Abhandenkommen, § 935 BGB

Grundfall (nicht nur) für Anfangssemester, Zivilrecht

von Life and Law am 01.10.2013

+++ Verschiedene Einzelfragen zu § 935 BGB +++

Sachverhalt: V übereignet als Nichtberechtigter einen Blumentopf an K.

Frage: Ist der Blumentopf nach § 935 I S. 1 BGB abhandengekommen, wenn V

1. Besitzdiener des E,

2. minderjährig,

3. geschäftsunfähig,

4. durch Drohung bestimmt oder

5. durch Täuschung bestimmt war?

A) Sound

Der Gutglaubenserwerb der Sache tritt nach § 935 I S. 1 BGB nicht ein, wenn die Sache dem Eigentümer gestohlen worden, verloren gegangen oder sonst abhandengekommen war. Der Diebstahl und der Verlust der Sache sind dabei nur bestimmte Unterfälle eines sonstigen Abhandenkommens der Sache. Fraglich ist, wie das Abhandenkommen einer Sache gem. § 935 I BGB definiert ist. Eine Sache ist dann abhanden gekommen, wenn der unmittelbare Besitzer seinen Besitz ohne (nicht notwendig gegen!) seinen Willen verloren hat. Je nachdem, ob man die Besitzaufgabe als reinen Realakt betrachtet, oder eine geschäftsähnliche Handlung annimmt, können sich für die Beurteilung des Abhandenkommens einer Sache unterschiedliche Lösungen ergeben.

B) Gliederung

(P) Abhandenkommen des Blumentopfs?

1. Weggabe durch Besitzdiener

a) V unmittelbarer Besitzer nach
§ 854 I BGB?

b) Nein: gem. § 855 BGB nur E unmittelbarer Besitzer

c) E hat Besitz ohne seinen Willen verloren
Daher: Abhandenkommen, § 935 I S. 1 BGB (+)

2. Minderjährigkeit

a) Besitzaufgabe: (P) Realakt oder geschäftsähnliche Handlung?

b) Eigene Willensbildung des V und Einsichtsfähigkeit in Bedeutung des Vorgangs entscheidend

3. Geschäftsfähigkeit

Eigene Willensbildung des V und Einsichtsfähigkeit in Bedeutung des Vorgangs? Bei Geschäftsunfähigkeit Vermutung, dass (-)

4. Drohung

Drohung als Hinderungsgrund für Besitzaufgabe mit Wille des V? Differenzierung nötig

5. Täuschung

Tatsächlicher Besitzaufgabewille maßgeblich, Anfechtung des dinglichen Vertrages nach § 123 I Alt. 1 BGB möglich
(Fehleridentität)

C) Lösung

Abhandenkommen des Blumentopfs?

1. Weggabe durch Besitzdiener

Die Sache ist abhandengekommen nach § 935 I S. 1 BGB, wenn der unmittelbare Besitzer seinen Besitz ohne seinen Willen verloren hat. V hat den Besitz am Blumentopf hier willentlich, mithin nicht ohne seinen Willen verloren. Fraglich ist aber, ob V unmittelbarer Besitzer war und ob es damit für das Abhandenkommen überhaupt auf seine Person ankommt.

a) V unmittelbarer Besitzer nach § 854 I BGB?

Der unmittelbare Besitz definiert sich nach der Erlangung der tatsächlichen Gewalt über die Sache, § 854 I BGB. V hatte die tatsächliche Verfügungsgewalt über den Blumentopf und war damit scheinbar unmittelbarer Besitzer.

b) § 855 BGB

Etwas anderes ergibt sich jedoch daraus, dass V nur Besitzdiener des Eigentümers E war. Nach § 855 BGB ist nur E Besitzer der Sache. Der Besitzdiener hat somit keinerlei Besitz an der Sache.

c) E hat Besitz ohne seinen Willen verloren

Unmittelbarer Besitzer ist damit E. E hat den unmittelbaren Besitz zwar nicht ausdrücklich gegen, aber jedenfalls ohne seinen Willen verloren.

Eine andere Ansicht stellt darauf ab, dass der Besitzdiener gerade gegen den Willen seines Besitzherren handeln müsse, oder dass ein bewusster Verstoß des Besitzdieners gegen den Willen des Besitzherren vorliegen muss, oder dass der Besitzdiener als solcher erkennbar war. Dies gibt der Wortlaut des Gesetzes in § 855 BGB und § 935 I S. 1 BGB jedoch nicht her.

Daher ist ein Abhandenkommen des Blumenkübels beim unmittelbar besitzenden Eigentümer E nach §§ 935 I S. 1, 855 BGB zu bejahen.

2. Minderjährigkeit

Zu klären ist, ob eine beschränkte Geschäftsfähigkeit des Veräußerers V zu einem Abhandenkommen der Sache nach § 935 I S. 1 BGB führt. Eine Sache ist dann abhanden gekommen, wenn der unmittelbare Besitzer seinen Besitz ohne seinen Willen verliert. Der unmittelbare Besitzer V hat den Besitz am Blumentopf aber mit seinem Willen verloren.

Fraglich ist aber, ob der Besitzaufgabewille dem V auch zurechenbar ist. Daran fehlt es, wenn der Besitzaufgabewille Geschäftsfähigkeit erfordert, §§ 104 ff. BGB.

a) Besitzaufgabe Realakt oder geschäftsähnliche Handlung

Entscheidend für diese Frage ist, ob die Besitzaufgabe als geschäftsähnliche Handlung oder als reiner Realakt betrachtet wird. Für die Annahme einer rechtsgeschäftlichen Handlung spricht der umfassende Schutzzweck der §§ 104 ff. BGB, z.B. im Minderjährigenrecht.

Auf der anderen Seite wird dieser Schutz zwangsläufig schon dadurch erreicht, dass jede Übereignung beweglicher Sachen nach den §§ 929 ff. BGB eine dingliche Einigung, also ein dingliches Rechtsgeschäft des Veräußerers und des Erwerbers erfordert. Hier spielen die §§ 104 ff. BGB ohnehin schon eine Rolle, sodass es auf die weitere Annahme eines rechtsgeschäftsähnliches Besitzaufgabewillens in § 935 I S. 1 BGB überhaupt nicht mehr ankommt.

Weiterhin ist der Vorgang der Übertragung des Besitzes schon äußerlich ein reiner Realakt. Deshalb fordert die h.M. neben der Übergabe lediglich einen tatsächlichen Besitzaufgabewillen des unmittelbaren Besitzers.

b) Eigene Willensbildung de s V und Einsichtsfähigkeit in Bedeutung des Vorgangs

Dieser Besitzaufgabewille ist nicht rechtsgeschäftlicher Natur und kann daher auch Personen zukommen, die in der Geschäftsfähigkeit beschränkt sind. Allerdings muss der Besitzaufgabewille das Ergebnis einer eigenen Willensbildung des Veräußerers sein. Zudem muss dieser eine tatsächliche Einsichtsfähigkeit in die Bedeutung der Besitzaufgabe haben, § 828 III BGB analog. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist im Einzelfall zu ermitteln.

Bei beschränkter Geschäftsfähigkeit durch Minderjährigkeit wird bei einem der Volljährigkeit nahen Minderjährigen ein anderes Ergebnis als etwa bei einem Zehnjährigen zu finden sein.

Im Ausgangsfall finden sich keine Anhaltspunkte im Sachverhalt, die eine fehlende Einsichtsfähigkeit oder eigene Willensbildung des V andeuten. Deshalb ist davon auszugehen, dass der Blumentopf dem V nicht nach § 935 I S. 1 BGB abhandengekommen ist.

3. Geschäftsunfähigkeit

Zu untersuchen ist, ob V die Sache abhandengekommen ist, wenn V geschäftsunfähig war, § 104 BGB.

Zwar hat V als unmittelbarer Besitzer den Besitz an der Sache mit seinem Willen aufgegeben, doch ist erneut fraglich, ob der Besitzaufgabewille dem V auch zuzurechnen ist. Die Besitzaufgabe ist ein reiner Realakt, sodass der Besitzaufgabewille sich nicht nach rechtsgeschäftlichen Grundsätzen der §§ 104 ff. BGB richtet, mithin keine Geschäftsfähigkeit des V erforderlich ist.

Allerdings erfordert der Besitzaufgabewille eine eigene Willensbildung des V und Einsichtsfähigkeit in die Bedeutung des Vorgangs. Bei einem Geschäftsunfähigen, beispielsweise einem sechsjährigen Kind (§ 104 Nr. 1 BGB) oder einem Geisteskranken (§ 104 Nr. 2 BGB), wird in der Regel vermutet, dass die tatsächliche Einsichtsfähigkeit in die Bedeutung der Besitzaufgabe gefehlt hat.

Somit ist ein Abhandenkommen des Blumentopfes nach § 935 I S. 1 BGB bei Geschäftsunfähigkeit des V anzunehmen.

4. Drohung

Zu klären ist, ob ein Abhandenkommen der Sache nach § 935 I S. 1 BGB vorliegt, wenn V durch Drohung zur Besitzaufgabe bestimmt worden ist. Ein Abhandenkommen ist zu bejahen, wenn V seinen unmittelbaren Besitz ohne seinen Willen verloren hat.

Fraglich ist deshalb, ob V durch die Drohung den Besitz ohne seinen Willen verloren hat.

Dies ist der Fall, wenn die Drohung zu einer unwiderstehlichen Gewalt geführt hat. V dürfte keine andere Entschließungsmöglichkeit mehr gehabt haben.

Anders liegt der Fall, wenn der Veräußerer zwar durch die Drohung beeinflusst wurde, aber noch eine Wahlmöglichkeit hatte. Hier erfolgte die Besitzaufgabe auch noch „freiwillig" i.S.d. § 935 I S. 1 BGB.

Die Unterscheidung ähnelt der strafrechtlichen Differenzierung zwischen Raub und räuberischer Erpressung.

Im Ausgangsfall ist mangels Hinweisen auf unwiderstehliche Gewalt durch Drohung davon auszugehen, dass die Wegnahme noch vom Willen des V gedeckt war.

Ein Abhandenkommen bei V ist daher also abzulehnen.

5. Täuschung

Zu prüfen ist schließlich noch, ob V die Sache nach § 935 I S. 1 BGB abhandengekommen ist, wenn V zur Besitzaufgabe durch Täuschung bestimmt wurde. Ein Abhandenkommen bestimmt sich danach, ob der unmittelbare Besitzer seinen Besitz ohne seinen Willen verloren hat. Bei einer Täuschung hat V immer noch mit seinem Willen den Besitz aufgegeben.

Die Täuschung des Veräußerers kann zwar das Motiv des V zur Besitzaufgabe bestimmt haben. Den allein maßgeblichen Handlungswillen des V zur freiwilligen Besitzaufgabe schließt die Täuschung jedoch gerade nicht aus.

Damit ist ein Abhandenkommen des Blumentopfs nach § 935 I S. 1 BGB zu verneinen, wenn V zur Besitzaufgabe durch Täuschung bestimmt worden ist.

D) Zusammenfassung

Eine Sache ist nach § 935 I BGB abhandengekommen, wenn der unmittelbare Besitzer seinen Besitz ohne seinen Willen verloren hat. Die Besitzaufgabe ist ein Realakt. Daraus ergibt sich, dass kein rechtsgeschäftlicher, sondern nur ein tatsächlicher Wille zur Besitzaufgabe nötig ist.

Dieser tatsächliche Wille muss Ergebnis einer eigenen Willensbildung des Veräußerers sein. Zudem muss der Veräußerer Einsicht in die Bedeutung und Folgen seiner Besitzaufgabe haben.

Bei beschränkt Geschäftsfähigen und nicht Geschäftsfähigen ist die Einsicht im Einzelfall zu ermitteln, es besteht jedoch bei Geschäftsunfähigen eine Vermutung, dass die Einsicht fehlt.

Eine Täuschung führt nicht zu einem fehlerhaften Besitzaufgabewillen. Bei einer Drohung fehlt der Besitzaufgabewille nur dann, wenn die Drohung zu einem unmittelbaren Zwang führt, die dem Veräußerer keine Entschließungsfreiheit mehr lässt.

hemmer-Methode: Ein Klausurersteller für Zwischenprüfung oder Examen wird einen Sachenrechtsfall stets mit Minderjährigen, Geschäftsunfähigen, Irrtum, Drohung etc. „aufpeppen". Nur so kann eine breite Abdeckung des examensrelevanten Stoffs und rechtsübergreifendes Denken am „großen Fall" erfolgen und zu einer Punktedifferenzierung führen. Die angesprochenen Probleme müssen an den jeweils richtigen Stellen besprochen werden. Im Ausgangsfall wären die möglichen Willensmängel neben der Wirksamkeit eines schuldrechtlichen Vertrags, der Wirksamkeit der dinglichen Einigung in §§ 929 ff. BGB, einer Anfechtung beider Rechtsgeschäfte wegen Fehleridentität dann evtl. auch noch beim Abhandenkommen der Sache nach § 935 I BGB zu problematisieren gewesen.

E) Zur Vertiefung

Hemmer/Wüst, SachenR II, Rn. 77 ff.

Hemmer/Wüst, Basics Zivilrecht, Band 2, Rn. 210 ff.

Hemmer/Wüst, SachenR I, Karte 36