des nationalen Rechts, sowie der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht. Daher darf das nationale Gericht nicht die Frage vorlegen, ob ein innerstaatliches Gesetz mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

Anmerkung: Dennoch sind deshalb die Vorlagen nicht zwingend unzulässig, wenn die Fragen einer Auslegung zugänglich sind, die ihnen einen zulässigen Inhalt geben. Der Gerichtshof ist nämlich dazu befugt, aus einer unvollkommen gefassten Frage des staatlichen Gerichts diejenigen Fragen herauszuschälen, welche die Auslegung des Vertrags betreffen. In diesen Fällen hat der Gerichtshof häufiger aus der Frage nach der Unvereinbarkeit einer staatlichen Maßnahme mit den Verträgen die Klärung der Auslegung des Vertragsrechts im Hinblick auf einen sozusagen abstrakten Konflikt mit etwaigem innerstaatlichem Recht herausgelesen.

Mit Hilfe dieses prozessualen „Tricks" hat sich der Gerichtshof vor allem in den Anfangszeiten seiner Tätigkeit über unkorrekte und oft nachlässig formulierte Anträge hinweghelfen können, die sich vor allem aus einer mangelnden Kenntnis der Vertragsvorschriften ergaben.

Im vorliegenden Fall stellt das vorlegende Gericht die Frage, wieweit eine Richtlinie der EU in einem Rechtsstreit zwischen Privaten zu berücksichtigen ist. Es geht also um die Reichweite einer Handlung der EU, sodass ein tauglicher Vorlagegegenstand gegeben ist.

4. Entscheidungserheblichkeit

Fraglich ist jedoch, ob die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage für das Verfahren vor dem nationalen Gericht gegeben ist.

Diese Beurteilung ist zwar grundsätzlich den nationalen Gerichten überlassen; der EuGH kann jedoch die Vorlage als unzulässig zurückweisen, wenn offensichtlich kein Zusammenhang zwischen der Vorlagefrage und der Rechtsstreitigkeit besteht.4

Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Es kommt für die Entscheidung des konkreten Rechtsstreits vielmehr nachvollziehbar gerade darauf an, ob der Begriff des Beschäftigten allein nach den Bestimmungen des nationalen Rechts oder aber nach den Vorgaben der Richtlinie zu bestimmen ist.

5. Zwischenergebnis

Die Vorlage ist nach Art. 267 AEUV zulässig, sodass der EuGH in der Sache auf die Vorlagefrage antworten wird.

II. Antwort des EuGH in der Sache

Anmerkung: Der Begriff „Begründetheit" passt an dieser Stelle nicht richtig. Das vorlegende Gericht stellt dem EuGH eine Frage und der EuGH gibt hierauf eine Antwort. Die Vorlage kann zwar unzulässig sein, aber nicht unbegründet.

Die Vorlage betrifft die Frage, wieweit das in Art. 27 der Charta anerkannte und durch die Bestimmungen der Richtlinie 2002/14 konkretisierte Grundrecht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in einem Rechtsstreit zwischen Privaten geltend gemacht werden kann, um die Rechtmäßigkeit einer widersprechenden nationalen Maßnahme zur Umsetzung dieser Richtlinie überprüfen zu lassen.

Anmerkung: In der Originalentscheidung hatte der EuGH zuvor eine weitere Vorlagefrage zu beantworten, nämlich die, ob Arbeitnehmer i.S.d. Art. 2 der Richtlinie auch Lehrlinge sind. Der EuGH bejaht diese Frage und damit auch einen Verstoß von Art. L. 1111-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs gegen die Richtlinie, sodass sich die hier gestellte Frage nach den Folgen dieses Verstoßes überhaupt erst stellt. Dieser Punkt wurde hier mangels Examensrelevanz durch den Bearbeitervermerk vorweggenommen.

Nach Art. 288 III AEUV ist eine Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel.

Adressaten einer Richtlinie sind demnach grundsätzlich allein die Mitgliedstaaten. Die Regelungen einer Richtlinie sind grundsätzlich nicht unmittelbar zwischen zwei Privaten anwendbar, vielmehr werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, ihr innerstaatliches Recht an die Unionsbestimmungen anzupassen. Zur Wirksamkeit einer Richtlinie im Verhältnis zu den einzelnen Bürgern bedarf es demnach eines Umsetzungsakts durch die Mitgliedstaaten.

Im vorliegenden Fall wurde die Richtlinie gerade nicht ordnungsgemäß umgesetzt, da Art. L. 1111-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs gegen Art. 2 der Richtlinie verstößt. Fraglich ist damit, welche Relevanz dieser Verstoß hat.

1. Richtlinienkonforme Auslegung

Insoweit hat der Gerichtshof mehrfach entschieden, dass ein nationales Gericht das gesamte nationale Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auslegen muss, um zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel vereinbar ist. Dies gilt auch in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten.

Wortlautgrenze

Der Gerichtshof hat jedoch festgestellt, dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmten Schranken unterliegt. So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ihre Schranken und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen.

Da Art. L. 1111-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs ausdrücklich Lehrlinge bei der Berechnung der Anzahl der Arbeitnehmer ausschließt, ist eine gegenläufige richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich.

2. Unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie

In Betracht kommt allerdings eine unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie mit der Konsequenz, dass Art. L. 1111-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs nicht angewendet werden darf.

grds.: unmittelbare Anwendbarkeit einer Richtlinie möglich

Gemäß Art. 288 III AEUV ist die Richtlinie aber nur für die betreffenden Mitgliedstaaten und nur hinsichtlich ihres zu erreichenden Ziels verbindlich. Sie bedarf grds. der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten.

Im Unterschied zur Verordnung, die unmittelbar in allen Mitgliedstaaten gilt (Art. 288 II AEUV), ist die Richtlinie an die Mitgliedstaaten gerichtet. Erst das zu ihrer Umsetzung gesetzte Recht soll gegenüber dem Einzelnen gelten.

Entgegen diesem Grundsatz ergibt sich die (ausnahmsweise) unmittelbare Wirkung einer RL aber aus dem Prinzip der Unionstreue gemäß Art.* *4 III EUV i.V.m. Art. 288 III AEUV. Die der Richtlinie in Art. 288 III AEUV zuerkannte verbindliche Wirkung würde geschmälert, wenn sie durch ein pflichtwidriges Verhalten der Mitgliedstaaten wie eine nichtordnungsgemäße Umsetzung auf Dauer unterlaufen werden könnte.

Hinzu kommt der Aspekt des Rechtsschutzes für die Bürger. Diese haben keine Möglichkeit, die Umsetzung einer Richtlinie durch einen Mitgliedstaat einzuklagen, insbesondere Art. 263 AEUV greift nicht.

Anmerkung: Die grundsätzliche Möglichkeit der unmittelbaren Anwendbarkeit ist zwar mittlerweile allgemein anerkannt. Da sie aber letztlich contra legem ist, nämlich dem Wortlaut des Art. 288 III AEUV widerspricht, müssen Sie in einer Klausur die unmittelbare Anwendbarkeit zumindest kurz begründen!

Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit

Allerdings kann diese unmittelbare Wirkung nicht weiter gehen als die Verbindlichkeit der Richtlinie gemäß Art. 288 III AEUV. Unmittelbare Wirkungen können deshalb nur jene Richtlinienbestimmungen entfalten, die ihrerseits inhaltlich bereits so hinreichend genau und unbedingt sind, dass den Mitgliedstaaten auch im Wege der Umsetzung kein eigener Gestaltungsspielraum mehr verbleibt.

Dieser sog. self-executing-Charakter ist daher eine wichtige Voraussetzung für eine unmittelbare Wirkung.

Des Weiteren muss die Umsetzungsfrist abgelaufen und die Richtlinie nicht oder unzulänglich umgesetzt worden sein, da sich der Sanktionscharakter der unmittelbaren Wirkung nur in diesem Fall rechtfertigen lässt.

Soweit ein Einzelner sich auf die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie berufen will, muss diese Richtlinie Rechte festlegen, die dem Staat gegenüber geltend gemacht werden können.5

Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richtlinie

  • Richtlinie nicht (ordnungsgemäß) innerhalb der Umsetzungsfrist umgesetzt
  • Richtlinie hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt (kein Spielraum für die Mitgliedstaaten)
  • Soweit ein Einzelner sich auf die Richtlinie berufen möchte: Richtlinie verleiht dem einzelnen Rechte

Problem: Unmittelbare Anwendbarkeit zwischen Privaten

Nicht eindeutig geklärt ist bislang allerdings, wieweit eine Richtlinie in einem Rechtsstreit zwischen zwei Privaten unmittelbar anwendbar sein kann und damit zum Nachteil eines Privaten gereichen kann.

Anmerkung: Hier spricht man auch von der horizontalen Anwendbarkeit und Wirkung der Richtlinie.

Eine solche unmittelbare Anwendbarkeit kommt zum einen derart in Betracht, dass der Anspruch des einen Privaten gegen den anderen Privaten direkt auf die Richtlinie gestützt wird, diese also die eigentliche Anspruchsgrundlage ist. Zum anderen ist eine unmittelbare Anwendbarkeit aber auch derart möglich, dass sich der Anspruch wie im vorliegenden Fall aus dem nationalen Recht ergibt und die Richtlinie nur der Anwendung von anspruchsausschließenden Einwendungen entgegensteht.

Anmerkung: Der Anspruch auf Wahl eines Belegschaftsvertreters ergibt sich aus Art. L. 2312-1 des französischen Arbeitsgesetzbuchs. Es geht bei der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie also nicht um die Anspruchsbegründung, sondern nur darum, Art. L. 1111-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs nicht anzuwenden, sodass auch Auszubildende bei der Beschäftigtenzahl mitzuzählen wären. In einem solchen Fall spricht man zum Teil auch von negativer Horizontalwirkung.6

Für eine unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie auch unter Privaten spricht das Prinzip der Gewährleistung voller Wirksamkeit des Unionsrechts, denn die unmittelbare Wirkung würde den eigentlich von der Richtlinie angestrebten Rechtszustand (zumindest weitgehend) herstellen.

Die Ausweitung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien auch zu Lasten des Einzelnen würde jedoch die durch die Systematik des Unionsrechts gesetzten Grenzen überschreiten.

Der Unterschied zwischen Verordnung und Richtlinie könnte zu sehr verwischt werden. Im Unterschied zur Verordnung verpflichtet die Richtline lediglich die Staaten, nicht auch Private. Diese sollen allenfalls aufgrund einer Richtlinie verpflichtet werden. Zudem sind Richtlinien nur hinsichtlich der Ziele verbindlich. Hinzu kommt, dass der Einzelne grundsätzlich keine Möglichkeit hat, sich gegen eine Richtlinie gerichtlich zu wehren, Art. 263 IV AEUV.

Deshalb kann nach ständiger Rechtsprechung des EuGH auch eine klare, genaue und unbedingte Richtlinienbestimmung, mit der dem Einzelnen Rechte gewährt oder Verpflichtungen auferlegt werden sollen, im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, nicht als solche Anwendung finden.

hemmer-Methode: Die Original-Ausführungen des EuGH erschöpfen sich in dem letzten Absatz. Große dogmatische Herleitungen und Erklärungen sind -- mal wieder -- nicht die Sache des EuGH. In einer Examensklausur wird hier aber von Ihnen erwartet werden, dass Sie durchaus „besser" sind als der EuGH, also ihr Ergebnis nicht nur feststellen, sondern auch erklären.

Zwischenergebnis

Da im vorliegenden Fall mit der Gewerkschaft G und dem Betrieb B zwei Privatpersonen miteinander im Streit stehen, scheidet eine unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie nach den vorgenannten Grundsätzen aus.

Anmerkung: Der EuGH prüft in seiner Entscheidung zuerst die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie, bevor er sich über eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts Gedanken macht. Dogmatisch überzeugender und in der Klausur empfehlenswert ist der hier gewählte Aufbau. Zum einen greift eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts deutlich geringer in die Rechte der Mitgliedstaaten ein und ist auch nicht contra legem, wie dies die unmittelbare Anwendbarkeit einer Richtlinie letztlich ist. Zum anderen reicht die richtlinienkonforme Auslegung weiter, da diese eben gerade auch in Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Privaten in Betracht kommt, also auf diese Art und Weise die Richtlinie zumindest indirekt horizontale Wirkung entfaltet.

3. Unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 27 EuGRCh

Da die Richtlinie nicht unmittelbar anwendbar ist, kommt es nach der Vorlagefrage darauf an, ob Art. 27 EuGRCh derart unmittelbar angewendet werden kann, dass er einer Heranziehung des Art. L. 1111-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs entgegensteht.

grundsätzliche Geltung der Grundrechtscharta

Nach Art. 51 EuGRCh gelten die Grundrechte der Charta immer dann, wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht vollziehen, also auch dann, wenn es um Richtlinienumsetzungsgesetze geht.

Voraussetzung für eine unmittelbare Anwendung des Art. 27 EuGRCh ist allerdings auch hier, dass dieser insoweit hinreichend bestimmt ist.

Dies ist im vorliegenden Fall aber nicht gegeben: Art. 27 EuGRCh („Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen") bestimmt, dass für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf verschiedenen Ebenen eine Unterrichtung und Anhörung in den Fällen und unter den Voraussetzungen gewährleistet sein muss, die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind. Aus dem Wortlaut von Art. 27 der Charta geht somit klar hervor, dass er, damit er seine volle Wirksamkeit entfaltet, durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss.

Das Gebot, auch Auszubildende bei der Ermittlung der maßgeblichen Beschäftigtenzahl mitzuzählen, lässt sich also gerade nicht unmittelbar aus Art. 27 EuGRCh ermitteln, sodass dieser nicht im Wege der unmittelbaren Anwendbarkeit Art. L. 1111-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs entgegengehalten werden kann.

D) Kommentar

(mg). Der EuGH hat -- wenn auch ohne nähere Begründungen -- mit der vorliegenden Entscheidung wohl Klarheit geschaffen, was die Anwendbarkeit einer Richtlinie zwischen bzw. zum Nachteil von Privaten angeht. Weder kann eine Richtlinie zwischen Privaten, also horizontal, anspruchsbegründend angewendet werden -- was schon bislang der absolut h.M. entspricht. Noch kann die Richtlinie unmittelbar in der Art und Weise herangezogen werden, dass sie anspruchsausschließenden Rechtsnormen des nationalen Rechts entgegenhalten werden kann, also zumindest anspruchserhaltend wirkt.

Lediglich die richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts kommt in einem Rechtsstreit zwischen zwei Privaten zum Nachteil eines davon in Betracht.

Anmerkung: Auf keinen Fall kann sich der Mitgliedstaat gegenüber dem Bürger unmittelbar auf die Bestimmungen einer Richtlinie berufen (umgekehrt vertikale Wirkung). Ein Mitgliedstaat, der selbst seine Umsetzungsverpflichtung verletzt, kann sich nicht unmittelbar gegenüber einem Privaten auf die Richtlinie berufen (die z.B. gesetzliche Verbote festlegt), um beispielsweise eine strafrechtliche Verfolgung des Privaten zu begründen. Hiergegen spricht nicht nur der Wortlaut des Art. 288 III AEUV, sondern auch der Zweck der unmittelbaren Wirkung. Der Mitgliedstaat soll sanktioniert werden und nicht auch noch aus der Nichtbeachtung des Unionsrechts Vorteile ziehen.7

Unmittelbar anwendbar können in einem Rechtsstreit zwischen zwei Privaten allerdings grundsätzlich die Grundrechte der Art. 27 EuGRCh sein. Voraussetzung ist allerdings, dass das entsprechende Grundrecht hinreichend bestimmt gerade ein Recht zwischen zwei Privaten begründet, was regelmäßig nicht der Fall ist, und dass es in dem Rechtsstreit zumindest im weiteren Sinne um den Vollzug von Unionsrecht geht, vgl. Art. 51 EuGRCh i.V.m. Art. 27 EuGRCh.

Anmerkung: Der EuGH weist am Ende seiner Entscheidung auf den letzten Rettungsanker hin, der dem Betroffenen bleibt, der sich nicht auf eine unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie berufen kann: Er kann den Bund bzw. das jeweilige Land auf Schadensersatz nach § 839 BGB, Art. 34 GG wegen der nicht fristgerechten ordnungsgemäßen Richtlinienumsetzung in Anspruch nehmen.8 In Ausnahme zu den sonstigen Grundsätzen des deutschen Staatshaftungsrechts wird bei Verstößen gegen das Unionsrecht auch für legislatives Unrecht gehaftet.

Im konkreten Fall wird der Hinweis auf einen Staatshaftungsanspruch den Verlierer des Verfahrens, die Gewerkschaft G, kaum trösten. Die Gewerkschaft verliert aufgrund der defizitären Richtlinienumsetzung einen Prozess, in dem es ihr darum ging, im Betrieb B einen Belegschaftsvertreter zu benennen. Der Schaden der Gewerkschaft besteht nun in der „Nichtbenennung" eines solchen Vertreters, was keinen materiellen, in Euro bezifferbaren Schaden darstellt, sodass der Schadensersatzanspruch ins Leere laufen dürfte.

E) Zur Vertiefung

  • Zum Vorabentscheidungsverfahren

Hemmer/Wüst, Europarecht, Rn. 683 ff.

  • Zum Grundrechtsschutz in der Union

Hemmer/Wüst, Europarecht, Rn. 57 ff.

F) Wiederholungsfrage

  1. Was versteht man unter einer horizontalen Wirkung der Richtlinie und warum ist diese abzulehnen?

  1. BVerfG DVBl. 2007, 821 = Life & Law 11/2007

  2. Vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 14.01.2014 2 BvR 2728/13 u.a. = Life & Law 04/2014

  3. EuGH, Beschluss vom 13.02.2014, C-555/13

  4. Vgl. EuGH, NJW 2003, 3185 ff.

  5. Schroeder, in Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EG, Rn. 110 m.w.N.

  6. Herrmann, EuZW 2006, 69 f.; wohl auch Streinz, Europarecht, Rn. 447 ff.

  7. Schroeder, in Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EG, Rn. 115

  8. Vgl. hierzu Hemmer/Wüst, Europarecht, Rn. 377 ff., insbes. Rn. 379b.