Einrede der Unverhältnismäßigkeit gem. § 439 III BGB auch noch nach vorprozessualer Erfüllungsverweigerung? Aber sicher!!!

BGH, Urteil vom 16.10.2013, VIII ZR 273/12

von Life and Law am 01.01.2014

+++ Vorprozessuales Bestreiten eines Mangels +++ Verweigerung der Nacherfüllung wegen relativer Unverhältnismäßigkeit +++ § 439 I, III BGB +++

Sachverhalt (abgewandelt): V hat einen Neuwagen an K verkauft.

Nach der Übergabe stellt K fest, dass die beiden Außenspiegel, die beim Absperren selbsttätig anklappen, beim Starten des Motors regelmäßig nicht wieder ausklappen. Da V das Vorliegen eines Mangels bestreitet und jegliche Form der Nacherfüllung verweigert, erhebt K gegen V Klage auf Lieferung eines neuen Fahrzeugs.

Ein gerichtlich eingeholtes Sachverständigengutachten ergibt, dass der Mangel tatsächlich vorlag, dieser aber mit geringfügigen Kosten durch Austausch eines elektronischen Bauteiles behoben werden kann. Eine Nachlieferung würde im Vergleich hierzu um 35 % höhere Kosten auslösen.

V beruft sich nun während des Prozesses darauf, dass die von K geltend gemachte Art der Nacherfüllung für ihn mit unverhältnismäßigen Kosten verbunden sei und er daher lediglich zur Reparatur bereit sei.

K meint, V könne sich nicht mehr auf die Unverhältnismäßigkeit der Nacherfüllung berufen, nachdem er bereits vorprozessual jegliche Art der Nacherfüllung verweigert hat.

Hat K einen Anspruch gegen V auf Lieferung eines neuen Fahrzeugs?

A) Sound

Der Verkäufer, der vorprozessual nur das Vorhandensein von Mängeln bestreitet und aus diesem Grund die Nacherfüllung insgesamt verweigert, ist in der Regel nicht daran gehindert, sich auf die Unverhältnismäßigkeit der Kosten der vom Käufer gewählten Art der Nacherfüllung erst im Rechtsstreit über den Nacherfüllungsanspruch zu berufen.

B) Problemaufriss

Die Reichweite der Nacherfüllung beim Verbrauchsgüterkauf1 und außerhalb des Anwendungsbereichs des Verbrauchsgüterkaufs2 wurde vom BGH weitgehend geklärt. Immer noch umstritten ist hingegen die Frage, ob bzw. wann bzw. wie sich ein Verkäufer auf die absolute Unverhältnismäßigkeit der einzig möglichen Art der Nacherfüllung berufen kann.3

Der BGH hat in Umsetzung eines EuGH-Urteils4 zum Verbrauchsgüterkauf lediglich entschieden, dass bei absoluter Unverhältnismäßigkeit § 439 III BGB im Wege richtlinienkonformer Rechtsfortbildung teleologisch zu reduzieren sei. Dem Verkäufer wird das Recht eingeräumt, entweder den Nacherfüllungsanspruch des Käufers auch bei unverhältnismäßigem Aufwand zu erfüllen oder dem Käufer stattdessen anzubieten, diesem die Kosten in Höhe eines angemessenen Betrags zu erstatten.

Will sich der Verbraucher auf einen derart „herabgesetzten" Nacherfüllungsanspruch nicht verweisen lassen, so kann er ohne Fristsetzung gem. § 440 S. 1 Var. 3 BGB vom Kaufvertrag zurücktreten oder stattdessen den Kaufpreis mindern.

Wann ein Fall absoluter Unverhältnismäßigkeit vorliegt, hat der BGH aber trotz vieler Vorschläge in der Literatur und Rechtsprechung offen gelassen. Eine generelle prozentuale Regelung sei die Aufgabe des Gesetzgebers.

Im vorliegenden Fall geht es um die Frage, ob ein Verkäufer die Einrede der sog. „relativen Unverhältnismäßigkeit" der Nacherfüllung geltend machen kann.

Problematisch war dies deshalb, weil der Verkäufer zunächst jedwede Art der Nacherfüllung abgelehnt hatte, da er das Vorliegen eines Mangels bestritt. Nach Ansicht des Berufungsgerichts5 hat der Verkäufer dadurch das Recht verloren, sich auf die Unverhältnismäßigkeit der Nacherfüllung zu berufen.

Der BGH folgt dieser Ansicht zu Recht nicht.

C) Lösung

Zu prüfen ist, ob K gegen V ein Anspruch auf Lieferung eines neuen, mangelfreien Fahrzeugs zusteht.

I. Anspruch auf Nachlieferung gem. §§ 437 Nr. 1, 439 I Alt. 2 BGB

Ein Anspruch auf Nacherfüllung in Form der Nachlieferung besteht, wenn die Voraussetzungen des Nacherfüllungsanspruches gegeben sind und der Verkäufer die vom Käufer gewählte Nachlieferung nicht wegen unverhältnismäßiger Kosten gem. § 439 III BGB verweigern durfte.

1. Grundvoraussetzungen des Nacherfüllungsanspruches sind gegeben

V und K haben einen wirksamen Kaufvertrag über einen Neuwagen geschlossen, § 433 BGB.

Laut Sachverhalt war das von V gelieferte Fahrzeug auch mangelhaft, da die beiden Außenspiegel, die beim Absperren selbsttätig anklappen, beim Starten des Motors regelmäßig nicht wieder ausklappen. Wenn die Außenspiegel des Fahrzeugs ihre Funktion, beim Starten des Motors wieder auszuklappen, nicht zuverlässig ausführen, beeinträchtigt dies wesentlich die Verkehrssicherheit. Aufgrund dieses Sicherheitsrisikos eignet sich das Fahrzeug nicht für die gewöhnliche Verwendung.

Jedenfalls weist es aber keine Beschaffenheit auf, die bei Sachen der gleichen Art üblich ist und die der Käufer auch erwarten kann.

Damit lag bei Gefahrübergang ein Sachmangel i.S.d. § 434 I S. 2 Nr. 2 BGB vor, sodass K von V grds. Nacherfüllung verlangen kann, §§ 437 Nr. 1, 439 BGB.

2. Einrede der Unverhältnismäßigkeit der Nacherfüllung, § 439 III BGB

Wenn die Nacherfüllung mit unverhältnismäßigen Kosten verbunden ist, kann der Verkäufer gem. § 439 III BGB die vom Käufer gewählte Art der Nacherfüllung unbeschadet des § 275 II und III BGB verweigern.

a) Relative Unverhältnismäßigkeit gem. § 439 III S. 2 Var. 3 BGB

Für die Frage der Unverhältnismäßigkeit ist nach § 439 III S. 2 Var. 3 BGB insbesondere die Frage zu berücksichtigen, ob auf die andere Art der Nacherfüllung ohne erhebliche Nachteile für den Käufer zurückgegriffen werden kann.

Sofern die Kosten der gewählten Art (deutlich) höher sind als die der anderen, scheidet die gewählte Art der Nacherfüllung schon deswegen als unverhältnismäßig aus (sog. „relative Unverhältnismäßigkeit").

hemmer-Methode: Die Grenze der „relativen Unverhältnismäßigkeit" ist umstritten. Nach h.M. wird diese bei ca. 10 % gezogen.6

Nach ebenfalls h.M. soll die Grenze höher sein (20 % über der anderen Alternative), wenn der Verkäufer die Lieferung einer mangelhaften Kaufsache zu vertreten hat.

Der Grund dafür soll darin liegen, dass das Vertrauen des Käufers in die Fähigkeit des Verkäufers, eine bestimmte Art der Nacherfüllung ordnungsgemäß vorzunehmen, durch das Vertretenmüssen bereits beschädigt sein kann.7

Laut gerichtlichem Sachverständigengutachten kann der Mangel mit geringfügigen Kosten durch Austausch eines elektronischen Bauteiles behoben werden.

Eine Nachlieferung eines neuen Fahrzeugs würde im Vergleich hierzu hingegen um 35 % höhere Kosten auslösen.

Zwischenergebnis: Die von K begehrte Nachlieferung ist im Vergleich zur Nachbesserung relativ unverhältnismäßig, sodass V die Nachlieferung wegen unverhältnismäßiger Kosten grds. gem. § 439 III S. 1 BGB verweigern kann.

b) Kein Verlust der Einrede wegen der vorprozessualen Erfüllungsverweigerung

V könnte aber die Einrede der Unverhältnismäßigkeit dadurch verloren haben, dass er vorprozessual das Vorhandensein von Mängeln bestritten und aus diesem Grund die Nacherfüllung insgesamt verweigert hat.

Entgegen der Ansicht des OLG Nürnberg als Berufungsgericht führt nach Ansicht des BGH dieser Umstand nicht zum Verlust der Unverhältnismäßigkeitseinrede.

aa) K hat trotz Gestaltungsmöglichkeit die (Nach-)Erfüllungsklage gewählt

Verweigert der Verkäufer die Nacherfüllung zu Unrecht mit der Begründung, dass keine Mängel vorhanden seien, so stehen dem Käufer die sekundären Käuferrechte aus § 437 Nr. 2 und 3 BGB zu.

Der Käufer kann aber auch - wie hier - den Anspruch auf Nacherfüllung aus §§ 437 Nr. 1, 439 BGB klageweise geltend machen mit der Folge, dass dem Verkäufer unter den Voraussetzungen des § 439 III BGB das Recht zusteht, gerade die vom Käufer gewählte Art der Nacherfüllung wegen unverhältnismäßiger Kosten zu verweigern.

V ist aus Rechtsgründen daher nicht daran gehindert, sich gegenüber dem geltend gemachten Anspruch auf Ersatzlieferung darauf zu berufen, dass die Lieferung eines Neufahrzeugs für ihn im Vergleich zur Beseitigung der vorhandenen Mängel mit unverhältnismäßigen Kosten verbunden wäre. Die vom OLG Nürnberg vertretene Einschränkung dieses Rechts kann aus der gesetzlichen Regelung nicht hergeleitet werden.

bb) Keine Verfristung

Die Berufung auf das Verweigerungsrecht aus § 439 III BGB ist auch nicht „verfristet".

(1) Verlust der Einrede erst durch Rücktritt

Nach Ansicht der Rechtsprechung8 und Literatur9 kann sich der Verkäufer auf die Einrede aus § 439 III BGB dann nicht mehr berufen, wenn der Käufer bereits wirksam vom Vertrag zurückgetreten ist.

Ob dieser Ansicht zu folgen ist, lässt der BGH im vorliegenden Fall dahinstehen.

Ein solcher Fall lag hier nämlich nicht vor. Der Kläger ist nicht vom Vertrag zurückgetreten, sondern begehrt weiterhin Nacherfüllung in Form der Ersatzlieferung.

(2) Kein Verlust der Einrede durch Ablauf der Nacherfüllungsfrist

In der Kommentarliteratur wird die Ansicht vertreten, dass der Verkäufer mit der Einrede der Unverhältnismäßigkeit ausgeschlossen ist, wenn er sie nicht vor Ablauf der ihm gesetzten Frist zur Nacherfüllung erhoben hat.10

Der BGH folgt dieser verfehlten Ansicht zu Recht nicht.

Der Anspruch des Käufers auf Nacherfüllung ist nicht von einer Fristsetzung des Käufers gegenüber dem Verkäufer abhängig. Ebenso wenig schreibt § 439 III BGB vor, dass der Verkäufer sich nur dann auf die Einrede berufen kann, wenn er diese innerhalb einer vom Käufer gesetzten Frist zur Nacherfüllung erhebt.

Der Verkäufer ist deshalb in der Regel nicht daran gehindert, sich auf die Unverhältnismäßigkeit der Kosten der vom Käufer gewählten Art der Nacherfüllung erst im Rechtsstreit über den Nacherfüllungsanspruch zu berufen, auch wenn er vorprozessual nur das Vorhandensein von Mängeln bestritten und aus diesem Grund die Nacherfüllung verweigert hatte.

Insoweit gilt nichts anderes als für die Verjährungseinrede, die ebenfalls auch dann noch im Rechtsstreit geltend gemacht werden kann, wenn vorprozessual der Anspruch insgesamt bestritten worden war.

II. Endergebnis

V kann die Lieferung eines mangelfreien neuen Fahrzeugs wegen unverhältnismäßig hoher Kosten nach § 439 III S. 1 BGB i.V.m. § 439 S. 2 Var. 3 BGB verweigern.

D) Kommentar

(mty). Die Ansicht des BGH ist ganz offensichtlich überzeugend.

Wenn der Verkäufer einen Mangel weiterhin bestreitet, nachdem er Gelegenheit zur Überprüfung des Mangels erhalten hat, so geschieht dies auf eigenes Risiko.

Der Käufer kann dann die Nacherfüllung ablehnen und wegen ernsthafter und endgültiger Erfüllungsverweigerung gem. § 281 II Alt. 1 BGB Schadensersatz statt der Leistung verlangen oder bzw. und (vgl. § 325 BGB) gem. § 323 II Nr. 1 BGB vom Vertrag zurücktreten oder den Kaufpreis mindern.

Bleibt der Käufer aber auf seinem Standpunkt, Nacherfüllung zu verlangen, so gelten die Spielregeln des Nacherfüllungsanspruchs natürlich weiter. Die Geltendmachung der Einrede unterliegt keiner Frist. Hierin ist auch kein widersprüchliches Verhalten des Verkäufers zu sehen (§ 242 BGB): Das Bestreiten von Anspruchsvoraussetzungen (hier: Mangel) enthält nicht den Verzicht auf Verteidigungsmöglichkeiten, wenn dem Kläger (hier dem Käufer) der Nachweis des Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen gelingt.

In prozessualer Hinsicht hätte der Kläger seine Klage ändern müssen und den Antrag auf Beseitigung des Mangels stellen müssen. Die Klageänderung wäre gem. § 263 ZPO sachdienlich.

Soweit im Zweiten Staatsexamen in Ihrem Bundesland der Palandt als Hilfsmittel zugelassen ist, sollten Sie sich in zulässiger Weise die „falschen" Ausführungen in Rn. 14 zu § 439 BGB entschärfen.

E) Zur Vertiefung

  • Der Anspruch auf Nacherfüllung

Hemmer/Wüst, Schuldrecht BT 1, Rn. 154 ff.

BGH, Life & Law 4/2012, 239 ff.

BGH, Life & Law 1/2013, 1 ff.

F) Wiederholungsfragen

1. Wann kann sich der Verkäufer auf die relative Unverhältnismäßigkeit der Nacherfüllung berufen?

2. Verliert der Verkäufer die Einrede, wenn er zuvor die Nacherfüllung insgesamt abgelehnt hat, der Käufer aber weiterhin auf Nacherfüllung beharrt?


  1. BGH, Life & Law 2012, 239 ff. = NJW 2012, 1073

  2. BGH, Life & Law 1/2013, 1 ff. = NJW 2013, 220 ff.

  3. Vgl. hierzu ausführlich BGH, Life & Law 5/2009, 291 ff.

  4. EuGH, Life & Law 8/2011, 537 ff. = NJW 2011, 2269 ff.

  5. OLG Nürnberg, Urteil v. 20.07.2012, Az.: 5 U 2605/11.

  6. Hemmer/Wüst, Schuldrecht BT 1, Rn. 176a.

  7. Bamberger/Roth, § 439 BGB, Rn. 46; nach a.A. kommt es bei der „relativen Unverhältnismäßigkeit" auf das Vertretenmüssen des Verkäufers nicht an (Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, Rn. 447).

  8. OLG Celle, NJW-RR 2007, 353 f.

  9. Lorenz, NJW 2007, 1, 5 f.

  10. Palandt, 73. Auflage 2014, § 439 BGB, Rn. 14.