Kapitulation oder Drohung? BVerfG legt Auslegung des Unionsrechts erstmalig dem EuGH vor!

BVerfG, Beschluss vom 14.01.2014, 2 BvR 2728/13 u.a.

von Life and Law am 01.04.2014

+++ Handlungen der EZB +++ Auslegung des Unionsrechts +++ Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH +++ Art. 119 ff., 267 AEUV +++

Sachverhalt: Am 6. September 2012 fasste der Rat der Europäischen Zentralbank seinen Beschluss über „Technical features of Outright Monetary Transactions" (im Folgenden: OMT-Beschluss). In diesem Beschluss ist vorgesehen, dass im Rahmen der „Eurorettung" Staatsanleihen ausgewählter Mitgliedstaaten in unbegrenzter Höhe aufgekauft werden können, wenn und solange diese Mitgliedstaaten zugleich an einem mit der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität oder dem Europäischen Stabilitätsmechanismus vereinbarten Reformprogramm teilnehmen.

Der OMT-Beschluss ist bislang nicht umgesetzt worden.

Gegen den Beschluss erhob der deutsche Staatsbürger B Verfassungsbeschwerde zum BVerfG. Er ist der Auffassung, dass die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag verpflichtet seien, sich um eine Aufhebung des OMT-Beschlusses zu bemühen oder jedenfalls seine Umsetzung zu verhindern und die Deutsche Bundesbank an einer Umsetzung des Beschlusses nicht mitwirken dürfe. Zur Begründung führt er aus, dass der OMT-Beschluss ein sogenannter Ultra-vires-Akt sei. Er sei vom Mandat der Europäischen Zentralbank nach Art. 119 ff. AEUV nicht gedeckt und verstoße insbesondere gegen Art. 123 AEUV. Die EZB betreibe hier eindeutig Wirtschaftspolitik, die aber nicht zu den Zuständigkeiten der EU gehöre! Die EZB beruft sich in ihrer Stellungnahme hingegen darauf, dass ihre Maßnahme Teil der Währungspolitik sei und damit in ihre Zuständigkeit falle. Art. 123 AEUV sei schon deshalb nicht verletzt, weil dieser nur einen unmittelbaren Erwerb von Schuldtiteln der Mitgliedstaaten verbiete. Ein solcher unmittelbarer Erwerb solle aber nicht stattfinden. Die Schuldtitel würden vielmehr ggf. von Dritten auf dem freien Markt erworben.

Wie wird das BVerfG reagieren?

A) Sound

Gemäß Art. 19 III EUV, Art. 267 I AEUV wird dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist der Beschluss des Rates der EZB vom 6. September 2012 mit Art. 119 ff. AEUV vereinbar (sehr stark vereinfacht)?

B) Problemaufriss

Die Entscheidung des BVerfG zum OMT-Beschluss der EZB sorgte für ein gewaltiges Medienecho.

Einig war sich die Presse darin, dass die Entscheidung einen „Paukenschlag" darstellt. Über die Tonlage dieses Paukenschlags gehen die Bewertungen aber extrem auseinander! Während ein Teil der Presse Karlsruhe vorhält, vor dem EuGH zu kneifen oder gar zu kapitulieren,1 sieht ein anderer Teil ein zähnefletschendes und drohendes BVerfG.

wichtige Entscheidung zum Verhältnis BVerfG -- EuGH

Bereits eine kurze Presseschau zeigt damit die besondere Brisanz und die herausgehobene Bedeutung der Entscheidung gerade auch für den (angehenden) Juristen.

Die Entscheidung ist sicherlich auch enorm bedeutsam für die Zukunft des Euro und damit für die Zukunft Deutschlands und Europa. Dieser „materielle" Teil der Entscheidung, in dem das BVerfG sich mit Art. 119 ff. AEUV auseinandersetzt, gehört aber sicher nicht mehr zu den Grundfragen des Europarechts, die vom Prüfungsstoff in den juristischen Examina erfasst sind. Dieser Teil der Entscheidung setzt ein gewisses Faible für die Finanzwissenschaften voraus, das bei einem Juristen zumindest nicht vorausgesetzt wird. Aus diesem Grund werden die materiellen Fragen der Entscheidung hier auch nur sehr knapp dargestellt werden.

Streit um das letzte Wort

Der gerade auch für eine Ausbildungszeitschrift spannende Teil der Entscheidung besteht darin, dass diese ein weiterer Meilenstein im Streit um das letzte Wort zwischen BVerfG und EuGH ist.

Eine Verschärfung dieses Streits hatte sich bereits 2013 angedeutet.

Ausgangspunkt war eine Entscheidung des EuGH zur Anwendbarkeit der Grundrechte der Grundrechtecharta und damit auch um die Zuständigkeit des EuGH für die Überprüfung deren Einhaltung. Der EuGH betont zwar zunächst, dass gem. Art. 51 I EU-Grundrechtecharta die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung von Unionsrecht an EU-Grundrechte gebunden sind. Zum Geltungsbereich des Unionsrechts gehören auch Handlungen, die einzelfallbezogene Verknüpfungen zum Unionsrecht zulassen, wie etwa, dass das angewendete mitgliedstaatliche Recht (mittelbar) auf einer EU-Richtlinie beruht oder fiskalische Belange der Europäischen Union betroffen sind.2 Die Antwort des BVerfG folgte auf dem Fuß: „Würde der EuGH das meinen, was er sagt", läge nach Ansicht des BVerfG eine eindeutige und evidente Ultra-vires-Handlung vor. Aus dem Grund nimmt das BVerfG die Fransson-Entscheidung nicht wörtlich und legt Art. 51 der Grundrechtecharta weiter eng aus, ohne die Frage dem EuGH nochmals vorzulegen3

Nunmehr erfolgt erstmals in der Geschichte des BVerfG genau eine solche Vorlage nach Art. 267 AEUV. Die vorliegende Entscheidung kann deshalb in eine Reihe mit so bekannten Entscheidungen wie Solange-I,4 Solange-II5 oder aus der jüngeren Zeit Honeywell6 gestellt werden -- was freilich über die Qualität der Entscheidung noch nichts aussagt!

C) Lösung

Das BVerfG könnte die Verfassungsbeschwerde aussetzen und die Frage nach der Vereinbarkeit des OMT-Beschlusses mit Art. 119 ff. AEUV nach Art. 267 AEUV dem EuGH zur Klärung vorlegen, soweit eine solche Vorlage zulässig ist.

Vorabentscheidungsverfahren,
Art. 267 AEUV

  • Zuständigkeit des EuGH, Art. 256 I AEUV
  • Vorlageberechtigung, Art. 267 II AEUV
  • Vorlagegegenstand, Art. 267 I AEUV
  • Vorlagebefugnis = Entscheidungserheblichkeit, Art. 267 II AEUV

I. Zuständigkeit

Zuständig für das Vorabentscheidungsverfahren ist allein der EuGH, vgl. Art. 256 I AEUV.

Anmerkung: Nach Art. 256 III AEUV besteht die Möglichkeit, die Zuständigkeit für Vorabentscheidungsverfahren in der Satzung des EuGH auf das EuG zu übertragen. Von dieser Möglichkeit wurde aber bislang kein Gebrauch gemacht!

II. Vorlageberechtigung

Vorlageberechtigt sind nach Art. 267 II AEUV nur Gerichte der Mitgliedstaaten.

Nach der Rechtsprechung des EuGH ist ein Gericht ein zur Entscheidung in Rechtsstreitigkeiten berufener Spruchkörper, der sachlich unabhängig in einem rechtsstaatlich geordneten streitigen Verfahren entscheidet, dessen Entscheidungen nach der Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaates bindende Kraft zukommt und der nicht die Billigkeit, sondern das Recht als Entscheidungsmaßstab verwendet.7 Als weiteres Kriterium betrachtet der EuGH zudem die Einbindung der Spruchstelle in das innerstaatliche Rechtsschutzsystem (Zuständigkeitsverweisung kraft hoheitlicher Regelung, Mitwirkung des Staates bei Errichtung des Gerichts und Ausgestaltung der Verfahrensordnung).8

Das BVerfG ist ein mitgliedstaatliches Gericht in diesem Sinne und damit vorlageberechtigt.

III. Vorlagegegenstand

Der Gerichtshof entscheidet über die Auslegung des Vertrages, Art. 267 I a) AEUV, sowie über die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, Art. 267 I b) AEUV.

Hier geht es gerade um die Frage, ob der OMT-Beschluss der EZB als Organ der Union wirksam ist bzw. ob Art. 119 ff. AEUV so auszulegen sind, dass sie der Wirksamkeit dieses Beschlusses entgegenstehen.

IV. Entscheidungserheblichkeit

Gemäß Art. 267 II AEUV ist das Vorabentscheidungsverfahren nur dann zulässig, wenn das vorlegende Gericht eine Entscheidung des EuGH zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält. Die Auslegung bzw. Gültigkeit des Unionsrechts muss daher für den nationalen Rechtsstreit entscheidungserheblich sein. Entscheidungserheblich ist eine unionsrechtsrelevante Frage dann, wenn der Ausgang des mitgliedstaatlichen Verfahrens von ihrer Beantwortung abhängt.

Entscheidungserheblichkeit läge also dann vor, wenn die Verfassungsbeschwerde des B zulässig und begründet wäre, falls der EuGH eine Überschreitung der Art. 119 ff. AEUV feststellen würde. Oder anders formuliert: Die Entscheidungserheblichkeit ist zu verneinen, wenn die Verfassungsbeschwerde des B ohnehin unzulässig und unbegründet ist.

Anmerkung: Genau diese Verknüpfung zwischen der Verfassungsbeschwerde und der Vorlage ist der Knackpunkt in einer Klausur. Für das BVerfG spielt eine genaue Verortung der Prüfung naturgemäß eine deutlich geringere Rolle, sodass hierzu die Originalentscheidung deutlich unbestimmter bleibt.

1. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde des B, Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG

Das BVerfG ist nach § 13 Nr. 8a BVerfGG zuständig für die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde des B. Dieser ist als deutscher Staatsbürger auch Grundrechtsträger und damit ein antragsberechtigter „Jedermann".

a) Beschwerdegegenstand

Beschwerdegegenstand kann nach Art. 93 I Nr. 4a GG jeder Akt öffentlicher Gewalt sein. Der Begriff der öffentlichen Gewalt wird dabei umfassend im Sinne des Art. 1 III GG verstanden, sodass jegliche öffentliche Gewalt erfasst ist. Allerdings meint das Grundgesetz naturgemäß nur deutsche öffentliche Gewalt, sodass der OMT-Beschluss selbst kein tauglicher Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein kann.

Anmerkung: Nach der Rechtsprechung des BVerfG sind zwar Verfassungsbeschwerden gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht wie bspw. Verordnungen der Union statthaft, da diese den deutschen Bürger in gleichem Maße betreffen wie deutsche öffentliche Gewalt. Dies kann so aber nicht ohne weiteres auf einen Beschluss der EZB übertragen werden, da dieser den Beschwerdeführer gerade nicht unmittelbar betrifft. Bei einem unmittelbar anwendbaren Akt des Unionsrechts könnte das BVerfG feststellen, dass dieser im Geltungsbereich des Grundgesetzes nicht anwendbar ist. Bei einem Beschluss der EZB ist eine solche Feststellung nicht möglich. Das BVerfG ist auch nicht in der Lage, der EZB irgendwelche Befehle zu erteilen, sodass der OMT-Beschluss selbst nicht Prüfungsgegenstand sein kann.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich deshalb zum einen gegen die Mitwirkung der Deutschen Bundesbank an der Umsetzung des OMT-Beschlusses und zum anderen dagegen, dass die deutsche Bundesregierung und der Deutsche Bundestag in Ansehung des Beschlusses untätig geblieben sind.

Handlungen bzw. Unterlassungen der Deutschen Bundesbank, der Bundesregierung und des Bundestages sind als Akte der deutschen öffentlichen taugliche Beschwerdegegenstände.

Anmerkung: Im Originalfall waren zumindest einige der Beschwerden unmittelbar gegen den OMT-Beschluss gerichtet. Das BVerfG hat diese Beschwerden aber entsprechend den obigen Ausführungen „bei verständiger Würdigung ihrer Anträge" ausgelegt.

Da die Beschwerde sich auch gegen ein Unterlassen von Bundestag und Bundesregierung richtet, könnte man an dieser Stelle auch bereits erörtern, wie weit ein solches Unterlassen überhaupt justitiabel ist. Legislatives Unterlassen ist nach der Rechtsprechung des BVerfG nur dann beschwerdefähig, wenn im Grundgesetz entweder ein ausdrücklicher Auftrag zum Tätigwerden enthalten ist, der Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht im Wesentlichen bestimmt,9 oder wenn sich eine solche Handlungspflicht aus dem Charakter der Grundrechte als Schutzpflichten ergibt.10 Im vorliegenden Fall verortet das BVerfG die Frage der Handlungspflicht des Bundestages wohl eher in der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde.

b) Beschwerdebefugnis

B ist nur dann beschwerdebefugt, wenn er selbst, gegenwärtig und unmittelbar zumindest möglicherweise in einem seiner Grundrechte bzw. grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist.

Im vorliegenden Fall könnte das Wahlrecht aus Art. 38 I S. 1 GG verletzt sein.

mögliche Verletzung des Art. 38 I S. 1 GG?

Das Bundesverfassungsgericht sieht in dem Wahlrecht eine Schranke, das der Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der Europäischen Integration Grenzen zieht, deren Einhaltung - auch auf die Beschwerden einzelner Bürger hin - vom Bundesverfassungsgericht kontrolliert werden kann:

„Art. 38 GG verbürgt nicht nur, dass dem Bürger das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag zusteht und bei der Wahl die verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätze eingehalten werden. Die Verbürgung erstreckt sich auch auf den grundlegenden demokratischen Gehalt dieses Rechts: Gewährleistet wird den wahlberechtigten Deutschen das subjektive Recht, an der Wahl des Deutschen Bundestages teilzunehmen und dadurch an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluss zu nehmen. (...) Art. 38 GG schließt es im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus, die durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt und Einflussnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, dass das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 III GG i.V.m. Art. 20 I, II GG für unantastbar erklärt, verletzt wird."11

Anmerkung: Dagegen gewährt Art. 38 I S. 1 GG keinen Anspruch auf eine allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle demokratischer Mehrheitsentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht. „Das Wahlrecht dient nicht der inhaltlichen Kontrolle demokratischer Prozesse, sondern ist auf deren Ermöglichung gerichtet".

auch Ultra-vires-Kontrolle

Art. 38 I S. 1 GG gibt dabei nicht nur ein Recht auf eine Kontrolle, ob der Kernbereich der Art. 23 I S. 3, 79 III, 1, 20 GG durch die Übertragung von Kompetenzen auf die EU verletzt wird.

Der einzelne Wahlberechtigte hat vielmehr grundsätzlich auch ein Recht darauf, überprüfen zu lassen, ob die Organe der EU die Grenzen der vom Bundestag übertragenen Kompetenzen eingehalten haben oder nicht.

Anmerkung: Den Ausführungen des BVerfG ist nicht klar zu entnehmen, ob das Problem einer möglichen Ultra-vires-Handlung der EZB eine Frage der Zulässigkeit oder der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde darstellt. Es erscheint insoweit am Überzeugendsten, in der Zulässigkeit eher kurz die Möglichkeit einer solchen Ultra-vires-Handlung festzustellen und die Frage ausführlich in der Begründetheit zu behandeln.

Der OMT-Beschluss stellt nach dem Vortrag des Beschwerdeführers gerade einen solchen Ultra-vires-Akt dar. Er sieht insbesondere einen Verstoß gegen Art. 119 ff. AEUV.

Eine unmittelbare Verletzung des Art. 38 I S. 1 GG erscheint damit möglich. B ist als deutscher Staatsbürger auch selbst betroffen.

gegenwärtige Betroffenheit

Fraglich ist allenfalls die Gegenwärtigkeit der Betroffenheit, da der OMT-Beschluss bis heute nicht umgesetzt wurde, also eigentlich bislang nicht über eine bloße Ankündigung hinausging.

In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist aber anerkannt, dass zur Vermeidung nicht mehr korrigierbarer Folgen vorbeugender Rechtsschutz auch im Verfahren der Verfassungsbeschwerde geboten sein kann.12

auch vorbeugender Rechtsschutz möglich

Dass von einem Vollzug des OMT-Beschlusses solche nicht mehr korrigierbaren Folgen ausgehen könnten, erscheint plausibel.

Anmerkung: Auch bei diesem Prüfungspunkt wird nicht deutlich, ob das BVerfG dies als eine Frage der gegenwärtigen Betroffenheit oder als Aspekt des Rechtsschutzbedürfnisses sieht. Hier scheint beides vertretbar.

c) Rechtsweg und Subsidiarität

B steht keine andere Möglichkeit offen, gegen die Untätigkeit gerade des Bundestags vorzugehen. Weder das Gebot der Rechtswegerschöpfung, § 90 II S. 1 BVerfGG, noch der weitergehende Aspekt der Subsidiarität stehen der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde entgegen.

2. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde

Die Verfassungsbeschwerde wäre begründet, soweit der Beschwerdeführer tatsächlich in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 38 I S. 1 GG verletzt wäre.

Dies ist nach der Auffassung des BVerfG auch dann der Fall, wenn ein Rechtsakt der EU einer Ultra-vires-Kontrolle nicht standhält und es deshalb deutschen Verfassungsorganen, Behörden und Gerichten untersagt ist, an der Umsetzung solcher Maßnahmen mitzuwirken.

a) Art. 38 I S. 1 GG bei Ultra-vires-Handlung verletzt

Auf die zulässige Rüge einer Ultra-vires-Handlung hin sind Akte von Organen und sonstigen Stellen der Europäischen Union vom Bundesverfassungsgericht auf ihre Anwendbarkeit und Bindungswirkung in Deutschland hin zu überprüfen, soweit sie Grundlage von Handlungen deutscher Staatsorgane sind.

Die Voraussetzungen für eine Ultra-vires-Kontrolle wurden in der Honeywell-Entscheidung näher konkretisiert: „Die Ultra-vires-Kontrolle darf nur europarechtsfreundlich ausgeübt werden. (...) Die Union versteht sich als Rechtsgemeinschaft; sie ist insbesondere durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die Grundrechte gebunden und achtet die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten. Nach der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ist der Anwendungsvorrang des Unionsrechts anzuerkennen und zu gewährleisten, dass die dem Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich vorbehaltenen Kontrollbefugnisse nur zurückhaltend und europarechtsfreundlich ausgeübt werden. Das bedeutet für die vorliegend in Rede stehende Ultra-vires-Kontrolle, dass das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungen des Gerichtshofs grundsätzlich als verbindliche Auslegung des Unionsrechts zu beachten hat. Vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts der europäischen Organe und Einrichtungen ist deshalb dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte zu geben. (...) Eine Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht kommt darüber hinaus nur in Betracht, wenn ersichtlich ist, dass Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen außerhalb der übertragenen Kompetenzen ergangen sind. Ersichtlich ist ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur dann, wenn die europäischen Organe und Einrichtungen die Grenzen ihrer Kompetenzen in einer das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung spezifisch verletzenden Art überschritten haben, der Kompetenzverstoß mit anderen Worten hinreichend qualifiziert ist. Dies bedeutet, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fällt".13

Ultra-vires Handlung v.a. bei Verletzung der „Verfassungsidentität"

Ein Fall einer ersichtlichen und schwerwiegenden Ultra-vires-Handlung liegt insbesondere dann vor, wenn die Maßnahme eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen hat, die die durch Art. 79 III GG geschützte Verfassungsidentität berühren, sog. Identitätskontrolle. Auf einer primärrechtlichen Grundlage kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil eine entsprechende Kompetenzübertragung nach Art. 23 I S. 3, 79 III GG nicht möglich ist. Die entsprechende Handlung der EU-Organe kann deshalb nur „ultra-vires" liegen.

Anmerkung: Das BVerfG scheint Sekundärrecht unmittelbar nur an den Grundsätzen der Ultra-vires-Rechtsprechung messen zu wollen. Die Identitätskontrolle wird nicht als Alternative zur Ultra-vires-Kontrolle, sondern als besonders deutlicher Unterfall derselben gesehen. Wenn eine Maßnahme des Sekundärrechts gegen den identitätsstiftenden Kernbereich der Art. 79 III, 1 und 20 GG verstößt, kann sie nur ultra-vires liegen, da eine entsprechende Kompetenzübertragung nicht möglich ist!

Auslegung des Sekundärrechts Sache des EuGH -- Identitätskontrolle die des BVerfG!

Im Rahmen des bestehenden Kooperationsverhältnisses obliegt dem Gerichtshof der Union die Auslegung des Sekundärrechts.

Dem Bundesverfassungsgericht obliegen demgegenüber die Feststellung des unantastbaren Kernbestandes der Verfassungsidentität und die Prüfung, ob die Maßnahme (in der vom Gerichtshof festgestellten Auslegung) in diesen Kernbestand eingreift.

hemmer-Methode: Der EuGH gibt also vor, wie das Unionsrecht auszulegen und zu verstehen ist -- und das BVerfG prüft dann, ob das so zu verstehende Unionsrecht in Deutschland wegen einer Ultra-vires-Handlung evtl. unanwendbar ist!

b) Hier aus Sicht des BVerfG Ultra-vires-Handlung denkbar

Ein Ultra-vires-Handeln im dargestellten Sinn kommt aus Sicht des BVerfG vor allen Dingen deshalb in Betracht, weil der OMT-Beschluss nicht mehr vom geld- und währungspolitischen Mandat der EZB gedeckt sein könnte, sondern möglicherweise ein Instrument der Wirtschaftspolitik darstellt.

Wirtschaftspolitik als Kompetenz der Mitgliedstaaten

Die Zuständigkeitsverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten folgt dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 I, II EUV. Das gilt auch für Aufgaben und Befugnisse, die die Verträge der EZB zuweisen.

Nach Art. 3 I c) AEUV besitzt die Europäische Union für die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes die ausschließliche Zuständigkeit im Bereich der Währungspolitik

Die Währungspolitik ist nach Wortlaut, Systematik und Zielsetzung der Verträge insbesondere von der primär den Mitgliedstaaten zustehenden Wirtschaftspolitik abzugrenzen.

OMT-Beschluss als Instrument der Wirtschaftspolitik

Eben dieser Wirtschaftspolitik ist der OMT-Beschluss aber nach Auffassung des BVerfG zuzuordnen.

Mit dem OMT-Beschluss sollen nämlich gerade Zinsaufschläge auf Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes neutralisiert werden, die sich an den Märkten herausgebildet haben und die die Refinanzierung dieser Mitgliedstaaten belasten. Ziel des OMT-Beschlusses ist damit die Sicherstellung des finanziellen „Überlebens" einzelner Mitgliedstaaten, was aber eindeutig gerade keine den Euro als solchen betreffende Währungspolitik, sondern Wirtschaftspolitik ist.

Verletzung des Art. 123 AEUV

Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch das in Art. 12 AEUV verankerte Verbot sog. monetärer Haushaltsfinanzierung.

Zwar ist dem Wortlaut nach nur der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln der Mitgliedstaaten durch die EZB verboten, also der Erwerb am sog. Primärmarkt. Darauf beschränkt sich das Verbot jedoch nicht, sondern ist Ausdruck eines umfassenderen Verbots der monetären Haushaltsfinanzierung. Wie die nationalen Rechtsordnungen, so kennt auch das Unionsrecht die Rechtsfigur des Umgehungsverbotes. Es wurzelt letztlich im Gebot der praktischen Wirksamkeit („effet utile").

Es liegt daher auf der Hand, dass dies auch für die Auslegung von Art. 123 AEUV gelten muss und das Verbot des Erwerbs von Staatsanleihen unmittelbar von den emittierenden Mitgliedstaaten nicht durch funktional äquivalente Maßnahmen umgangen werden darf.

Der OMT-Beschluss und die ihn begleitende Kommunikation des Rates der Europäischen Zentralbank ermutigen Dritte zum Erwerb der in Rede stehenden Staatsanleihen am Primärmarkt, indem sie die Übernahme des mit dem Erwerb verbundenen Risikos in Aussicht stellen. Ein solch mittelbarer Erwerb ist dem unmittelbaren Erwerb im Wortlautsinne des Art. 123 AEUV gleichzustellen, weil er in gleichem Maße der Finanzierung der Mitgliedstaaten durch die Veräußerung von Staatsanleihen dient.

Anmerkung: Die vorstehenden Ausführungen betreffen den für die Klausur weniger wichtigen materiellen Teil der Entscheidung, s.o., und sind deshalb im Vergleich zum Original sehr knapp gehalten.

evidente und schwerwiegende Ultra-vires-Handlung

Sieht man mit dem BVerfG den OMT-Beschluss als Maßnahme der Wirtschaftspolitik an, läge hierin dann auch eine strukturell bedeutsame, evidente Ultra-vires-Handlung. Dies folgt insbesondere aus dem Umstand, dass der OMT-Beschluss Hilfsmaßnahmen der Mitgliedstaaten im Rahmen der „Eurorettungspolitik" überlagern kann, welche aufgrund ihrer erheblichen finanz- und allgemeinpolitischen Reichweite zum Kernbereich der wirtschaftspolitischen Kompetenz der Mitgliedstaaten zu rechnen sind.

c) ggf. Handlungspflichten deutscher Verfassungsorgane

Die Folge einer solchen Ultra-vires-Handlung ist, dass deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte an der kompetenzüberschreitenden Handlung nicht mitwirken. Das gilt auch für die Deutsche Bundesbank.

Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung dürfen darüber hinaus eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Usurpation von Hoheitsrechten durch Organe der Europäischen Union nicht einfach geschehen lassen.

Der Bundestag darf die Befugnis zur Entscheidung darüber, ob und in welchem Umfang Hoheitsrechte übertragen werden sollen, nicht aufgeben oder Organen der Europäischen Union zur Ausübung überlassen. Er ist vielmehr verpflichtet, selbst und in einem förmlichen Verfahren über die Übertragung von Kompetenzen im Rahmen der europäischen Integration zu entscheiden, damit das verfassungsrechtlich gebotene Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nicht unterlaufen werden kann.

Hieraus erwächst für den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung die Pflicht, über die Einhaltung des Integrationsprogramms zu wachen und bei offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch Organe der Europäischen Union nicht nur Mitwirkungs- und Umsetzungshandlungen zu unterlassen, sondern aktiv auf die Einhaltung des Integrationsprogramms hinzuwirken.

Anmerkung: In diesem Punkt bleibt das BVerfG -- was gerade auch die beiden „abweichenden" Richter Gerhardt und Lübbe-Wolff in ihren dissenting votes völlig zu Recht kritisieren -- mehr als nur vage. Wozu genau will das BVerfG den Deutschen Bundestag eigentlich verurteilen? Irgendetwas machen? Eine solche Verurteilung würde im Zweifel nur wenig bewirken. Oder will das BVerfG eine ganz konkrete Handlung, im Extremfall den Austritt aus der Euro-Zone, vorgeben? Das wäre sicherlich „effektiv"- aber auch ein extremer, nie dagewesener Eingriff in die politische Gestaltungshoheit des Gesetzgebers!

d) Ergebnis: Verfassungsbeschwerde ggf. begründet

Sieht man mit dem BVerfG in dem OMT-Beschluss eine unzulässige Maßnahme der Wirtschafspolitik der EZB, wäre demnach Art. 38 I S. 1 GG wegen eines pflichtwidrigen Unterlassens deutscher Verfassungsorgane, gegen ein schwerwiegendes und evidentes Ultra-vires-Handeln der EZB vorzugehen, begründet.

Ordnet man hingegen den OMT-Beschluss der Währungspolitik zu, läge kein Ultra-vires-Handeln vor, die Verfassungsbeschwerde des B wäre unbegründet.

Die Auslegung der Art. 119 ff. AEUV ist damit entscheidungserheblich i.S.d. Art. 267 II AEUV. Eine Vorlage an den EuGH ist damit zulässig.

D) Kommentar

(mg). Das Spektakuläre an der vorliegenden Entscheidung ist auf den ersten Blick, dass das BVerfG zum ersten Mal eine Ultra-vires-Beschwerde als zulässig angesehen hat. Bislang wurden entsprechende Verfassungsrechtsbehelfe regelmäßig als unzulässig verworfen.

Der weitere Verfahrensablauf ist auf den zweiten Blick allerdings nicht weniger spektakulär und spannend.

weiterer Verfahrensablauf

Der Ball liegt nun zunächst einmal im Feld des EuGH, der dabei nahezu alle Möglichkeiten der Entscheidung hat.

Er könnte bspw. die Vorlage des BVerfG als unzulässig verwerfen, da er die Entscheidungserheblichkeit mit dem Argument verneint, dass das BVerfG über die Umsetzung des OMT-Beschlusses nicht zu befinden habe. Eine solche Entscheidung wäre aber ein absoluter Affront gegenüber Karlsruhe, zumal dem vorlegenden Gericht üblicherweise ein weitergehender Beurteilungsspielraum im Hinblick auf die Entscheidungserheblichkeit zugestanden wird.

Der EuGH könnte in seiner Entscheidung den OMT-Beschluss auch im Sinne des BVerfG „zurechtstutzen". Dann wäre zwar Karlsruhe zufrieden, aber die EZB düpiert und evtl. die Finanzmärkte aufs Neue verunsichert. Im Wettstreit zwischen EuGH und BVerfG wäre dies aber freilich die salomonische goldene Mitte.

Besonders interessant wird es dann, wenn der EuGH den OMT-Beschluss für vollständig europarechtskonform befindet. Damit würde der EuGH den Ball an das BVerfG zurückspielen.

Papiertiger oder wirklicher Inhaber des letzten Wortes?

In diesem Fall müsste Karlsruhe zeigen, ob es nur geblufft hat und sich lediglich ein Papiertiger hinter dem lauten Brüllen versteckt hat oder ob es seine Doktrin des „letzten Wortes" ernst nimmt. Sieht der EuGH den OMT-Beschluss als unionsrechtskonform an, dann ist angesichts der Vorüberlegungen des BVerfG in seiner Vorlagebegründung eigentlich nicht nur der OMT-Beschluss ultra-vires, sondern auch die Entscheidung des EuGH! Dann müsste Karlsruhe zumindest den Bundestag, die Bundesregierung und die Deutsche Bundesbank verpflichten, die Umsetzung des OMT-Beschlusses zu verhindern.

Genau in diesem Punkt würde sich die von den beiden „Abweichlern" aufgedeckte Schwäche der Karlsruher Entscheidung zeigen: Will das BVerfG dem vom Volk unmittelbar gewählten Souverän, dem Bundestag, tatsächlich als eine Art nicht demokratisch gewählter Oberbundestag Vorgaben machen, was konkret zu tun ist? Verletzt dann nicht Karlsruhe selbst das Demokratieprinzip?

Eine der Auffassung des EuGH zuwiderlaufende Entscheidung des BVerfG würde auch auf eine Aufkündigung des in der Solange-Rechtsprechung angelegten Kooperationsverhältnisses hinauslaufen.

fast alle Fragen offen!

Die vorliegende Entscheidung wirft deshalb mehr Fragen auf als sie beantwortet. Alle Folgeentscheidungen zählen deshalb (nicht nur) für den angehenden Juristen zur absoluten Pflichtlektüre!

E) Zur Vertiefung

  • Zum Verhältnis zwischen EuGH und BVerfG

Hemmer/Wüst, Europarecht, Rn. 264 ff.

  • Zum Verfahren der Vorabentscheidung

Hemmer/Wüst, Europarecht, Rn. 683 ff.

F) Wiederholungsfrage

  1. Wieweit wird Unionsrecht vom BVerfG überprüft?

  1. „Richter Hasenherz", Lisa Nienhaus und Christian Siedenbiedel, FAS vom 09.02.2014.

  2. EuGH, Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson), NVwZ 2013, 561 = Life & Law 7/2013.

  3. BVerfG, Urteil vom 24.04.2013, 1 BvR 1215/07 = Life & Law 7/2013.

  4. BVerfGE 37, 271 ff. („Solange I") = NJW 1974, 1697 ff. = Hemmer/Wüst, Classics Europarecht, Fall 10, 19 f.; siehe dazu Bleckmann, Rn. 1120 ff.

  5. BVerfGE 73, 339 ff. = NJW 1987, 577 ff. = Hemmer/Wüst, Classics Europarecht, Fall 11, 21 f.

  6. BVerfG, 2 BvR 2661/06; DVBl. 2010, 1229 = Life & Law 2010, 694.

  7. EuGH, Rs. 61/65 (Vaasen-Göbbels), Slg. 1966, 583, 601 f.; Rs. 246/80 (Broekmeulen), Slg. 1981, 2311, 2326 ff.; Rs. 102/81 (Nordsee), Slg. 1982, 1095 ff.; Grabitz, ex Art. 234 EG, Rn. 15 ff.

  8. EuGH, Rs. 102/81 (Nordsee), Slg. 1982, 1095, 1110 = Hemmer/Wüst, Classics Europarecht, Fall 41, 81 f.; Erichsen/Weiß, JURA 1990, 586, 589.

  9. BVerfGE 56, 54 (70); 55, 37 (53 f.); 59, 360 (375); alle Entscheidungen Robbers, JuS 1993, 742; Gusy, Rn. 32.

  10. BVerfGE 77, 170 (214); BVerfG, NJW 1998, 2961 (Nichtraucherschutz); beide Entscheidungen

  11. BVerfGE 89, 155

  12. Vgl. schon BVerfGE 1, 396

  13. BVerfG, 2 BvR 2661/06 DVBl. 2010, 1229 = Life & Law 2010, 694.