Versammlung auch auf Friedhof möglich!

BVerfG, Beschluss vom 20.06.2014, 1 BvR 980/13

von Life and Law am 01.10.2014

+++ Versammlungsfreiheit +++ Versammlungsverbot +++ § 15 VersammlG, Art. 8 I GG +++

Sachverhalt: Am 13. Februar 2012 veranstaltete die Stadt Dresden eine Gedenkveranstaltung auf dem Gelände des Dresdner Heidefriedhofs. Bei diesem handelt es sich um einen kommunalen Friedhof der Stadt, dessen Benutzung in der städtischen Friedhofssatzung geregelt ist. Der von der „Arbeitsgruppe 13. Februar" organisierte Gedenkgang diente der Erinnerung an die Opfer des Zweiten Weltkrieges sowie die Opfer des Alliierten Bombenangriffs auf Dresden am 13. Februar 1945, die zu einem Großteil in Massengräbern auf dem Heidefriedhof beerdigt sind. Geplant war nach dem öffentlichen Aufruf hierbei, dass sich der Gedenkzug über die zentrale Opferschale des Rondells zu einer Gedenkmauer für die Bombenangriffe bewegen sollte, um - symbolisiert durch die Niederlegung von weißen Rosen -- „ein Zeichen für die Überwindung von Krieg, Rassismus und Gewalt zu setzen". Die Beteiligung an dem Gedenkzug stand der gesamten Bevölkerung offen. Es waren Ansprachen und eine musikalische Umrahmung vorgesehen.

B erhob - mit drei weiteren Personen etwa fünfzig Meter vor der Gedenkmauer postiert - entlang des Hauptweges des Gedenkzuges ein Transparent mit dem Schriftzug: „Es gibt nichts zu trauern - nur zu verhindern. Nie wieder Volksgemeinschaft - destroy the spirit of Dresden. Den Deutschen Gedenkzirkus beenden. Antifaschistische Aktion". Das Transparent war für den vorbeiziehenden Trauerzug wenige Minuten sichtbar, bevor anwesende Polizeibeamte B dazu bewegten, das Transparent wieder einzurollen.

Mit Bußgeldbescheid vom 5. April 2012 setzte die Stadt Dresden eine Geldbuße in Höhe von 150,- € gegen B fest. Ihm wurde zur Last gelegt, durch das Zeigen des Transparents eine grob ungehörige Handlung im Sinne des § 118 I OWiG vorgenommen zu haben, die geeignet sei, die Allgemeinheit zu belästigen und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. Gegen diesen Bußgeldbescheid legte B fristgemäß Einspruch ein. Mit Urteil vom 9. November 2012 verurteilte ihn daraufhin das zuständige AG wegen vorsätzlicher Störung der Ruhe und Ordnung auf einem Friedhof in Tateinheit mit vorsätzlicher Belästigung der Allgemeinheit zu einer Geldbuße von 150,- €. B habe durch sein Verhalten Trauergäste gestört. Eine über die Bestattung oder Totenfeier hinausgehende Auseinandersetzung mit anstehenden Problemen habe zu unterbleiben. Die Hinterbliebenen und Gedenkenden hätten ein Recht darauf, dass sie ohne Einwirkung von Dritten auf dem Friedhof trauern und gedenken können. Auseinandersetzungen, egal in welcher Form, gehörten nicht auf einen Friedhof. Auch habe B durch das Entrollen des Transparents eine grob ungehörige Handlung gemäß § 118 I OWiG begangen, da er objektiv jenes Minimum an Regeln grob verletzt habe, welches unabdingbar notwendig sei, um innerhalb einer offenen Gesellschaft ein Zusammenleben vieler Menschen zu ermöglichen. Ein Friedhof stelle einen Rückzugsort für all diejenigen dar, die um Verstorbene trauern wollten. Damit sei es nicht vereinbar, wenn ein Friedhof zum Gegenstand von Auseinandersetzungen gemacht werde. Ohne ein Recht auf Bestattung und Erinnerung sei ein friedvolles Zusammenleben auch innerhalb einer demokratischen Gesellschaftsordnung nicht möglich. Wer diesen Verhaltenskodex in Frage stelle, greife dadurch nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Gesamtgemeinschaft an. Mit dem Entrollen des Transparents werde schließlich die Menschenwürde, welche über den Tod hinausreiche, angegriffen. Das Verhalten des B sei auch nicht durch dessen Versammlungsfreiheit gerechtfertigt. Zum einen sei die Versammlung nicht angemeldet gewesen, zum anderen gebe Art. 8 I GG überhaupt kein Recht, eine Versammlung auf einem Friedhof abzuhalten.

Sämtliche Rechtsmittel des B gegen die Verurteilung bleiben erfolglos.

Ist eine Verfassungsbeschwerde des B gegen die Verurteilung begründet?

A) Sound

Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung und umfasst auch provokative Äußerungen. Die Versammlungsfreiheit verschafft damit allerdings kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten; sie verbürgt die Durchführungen von Versammlungen dort, wo ein kommunikativer Verkehr eröffnet ist. Der Schutz des Art. 8 GG besteht unabhängig davon, ob eine Versammlung anmeldepflichtig und dementsprechend angemeldet ist. Er endet mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung.

B) Problemaufriss

Gerade in Zeiten, in denen „Randgruppen" vermehrt auf die Straße gehen und ihre Meinung kundtun, wird der Ruf der breiten Öffentlichkeit nach Versammlungsverboten für rechts- aber auch linksextreme Gruppierungen lauter. Insbesondere wenn Äußerungen von „israelkritisch" in „antisemitisch" umschlagen, ist es für die Bevölkerungsmehrheit oft unerträglich, wenn behördlicherseits gegen entsprechende Versammlungen nicht eingeschritten wird, sondern im Gegenteil diese Versammlungen zum Teil noch durch die Polizei vor Gegendemonstranten geschützt werden.

Insoweit ist es populär oder schon eher populistisch, Versammlungen solcher Extremisten zu verbieten -- obwohl die Behörden eigentlich wissen müssten, dass die entsprechenden Verbote gerichtlich kaum Bestand haben werden.

Anmerkung: Der Präsident des BVerwG, Herr Klaus Rennert, spricht in einem Interview mit der FAZ vom 13.08.2014 zu Recht davon, dass hier die Behörden den Gerichten den schwarzen Peter zuschieben.

Dementsprechend häufig müssen sich Verwaltungs- und Verfassungsgerichte mit der Thematik beschäftigen1 -- was wiederum die besondere Examensrelevanz dieser Materie erklärt.

C) Lösung

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit B durch die angegriffene gerichtliche Entscheidung tatsächlich in einem seiner Grundrechte verletzt wird.

I. Begrenzter Prüfungsmaßstab

Bei einer Urteilsverfassungsbeschwerde prüft das BVerfG nicht die Verletzung einfachen Rechts, sondern nur diejenige spezifischen Verfassungsrechts. Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz. Die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts ist grundsätzlich die Aufgabe der Fachgerichte. Das BVerfG prüft deren Auslegung nur darauf hin, ob sie die Grenze der Willkür überschreiten oder die Bedeutung eines Grundrechts grundsätzlich verkennen.2

II. Verletzung des Art. 8 I GG

Die angefochtene gerichtliche Entscheidung könnte die Versammlungsfreiheit des Beschwerdeführers, Art. 8 I GG, verletzen.

1. Schutzbereich des Art. 8 I GG

Die Zusammenkunft auf dem Heidefriedhof und das Entrollen des Transparents müssten unter den Schutz der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG fallen.

Begriff der Versammlung

Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung und umfasst auch provokative Äußerungen. Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen. Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen - schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes - im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen.

Anmerkung: So ist allgemein anerkannt, dass auch schweigend demonstriert werden kann. Einen sicherlich extremen Fall, der aber gleichwohl von Art. 8 I GG gedeckt ist, stellt es dabei dar, wenn sich die Versammlungsteilnehmer dabei den Mund zunähen3

nicht an jedem beliebigen Ort

Die Versammlungsfreiheit verschafft damit allerdings kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten. Insbesondere gewährt sie keinen Zutritt zu Orten, die der Öffentlichkeit nicht allgemein zugänglich sind oder zu denen schon den äußeren Umständen nach nur zu bestimmten Zwecken Zugang gewährt wird.

Die Versammlungsfreiheit verbürgt die Durchführungen von Versammlungen jedoch dort, wo ein kommunikativer Verkehr eröffnet ist; ausschlaggebend ist die tatsächliche Bereitstellung des Ortes und ob nach diesen Umständen ein allgemeines öffentliches Forum eröffnet ist.4

Schutz unabhängig von Anmeldung

Der Schutz des Art. 8 GG besteht unabhängig davon, ob eine Versammlung anmeldepflichtig und dementsprechend angemeldet ist. Er endet mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung.

hier: öffentliche Versammlung unter freiem Himmel!

Nach diesen Kriterien handelte es sich bei der Zusammenkunft, an der B teilgenommen hat, um eine Versammlung im Sinne des Art. 8 I GG. Die Zusammenkunft hatte den Zweck, gegen das Gedenken Stellung zu nehmen und mit einem Transparent gemeinsam Position gegen die Gedenkveranstaltung zu beziehen; hierbei handelte es sich um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung.

Anmerkung: Selbstverständlich ist eine „echte Gegendemo", die gerade die der zunächst stattfindenden Demo gegenläufige Meinung kundtun möchte, eine Versammlung im Sinne des Art. 8 I GG. „Wir sind anderer Meinung als Ihr" ist eben nun mal auch eine Meinungskundgabe. Anders verhält es sich dann, wenn das primäre Ziel der „Gegendemo" darin liegt, die Demo an der Kundgabe ihrer Meinung zu hindern. Dieses Verhalten wird nicht von Art. 8 I GG gedeckt.

Diese Unterscheidung ist wichtig im Hinblick auf die Frage, gegen wen zur Abwehr von Gefahren einzuschreiten ist. Während im letztgenannten Fall grundsätzlich nur gegen die „Gegendemo" vorgegangen werden darf, besteht im Fall einer „echten Gegendemo" ein Auswahlermessen der Behörde. Im Rahmen dieses Ermessens spielt der Gedanke „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst" eine wichtige Rolle, ist aber nicht das allein ausschlaggebende Kriterium.

Friedhof als öffentlicher Ort?

Fraglich ist allerdings, ob Art. 8 I GG auch das Recht umfasst, diese Versammlung gerade auf einem Friedhof abzuhalten.

Bei einem Friedhof handelt es sich jedenfalls in der Regel um einen Ort, der sowohl nach seiner Widmung als auch den äußeren Umständen nach nur für begrenzte Zwecke zugänglich ist und nicht als Stätte des allgemeinen öffentlichen Verkehrs und Ort allgemeiner Kommunikation anzusehen ist.

Der Widmungszweck des Friedhofs allein kann den Schutzbereich des Art. 8 I GG jedoch nicht begrenzen; insofern kommt es vielmehr darauf an, inwieweit tatsächlich allgemeine Kommunikation eröffnet ist oder nicht. Danach war in der vorliegenden Situation auf dem Friedhof ein kommunikativer Verkehr eröffnet. Durch den Gedenkzug, zu welchem öffentlich aufgerufen und der im Einverständnis mit den verantwortlichen Stellen durchgeführt worden war, wurde der Heidefriedhof jedenfalls am 13. Februar 2012 zu einem Ort allgemeiner öffentlicher Kommunikation. Der Gedenkzug diente nach der Ankündigung - über ein privates Gedenken hinaus - auch dazu, „ein Zeichen für die Überwindung von Krieg, Rassismus und Gewalt zu setzen" und nutzte so den Heidefriedhof an diesem Tage zu einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlich bedeutsamen Themen. Daher kann sich B jedenfalls an diesem Tage für seine Zusammenkunft auf den Schutz der Versammlungsfreiheit berufen, zumal sein Protest konkret auf das Anliegen des Gedenkzuges bezogen ist.

Anmerkung: Wenn wie hier die Stadt als Versammlungsbehörde selbst eine Versammlung auf dem Friedhof veranstaltet, ist es ein selbstverständliches Gebot der „Waffengleichheit", dieses Recht auch der Gegendemo zuzugestehen!

2. Eingriff in den Schutzbereich

Mit der strafgerichtlichen Verurteilung, die an das Abhalten der Versammlung auf dem Friedhof anknüpft, wird in den Schutzbereich des Art. 8 I GG eingegriffen.

3. Rechtfertigung des Eingriffs

Der Eingriff durch die Verurteilung wäre gerechtfertigt, soweit er auf einer verfassungsgemäßen Rechtsgrundlage beruht und diese auch verfassungsgemäß angewendet wurde.

a) § 118 OWiG als verfassungsgemäße Grundlage?

Die Verurteilung des B wird auf § 118 OWiG gestützt, sodass auch diese Vorschrift selbst verfassungsgemäß sein muss.

Fraglich ist insoweit die Bestimmtheit der Norm.

Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG

Maßstab ist das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG.

Diese Vorschrift fordert, dass die Strafbarkeit „gesetzlich bestimmt" ist. Jedermann soll vorhersehen können, welches Handeln mit welcher Strafe bedroht ist, und sein Verhalten entsprechend einrichten können. Welches Verhalten mit Strafe bedroht ist, lässt sich aber dann nicht vorhersehen, wenn das Gesetz einen Straftatbestand zu unbestimmt fasst.

Allerdings kann das Strafrecht nicht völlig darauf verzichten, allgemeine Begriffe zu verwenden, die nicht eindeutig allgemeingültig umschrieben werden können und die in besonderem Maße der Auslegung durch den Richter bedürfen. Art. 103 II GG verlangt daher nur innerhalb eines bestimmten Rahmens eine gesetzliche Umschreibung der Strafbarkeit.

Maß der Bestimmtheit Frage des Einzelfalls

Welchen Grad an gesetzlicher Bestimmtheit der einzelne Straftatbestand haben muss, lässt sich nicht allgemein sagen. Die erforderliche Gesetzesbestimmtheit hängt von der Besonderheit des jeweiligen Straftatbestandes und von den Umständen ab, die zu der gesetzlichen Regelung führen. Jedenfalls muss das Gesetz die Strafbarkeitsvoraussetzungen umso präziser bestimmen, je schwerer die angedrohte Strafe ist.5

Hieran gemessen ist § 118 OWiG hinreichend bestimmt. Zum einen handelt es sich nur um eine Ordnungswidrigkeit und nicht um eine schwere Strafe, zum anderen kann der Bürger im Allgemeinen voraussehen, in welchen Fällen die Gerichte § 118 OWiG anwenden werden, da hier auf eine fast 200 Jahre alte Rechtsprechung gefestigte zurückgegriffen werden kann.6

Anmerkung: § 118 OWiG gehört zum historisch überlieferten Bestand an Strafrechtsnormen. Die Vorgängerregelung in § 360 StGB „grober Unfug" war schon in § 340 Nr. 9 des preußischen Strafgesetzbuches vom 14. Mai 1851 enthalten. Sie wurde von dort in das geltende Strafgesetzbuch übernommen und dann in § 118 OWiG transferiert.

Angesichts dessen spricht das BVerfG in heutigen Entscheidungen die Bestimmtheit des § 118 OWiG überhaupt nicht mehr an, sondern setzt dessen Wirksamkeit ohne weitere Prüfung voraus. Da Sie aber ein vollständiges Gutachten abliefern müssen, sollten Sie sich wenigstens kurz mit der Wirksamkeit des § 118 OWiG und damit auch mit der Frage nach dessen Bestimmtheit auseinandersetzen.

b) Verfassungsgemäße Einzelfallanwendung

Da die der Verurteilung zugrundeliegenden Normen verfassungsgemäß sind, kommt es auf die verfassungsgemäße Anwendung im Einzelfall an.

Anmerkung: (Erst) An dieser Stelle wirkt sich der begrenzte Prüfungsmaßstab einer Urteilsverfassungsbeschwerde aus.

Das BVerfG prüft eben nicht, ob das Fachgericht die Rechtsgrundlage seiner Entscheidung richtig angewendet hat, sondern nur, ob es bei der Anwendung eigene Verfassungsverstöße begangen hat. Dies ist v.a. dann der Fall, wenn das Gericht bei der Anwendung des einfachen Rechts verkannt hat, dass hierbei Grundrechte einzustellen sind.

Das Amtsgericht geht hier davon aus, dass es deswegen an einer Versammlung fehle, weil diese nicht angemeldet worden war und überhaupt eine Versammlung auf einem Friedhof nicht zulässig sei.

Diese Auffassung ist mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 8 I GG nicht zu vereinbaren und verkennt den Schutzbereich dieses Grundrechts grundlegend. Eine Versammlung im Sinne des Art. 8 I GG hängt nicht von einer Genehmigung oder Anmeldung ab; auch die Einschlägigkeit des Versammlungsgesetzes hat keine Auswirkung darauf, ob der sachliche Schutzbereich des Versammlungsgrundrechts eröffnet ist.

etwaige Auflösung irrelevant

Auch der Umstand, dass mit der rechtmäßigen Auflösung einer Versammlung das Grundrecht aus Art. 8 I GG unanwendbar wird, führt hier nicht dazu, dass der Beschwerdeführer sich nicht auf den Schutz dieses Grundrechts berufen kann. Selbst wenn man in der Aufforderung durch die Polizisten, das Transparent einzurollen, eine Versammlungsauflösung sehen möchte, knüpft die Verurteilung des Beschwerdeführers doch an sein vorheriges Verhalten an. Der Schutz durch die Versammlungsfreiheit entfällt nur ab dem Zeitpunkt der Auflösung, wirkt aber nicht zurück.

Anmerkung: Außerdem wäre gerade fraglich, ob die Voraussetzungen einer Versammlungsauflösung vorlagen, § 15 III VersG.

Dass B im vorliegenden Fall auch das Recht hatte, gerade auf dem Friedhof eine Versammlung abzuhalten, wurde bereits festgestellt.

Das Amtsgericht hat damit zu Unrecht Art. 8 I GG nicht in seine Überlegungen eingestellt.

Abwägung mit Versammlungsfreiheit

Folglich hat das Amtsgericht auch nicht die gebotene Abwägung mit dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit vorgenommen.

Anmerkung: Da das Amtsgericht bereits den Fehler beging, Art. 8 I GG überhaupt nicht zu berücksichtigen, konnte es natürlich auch keine fehlerfreie Abwägung mit der Versammlungsfreiheit vornehmen. Die folgenden Ausführungen sind deshalb mehr als Vorgabe des BVerfG für die erneute Entscheidung durch das Amtsgericht zu verstehen.

Die Normen des Straf- wie auch des Ordnungswidrigkeitenrechts sind unter Beachtung der Wertentscheidungen der Grundrechte auszulegen und anzuwenden. Die staatlichen Organe haben die grundrechtsbeschränkenden Gesetze im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 I GG auszulegen und sich bei Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutz gleichwertiger anderer Rechtsgüter notwendig ist. Demnach ist bei der Entscheidung über eine Ordnungswidrigkeit bei Rechtsverstößen der Versammlungsteilnehmer deren grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit zu beachten und in die Abwägung einzustellen.

Auslegung des § 118 OWiG im Lichte des Art. 8 I GG

Für den in § 118 I OWiG verwendeten Begriff der öffentlichen Ordnung ist kennzeichnend, dass er auf ungeschriebene Regeln verweist, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebietes angesehen wird.

Daher hätte das Amtsgericht bei der Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffes der öffentlichen Ordnung jedenfalls die Versammlungsfreiheit des Beschwerdeführers in seine Entscheidungsfindung mit einbeziehen müssen und konkret die vorgenommene Auslegung unter Berücksichtigung von Art. 8 I GG überprüfen müssen. Es hätte einer Auseinandersetzung damit bedurft, warum die Ausübung des Versammlungsgrundrechts der öffentlichen Ordnung widerspricht, während auf dem Heidefriedhof zur gleichen Zeit eine große Gedenkveranstaltung, zu der öffentlich aufgerufen wurde und die über das Gedenken hinaus ein „Zeichen" setzen wollte, stattfindet und sich der Beschwerdeführer gezielt im Wege stillen Protests gegen diese wendet.

Ergebnis

Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts beruht auf diesen verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der sich aus Art. 8 I GG ergebenden Vorgaben bei erneuter Befassung zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen wird.

Die Verfassungsbeschwerde des B ist damit begründet.

D) Kommentar

(mg). Eine rundum überzeugende Entscheidung des BVerfG. Das Amtsgericht hat mit seiner Entscheidung Art. 8 I GG schlechthin verkannt und muss nun in einer erneuten Entscheidung unter Berücksichtigung der Vorgaben des BVerfG nachbessern.

Eine sehr interessante Frage konnte das BVerfG angesichts der eindeutigen Grundrechtsverletzungen des Amtsgerichts offen lassen: Wie weit kann überhaupt auf Verletzungen der öffentlichen Ordnung bei Durchführung einer Versammlung abgestellt werden? Die öffentliche Ordnung wird über ungeschriebene Ehtik- und Moralregeln breiter Bevölkerungsmehrheiten definiert. Kann aber wirklich die ungeschriebene Moralvorstellung der Mehrheit über ein Grundrecht dominieren? Dies ist mehr als fraglich, gerade wenn man betrachtet, dass Grundrechte eben Minderheitenrechte sind.

Rechtsprechung zu § 15 I VersammlG

Dementsprechend entspricht es der Rechtsprechung des BVerfG, dass eine Versammlung entgegen dem Wortlaut des § 15 I VersammlG nicht alleine wegen einer Verletzung der öffentlichen Ordnung verboten werden darf:

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf ein Verbot von Aufzügen oder Versammlungen nach § 15 VersG nur zum Schutz von Rechtsgütern, die der Bedeutung des Grundrechts aus Art. 8 Abs. 1 GG zumindest gleichwertig sind, unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgen. Eine bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung, das heißt von ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird, rechtfertigt demgegenüber im Allgemeinen ein Versammlungsverbot nicht".7

Die öffentliche Ordnung kann demnach Grund für eine Beschränkung der Versammlung, nicht aber für ein Verbot sein. Anknüpfungspunkt für die Beschränkung sind Art und Weise der Versammlung, nicht aber das Thema der Versammlung als solches. Diese Differenzierung kann insoweit auf § 118 OWiG übertragen werden. Es kann sicherlich eine Ordnungswidrigkeit darstellen, wenn B bspw. die Öffentlichkeitswirkung seiner Versammlung dadurch steigern möchte, dass er nackt demonstriert. Allein das Motto seiner Versammlung und die Meinungskundgabe als solche können aber nicht nach § 118 OWiG geahndet werden!

E) Zur Vertiefung

  • Zum Versammlungsrecht Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 232 ff.

F) Wiederholungsfrage

Erlaubt Art. 8 I GG Versammlungen an jedem beliebigen Ort?


  1. Aus den letzten Jahren: BVerfG, NVwZ-RR 2007, 641 ff. = Life & Law 2008, 123; OVG Lüneburg, NJW 2006, 391 = Life & Law 2006, 474; BVerfG, NVwZ 2008, 414 ff. = Life & Law 08/2008; BVerfG, DÖV 2011, 282 ff. = Life & Law 08/2011; VGH München, Beschluss vom 02.07.2012, 10 CS 12.1419 = Life & Law 01/2013; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06.11.2013, 1 S 1640/2 = Life & Law08/2014; alle Entscheidungen siehe auch jurisbyhemmer.

  2. Vgl. BVerfGE 18, 85, 93

  3. VGH München, Beschluss vom 02.07.2012, 10 CS 12.1419 = Life & Law 01/2013

  4. BVerfG NJW 2011, 1201 = Life & Law 04/2011

  5. BVerfGE 14, 245

  6. BVerfGE 26, 41

  7. BVerfG, DVBl. 2001, 558; BVerfGE 69, 315