Versammlungsauflösung II

Grundfall (nicht nur) für Anfangssemester, Öffentliches Recht

von Life and Law am 01.08.2014

+++ Versammlungsrecht +++ Auflösung einer Versammlung +++ Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts +++

Sachverhalt: In der Bundesrepublik kam es in letzter Zeit vermehrt zu Anschlägen aus der linksextremen Richtung. Hierbei gab es sowohl Sach- als auch Personenschäden.

Am 24.06.13 fand im Vereinsheim des „Freundeskreis Roter Stern e.V." ein Diskussionsabend zum Thema „Das Kapital: Unterdrücker und Würger der Menschheit" statt.

Zu dieser Diskussion hatten nur Mitglieder des Vereins Zutritt. Aufgrund polizeilicher Ermittlungen besteht der begründete Verdacht, dass dieser Verein womöglich selbst Attentate geplant hat oder zumindest in Kontakt mit den Drahtziehern steht.

Außerdem wurden in der Vergangenheit schon öfter Propagandaveranstaltungen als Diskussionsforen getarnt.

Daher dringt die Polizei kurz nach Beginn der Veranstaltung in das Vereinsheim ein und verweist sämtliche Anwesenden des Raumes.

Der Vorsitzende zeigte sich hierüber empört; schließlich lag keine richterliche Anordnung vor, außerdem sei die Versammlungsfreiheit im Grundgesetz garantiert.

Frage 1: Bestünde das notwendige besondere Feststellungsinteresse für eine Fortsetzungs-feststellungsklage?

Frage 2: War die Veranstaltungsauflösung rechtmäßig?

(Hinweis: Auf das Eindringen in das Gebäude ist nicht einzugehen.)

A) Sound

Das Zusammenspiel zwischen allgemeinem Polizei- und Sicherheitsrecht einerseits und dem Versamm-lungsrecht andererseits ist von besonderer Exa-mensrelevanz. Im hier vorliegenden Fall werden Sie die Besonderheiten kennenlernen, die mit einer nicht-öffentlichen Versammlung verbunden sind.

B) Gliederung

Teil 1: Besonderes Feststellungsinteresse (+)

Schwerer Grundrechtseingriff, Art. 13 GG

zudem Art. 8 GG.

Teil 2: Veranstaltungsauflösung

1. Rechtsgrundlage

BayVersG (-), da keine öffentliche Versammlung, Art. 2 III BayVersG.

Daher ausnahmsweise Art. 11 ff. PAG, beschränkt auf Gefahrenabwehr für Verfassungsgüter.

2. Formelle Rechtmäßigkeit (+)

Art. 2 I PAG, Art. 3 I POG.

3. Materielle Rechtmäßigkeit (+)

Art. 16 PAG:

Gefahr für Leib und Leben, soweit für innere Sicherheit der Bundesrepublik.

Maßnahme auch verhältnismäßig, da Kontakte zu Terroristen bekannt.

Zudem Verweisung einzelner Teilnehmer nicht ausreichend.

4. Ergebnis: Auflösung rechtmäßig

C) Lösung

Frage 1: Feststellungsinteresse

Das für die Fortsetzungsfeststellungsklage notwen-dige Feststellungsinteresse ist in folgenden Fall-varianten anerkannt:

  • Wiederholungsgefahr,
  • Rehabilitationsinteresse,
  • schwerer Grundrechtseingriff
  • und eingeschränkt auf die Erledigung nach Klageerhebung die Vorbereitung eines Amts-haftungsprozesses.

In Betracht käme hier u.a. die Wiederholungs-gefahr; jedoch fehlen hierfür notwendige Angaben im Sachverhalt, um von einer hinreichend konkre-ten Gefahr in diesem Sinne ausgehen zu können.

Für ein Rehabilitierungsinteresse fehlt es an der erforderlichen Öffentlichkeitswirkung.

hemmer-Methode: Typisch für diese Fallgruppe ist die Schilderung im Sachverhalt, dass die polizeilichen Maßnahmen von neugierigen Nachbarn oder sonstigen Gaffern beobachtet wurden.

In diesem Fall wird durch die Maßnahme das Ansehen des Betroffenen in der Öffentlichkeit herabgewürdigt und muss nun durch ein „korrigierendes" Gerichtsurteil wiederhergestellt werden.

Weiterhin steht jedoch eine schwere Grundrechts-verletzung im Raume.

Bei so tiefgehenden Eingriffen darf der Rechts-schutz nicht allein wegen Erledigung versagt werden.1

Betroffen könnte hier Art. 13 I GG sein. Dieses Grundrecht schützt auch die Privat- und Intim-sphäre des Betroffenen und besitzt daher eine gewichtige Stellung im Grundrechtskatalog.

Aufgrund der starken Stellung des Grund-rechts aus Art. 13 I GG ist ein Fortsetzungsfest-stellungsinteresse zu bejahen.

Zudem wurde auch in Art. 8 I GG eingegriffen. Auch dieses Grundrecht besitzt aufgrund seiner Funktion für eine lebende Demokratie eine he-rausgehobene Stellung. Ein Eingriff in Art. 8 I GG stellt deshalb ebenfalls einen das Feststellungs-interesse auslösenden besonders schweren Grund-rechtseingriff dar.

Frage 2: Rechtmäßigkeit der Auflösung

Die Auflösung war rechtmäßig, wenn hierfür eine Rechtsgrundlage besteht und die Auflösung formell und materiell gesetzmäßig erfolgte.

1. Rechtsgrundlage

Zu denken wäre an Normen des BayVersG. Hierzu müsste zunächst eine Versammlung vorliegen.

Dies ist gem. Art. 2 I BayVersG der Fall, wenn mindestens zwei Menschen zum Zwecke der gemeinsamen Meinungskundgabe zusammen-kommen.2

Vorliegend ist eine Versammlung gegeben, da die Teilnehmer zur gemeinsamen Meinungskund-gabe bzw. -bildung zusammenkamen.

In vorliegendem Fall wurden Zugangskontrollen durchgeführt, weshalb keine öffentliche Versamm-lung i.S.d. Art. 2 II BayVersG vorliegt. Gem. Art. 2 III BayVersG gilt dieses Gesetz aber grundsätzlich nur für öffentliche Versammlungen; eine solche ist hier aber gerade nicht gegeben.

Somit muss auf die allgemeinen Vorschriften i.S.d. Art. 11 ff. PAG zurückgegriffen werden.

hemmer-Methode: Soweit Vorschriften des BayVersG auch auf eine nicht-öffentliche Versammlung anwendbar sein sollen, muss dies ausdrücklich im Gesetz bestimmt sein.

Ein Beispiel hierfür ist Art. 7 I BayVersG, der ein Uniformverbot für „öffentliche oder nicht-öffentliche Versammlungen" beinhaltet.

Allerdings zeigt sich hier zunächst ein Wertungs-widerspruch. Die öffentlichen Versammlungen (unter freiem Himmel) stehen unter dem Schran-kenvorbehalt des Art. 8 II GG, der vom Gesetz-geber mit Erlass von BayVersG/VersammlG wahrgenommen wurde.

Die nichtöffentlichen Versammlungen dagegen, welche keinen Berührungspunkt mit der Außen-welt haben und welche nur nach Überwindung der Zugangskontrollen besucht werden können, sind nach dem Wortlaut des Art. 8 GG vorbehalt-los gewährleistet.

Insoweit wäre es widersprüchlich, diese ver-fassungsrechtlich stärker geschützten Vorschriften über die viel weiteren Vorschriften des PAG ein-zuschränken. Letztendlich würde dies bedeuten, dass die nicht-öffentlichen Versammlungen leichter eingeschränkt werden könnten als die öffentlichen.

Dieser Wertungswiderspruch entfällt auch nicht, weil der Kläger eine juristische Person darstellt. Der Verein als juristische Person kann sich wegen Art. 19 III GG auf Art. 8 GG berufen, wenn er als Organisator einer Veranstaltung auftritt.

Allerdings könnte eine Anwendung der Vor-schriften aus Art. 11 PAG trotzdem zulässig sein. Auch nicht-öffentliche Versammlungen sind nicht schrankenlos zulässig. Vielmehr findet Art. 8 GG wie jedes andere Grundrecht seine Schranken spätestens in kollidierendem Verfassungsrecht, sog. praktische Konkordanz. Dies bedeutet, dass die Art. 11 ff. PAG verfassungskonform auszulegen sind. Ein Zugriff auf eine nicht-öffentliche Versamm-lung darf nur zum Schutz kollidierender Verfas-sungsgüter erfolgen. Diese Auslegung ist grund-sätzlich möglich: Art. 11 ff. PAG schützen die öffentliche Sicherheit, zu der gerade auch wichtige Verfassungsgüter gehören.

Somit kommt als konkrete Rechtsgrundlage im Fall Art. 16 PAG in Betracht. Hier erfolgt keine Auflösungsverfügung, sondern ein Platzverweis.

hemmer-Methode: Durch die Auflösungsver-fügung wird die Versammlung zur bloßen An-sammlung, welche verfassungsrechtlich nicht gesondert geschützt ist und vom BayVersG nicht mehr erfasst wird. Bei dieser kann dann mittels Platzverweis gem. Art. 16 PAG des Platzes verwiesen werden, vgl. Fall 26.

Hier bedarf es dieses Umwegs jedoch nicht, da das BayVersG ohnehin nicht einschlägig ist. Die Maßnahme kann gleich auf Art. 16 PAG gestützt werden.

Zwischenergebnis

Mit Art. 16 PAG liegt daher eine taugliche Rechtsgrundlage vor.

2. Formelle Rechtmäßigkeit

Die sachliche Zuständigkeit ergibt sich auch aus Art. 2 I PAG, da die Polizei zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit handelt. Aufgrund der gegebenen Eilbedürftigkeit steht auch Art. 3 PAG der sachlichen Zuständigkeit nicht entgegen.

Die örtliche Zuständigkeit ist gem. Art. 3 I POG gewahrt.

3. Materielle Rechtmäßigkeit

Als Voraussetzung für einen Platzverweis muss eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorliegen.

Der Begriff „Öffentliche Sicherheit" umfasst dabei grundsätzlich die Unversehrtheit der Rechtsord-nung, grundlegende Institutionen des Staates, sowie wichtige Individualrechtsgüter.

Wie gezeigt ist hier die öffentliche Sicherheit als Schranke des Art. 8 I GG zu verstehen. Da als Schranke aber nur kollidierendes Verfassungs-recht in Betracht kommt, ist die öffentliche Sicherheit hier so auszulegen, dass eine Gefahr für kollektives Verfassungsrecht vorliegen muss.

Vorliegend sind bereits Anschläge erfolgt, welche auch zu Personenschäden geführt haben.

Eine fortschreitende Agitation könnte daher auch zu weiteren Anschlägen führen.

Somit besteht eine Gefahr für Leib und Leben, sowie für die innere Sicherheit der Bundesre-publik Deutschland.

Diese betroffenen Rechtsgüter haben Ver-fassungsrang, vgl. Art. 2 II S. 1, 20 IV GG.

Diese Verfassungsgüter sind auch hinreichend konkret gefährdet, da begründete Verdachtsmo-mente vorliegen, dass es sich nicht nur um eine sachliche Diskussion, sondern möglicherweise um eine Propagandaveranstaltung handelt. Weiter darf die Polizei davon ausgehen, dass die Organi-satoren entweder selbst bereits Attentate geplant oder aber Kontakt zu Terroristen gehabt haben.

Art. 16 PAG ist eine Ermessensnorm, sodass die Entscheidung der Polizei auf Ermessensfehler überprüft werden muss. Dabei ist insbesondere auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu achten, Art. 4 PAG.

Nachdem es sich um ein Treffen von Gleich-gesinnten handelt und alle Teilnehmer über das angekündigte Thema diskutieren wollen und werden, war es nicht ausreichend, einzelne Teil-nehmer zu verweisen.

Die Maßnahme erweist sich damit als verhältnis-mäßig. Andere Ermessensfehler i.S.d. § 114 S. 1 VwGO sind nicht ersichtlich.

4. Ergebnis

Somit war die Verweisung rechtmäßig.

D) Zusammenfassung

  • Schwerwiegende Grundrechtsverletzungen gewähren ein taugliches Feststellungs-interesse für die Fortsetzungsfeststellungs-klage auch ohne einen Öffentlichkeitsbezug.
  • Das BayVersG bezieht sich gem. Art. 2 III BayVersG nur auf öffentliche Veranstaltungen.
  • Auch nicht-öffentliche geschlossene Veranstaltungen können eingeschränkt werden. Hierbei ist auf Art. 11 ff. PAG zurückzugreifen, wobei hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit nur kollidierende Verfassungsgüter in Betracht kommen.

E. Zur Vertiefung

Hemmer/Wüst, Polizei- und Sicherheits-recht, Rn. 272 ff.

Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 232 ff.


  1. BVerfG, NJW 97, 2163; 1998, 669\

  2. BVerfG, NJW 2001, 2459