Präventives Versammlungsverbot in Gestalt einer Allgemeinverfügung

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06.11.2013, 1 S 1640/2

von Life and Law am 01.08.2014

+++ Allgemeinverfügung, § 35 S. 2 LVwVfG +++ Präventives Versammlungsverbot +++ Blockadeaktionen zur Verhinderung von politisch Missbilligtem +++ Polizeilicher Notstand +++

Sachverhalt (leicht abgewandelt und verkürzt): Auf dem Gebiet der Stadt Karlsruhe (Regierungsbezirk Karlsruhe, Stadtkreis Karlsruhe) soll ein Castortransport stattfinden. Die geplante Route führt den Transport unter anderem auch auf S-Bahn-Gleisen durch Wohngebiete der Stadt.

Die Stadt Karlsruhe erlässt am 08.02.2011 eine auf § 15 I VersG gestützte Allgemeinverfügung. In dieser werden unter Anordnung der sofortigen Vollziehung Versammlungen unter freiem Himmel für den Zeitraum vom 15.02.2011, 00:00 Uhr bis 16.02.2011, 24:00 Uhr verboten. Der räumliche Anwendungsbereich der Allgemeinverfügung wird auf einen Korridor von 50 m beiderseits entlang der Gleise festgelegt und in der Anlage zur Allgemeinverfügung graphisch näher ausgewiesen. Die Allgemeinverfügung wurde am 11.02.2011 im Amtsblatt der Stadt Karlsruhe bekannt gemacht. Eine Rechtsbehelfsbelehrung war nicht beigefügt.

In der Begründung wird angeführt, dass trotz bundesweiter Aufrufe verschiedener Organisationen zu Blockaden des Castortransportes entlang der gesamten Transportstrecke bisher lediglich zwei Mahnwachen auf dem Stadtgebiet angemeldet wurden. Es sei daher nicht möglich, Einzelverfügungen an die jeweils gem. § 14 II VersG Verantwortlichen zu erlassen, da eben noch keine Anmeldungen im Sinne des § 14 I VersG erfolgt sind. Insofern bliebe nur die gewählte Form der Allgemeinverfügung. Die Gefahrprognose ergebe sich aus einschlägigen Erfahrungen früherer Castortransporte. Zum Beleg dafür werden fünf Vorfälle detailliert aufgeführt, bei denen es zu erheblichen Behinderungen und Verzögerungen gekommen war. Demonstranten hatten sich dabei immer wieder an die Gleise gekettet, Sitzblockaden errichtet, Gegenstände auf die Gleise gelegt, den Zug mit Steinen, Flaschen und Farbbeuteln beworfen, sowie Widerstand gegen rechtmäßig handelnde Polizeibeamte geleistet. Demzufolge müsse auch bei diesem Castortransport mit massiven Störungen des Zuglaufs durch Blockadeaktionen und Einwirkungen auf den Schienenstrang oder den Transportzug selbst gerechnet werden.

Die Allgemeinverfügung sei in Anbetracht der Gefahrenprognose das mildeste Mittel, um die Transportsicherung zu gewährleisten. Der räumliche Gestaltungsbereich müsse in der Breite so gestaltet sein, um das Durchbrechen von Demonstranten und das Erreichen des Zuges mit Wurfgeschossen zu verhindern. Der zeitliche Umfang von 48 Stunden sei erforderlich, um eventuell auftretende zeitliche Verzögerungen ausgleichen zu können.

Am 05.07.2011 erhob der deutsche Staatsangehörige B -- ein umweltpolitisch engagierter Bürger der Stadt Karlsruhe, der gegen den streitgegenständlichen Castortransport demonstrieren wollte -- formgerecht Klage zum sachlich und örtlich zuständigen VG Karlsruhe. Er ist der Meinung, dass das mittels Allgemeinverfügung erlassene Versammlungsverbot zur Sicherung des Castortransportes rechtswidrig war. Seiner Meinung nach sei die Allgemeinverfügung schon nicht ordnungsgemäß bekannt gemacht worden, da sie nicht an die Bevölkerung ausgehändigt wurde. Dadurch sei die Rechtsschutzmöglichkeit der Bürger in unzulässiger Weise eingeschränkt. Außerdem sei die Allgemeinverfügung sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht unverhältnismäßig gewesen. Der betroffene Personenkreis sei zudem zu unbestimmt. Auch sei die Gefahrenprognose nicht auf vergleichbare Sachverhalte gestützt worden.

Letztlich habe auch gar kein polizeilicher Notstand vorgelegen, da die vorhandenen Polizeikräfte ausgereicht hätten, um etwaige rechtswidrige Versammlungen aufzulösen. Um die Annahme eines polizeilichen Notstandes zu rechtfertigen, hätte die Stadt Karlsruhe nämlich darlegen müssen, in welcher Zahl Polizeikräfte zur Sicherung des Castortransportes benötigt würden und wie viele tatsächlich zur Verfügung gestanden hätten.

In der Klageerwiderung weist die Stadt Karlsruhe die Vorwürfe von sich, räumt aber ein, dass bei Erlass der Allgemeinverfügung keine detaillierten Erkenntnisse zur Zahl der voraussichtlich benötigten und der tatsächlich zur Verfügung stehenden Polizeikräfte vorgelegen hätten. Bei vergangenen Castortransporten in und um die Stadt Karlsruhe konnten Störungen überwiegend durch ein gezieltes Vorgehen beseitigt werden.

Hat die Klage des B Aussicht auf Erfolg?

A) Sounds

1. Ein präventives Versammlungsverbot in Gestalt einer Allgemeinverfügung, welches auch friedliche Versammlungen erfasst, darf nur unter den Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes erlassen werden.

2. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines polizeilichen Notstandes liegt bei der Versammlungsbehörde.

B) Problemaufriss

Das Versammlungsrecht ist ein absoluter Dauerbrenner in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte.1 Nicht nur aus diesem Grund ist es von besonderer Examensrelevanz. Ursache dafür ist vor allen Dingen, dass das Versammlungsrecht dem Klausurersteller ermöglicht, nahezu die ganze Bandbreite des Pflichtprüfungsstoffs auszuschöpfen:

  • Polizei- und Sicherheitsrecht: Vorliegen einer Gefahr, Maßnahmerichtung
  • Allgemeines Verwaltungsrecht: Regelmäßig werden Maßnahmen gegenüber einer Versammlung für sofort vollziehbar erklärt, so dass Eilrechtsschutz geboten ist.2
  • Die Grundrechte aus Art. 8, 5 GG spielen gerade im Rahmen der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen eine elementare Rolle.
  • Kommunalrecht, soweit für die Maßnahmen nach dem Versammlungsgesetz die Gemeinde zuständig ist.

Im vorliegenden Fall geht es im Schwerpunkt um die Maßnahmerichtung -- Vorgehen gegen Nichtstörer -- sowie aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht -- Erlass eines Versammlungsverbots in Form einer Allgemeinverfügung.

C) Lösung

Die Klage des B hat Aussicht auf Erfolg, wenn die Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen und soweit die Klage in der Sache begründet ist.

I. Sachentscheidungsvoraussetzungen

Zunächst müsste der Rechtsweg nach § 40 I VwGO eröffnet sein.

1. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

Eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in diesem Sinne ist gegeben, da die streitentscheidenden Normen aus dem allgemeinen Sicherheitsrecht und Versammlungsrecht gemäß der Sonderrechtstheorie dem öffentlichen Recht angehören.

Mangels doppelter Verfassungsunmittelbarkeit handelt es sich auch nicht um eine Streitigkeit verfassungsrechtlicher Art. Da keine abdrängenden Sonderzuweisungen ersichtlich sind, ist der Verwaltungsrechtsweg gem. § 40 I S. 1 VwGO eröffnet.

2. Statthafte Klageart

Fraglich ist vorliegend die statthafte Klageart. Grundsätzlich richtet sich diese nach dem klägerischen Begehren, § 88 VwGO.

Der B wendet sich gegen das im Wege einer Allgemeinverfügung erlassene Versammlungsverbot.

Eine Allgemeinverfügung ist nach § 35 S. 2 LVwVfG ein Verwaltungsakt, der sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richtet oder die öffentlich-rechtliche Eigenschaft einer Sache oder die Benutzung durch die Allgemeinheit betrifft. Sie unterscheidet sich insoweit von einer Einzelverfügung, als sie nicht konkret-individuell, sondern konkret-generell ist. Zwar ist die Anzahl der Adressaten vorliegend unbestimmt, jedoch fehlt es möglicherweise am einzelfallregelnden Charakter. Immerhin bezog sich das Versammlungsverbot auf eine Vielzahl von Versammlungen. Allerdings liegt die Ursache aller innerhalb der Sperrzone verbotenen Versammlungen in dem konkreten Castortransport, sodass es sich dabei um einen einzelnen und konkret erkennbaren Lebenssachverhalt handelte. Außerdem ist die Verfügung örtlich und zeitlich begrenzt. Insofern hat die Allgemeinverfügung den geforderten konkret-generellen Charakter.

Gegen eine Allgemeinverfügung sind die gleichen Rechtsmittel zu erheben wie gegen einen „normalen" Verwaltungsakt. Eigentlich wäre daher die Anfechtungsklage nach § 42 I Alt. 1 VwGO statthafte Klageart. Vorliegend ist aber zu beachten, dass die Allgemeinverfügung nur für den Zeitraum vom 15.02.2011, 00:00 Uhr bis 16.02.2011, 24:00 Uhr Geltung besaß. Der Regelungsgehalt der Allgemeinverfügung war somit zeitlich begrenzt und ist folglich durch Zeitablauf mittlerweile weggefallen. Die Allgemeinverfügung hat sich daher schon vor Klageerhebung erledigt.

Insofern kommt als statthafte Klageart die Fortsetzungsfeststellungsklage gem. § 113 I S. 4 VwGO in Betracht. Dem Wortlaut nach ist diese aber nur für den Fall gedacht, in welchem sich der Verwaltungsakt nach der Klageerhebung erledigt. Daher ist zu klären, ob § 113 I S. 4 VwGO auf die vorliegende Konstellation analog anzuwenden ist oder ob nicht doch die allgemeine Feststellungsklage nach § 43 VwGO statthafte Klageart ist.

Für die allgemeine Feststellungsklage spricht, dass die Berechtigung der Behörde, die fragliche Allgemeinverfügung zu erlassen, zwar ein erledigtes, aber dennoch feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 I VwGO ist. Für die Anwendung der Subsidiaritätsklausel des § 43 II VwGO besteht für den Fall, dass die Allgemeinverfügung sich vor Klageerhebung erledigt hat, kein Bedarf, da keine Umgehungsgefahr der strengeren Anforderungen anderer Klagearten mehr besteht.

Je nach Erledigungszeitpunkt hinge es dann aber vom Zufall ab, ob eine Feststellungs- oder Fortsetzungsfeststellungsklage statthaft ist. Allerdings unterscheiden sich die beiden Klagearten zum Teil deutlich. So ist das Feststellungsinteresse im Rahmen der allgemeinen Feststellungsklage weiter als das Fortsetzungsfeststellungsinteresse der Fortsetzungsfeststellungsklage. Auch gilt im Rahmen der allgemeinen Feststellungsklage das allgemeine Rechtsträgerprinzip, wohingegen bei der Fortsetzungsfeststellungsklage § 78 VwGO analog angewendet wird. Im Hinblick auf die Unterschiede zwischen beiden Klagearten ist eine vom Zufall abhängige Statthaftigkeit der jeweiligen Klageart zu vermeiden. Nach alledem ist es überzeugender, für den Fall, dass sich die Allgemeinverfügung vor Klageerhebung erledigt, eine Analogie anzunehmen.

Insofern ist vorliegend die Fortsetzungsfeststellungsklage gem. § 113 I S. 4 VwGO analog statthafte Klageart.

3. Klagebefugnis, § 42 II VwGO analog

B müsste im Zeitpunkt der Erledigung nach § 42 II VwGO analog klagebefugt gewesen sein, da die Fortsetzungsfeststellungsklage voraussetzt, dass die Sachentscheidungsvoraussetzungen der ursprünglichen Anfechtungsklage gegeben sind.

Da B durch Allgemeinverfügung von einer Demonstration gegen den Castortransport abgehalten wurde, ist eine Verletzung der Rechte aus § 1 VersG, Art. 8 I, 5 I S. 1 GG zumindest möglich. B ist somit im Sinne des § 42 II VwGO analog klagebefugt.

4. Vorverfahren, § 68 I VwGO

Fraglich ist, ob zunächst erfolglos ein ordnungsgemäßes Vorverfahren nach § 68 I S. 1 VwGO durchgeführt werden muss. Im Rahmen einer herkömmlichen Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 I S. 4 VwGO in direkter Anwendung muss auch diese Sachentscheidungsvoraussetzung grundsätzlich gegeben sein, da es sich bei der Fortsetzungsfeststellungsklage in dieser Konstellation um eine umgestellte Anfechtungsklage handelt.

Anmerkung: Die direkte Anwendung des § 113 I S. 4 VwGO ist zwingend mit einer Klageänderung verbunden: Zunächst wurde eine Anfechtungsklage erhoben, die nach der Erledigung in eine Fortsetzungsfeststellungsklage umgestellt werden muss (siehe den Gesetzeswortlaut „auf Antrag"). Die Klageänderung ist nach § 91 VwGO i.V.m. § 173 VwGO, § 264 Nr. 2 ZPO immer zulässig.

Vorliegend hat sich die Allgemeinverfügung allerdings schon vor Ablauf der einmonatigen Widerspruchsfrist des § 70 I VwGO und vor Klageerhebung erledigt. In dieser Konstellation ist das Erfordernis eines erfolglos durchgeführten Widerspruchsverfahrens umstritten.

Für die Notwendigkeit der erfolglosen Durchführung eines Vorverfahrens spricht, dass vor Erledigung der Allgemeinverfügung eine Anfechtungsklage statthafte Klageart gewesen wäre.

Jedoch ist die Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 I S. 4 VwGO analog weniger einer Anfechtungsklage als vielmehr einer allgemeinen Feststellungsklage angenähert. Für diese ist aber gerade kein Vorverfahren vorgesehen. Dass der Behörde die Möglichkeit gegeben werden soll, ihr Verhalten nochmals selbst zu überprüfen, überzeugt nicht, da einer eventuellen Feststellung der Rechtswidrigkeit der Allgemeinverfügung keine Bindungswirkung zukommt. Das Argument, dass mit dem Widerspruchsverfahren dem Bürger eine zusätzliche Rechtsschutzmöglichkeit eingeräumt werden soll, kann unter dem Gesichtspunkt, dass Ziel des Vorverfahrens lediglich die Aufhebung eines Verwaltungsaktes ist, nicht gelten. Denn dieser hat sich ohnehin schon erledigt und kann folglich gar nicht mehr aufgehoben werden. Die zwangsweise Durchführung des Vorverfahrens wäre somit reiner Formalismus.

Daher ist im vorliegend gegebenen Fall der Erledigung der Allgemeinverfügung vor Klageerhebung im Rahmen der Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 I S. 4 VwGO analog die Durchführung eines Vorverfahrens nach § 68 I S. 1 VwGO nicht zu verlangen.

Anmerkung: Soweit Ihr Bundesland das Vorverfahren nach § 68 I S. 2 VwGO (weitgehend) abgeschafft hat,3 hat sich dieser Meinungsstreit erledigt. Wenn schon vor einer Anfechtungsklage kein Vorverfahren durchgeführt werden muss, dann erst recht nicht vor einer Fortsetzungsfeststellungsklage.

5. Klagefrist, § 74 VwGO analog

Fraglich ist, ob die Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 I S. 4 VwGO an die Frist des § 74 I S. 2 VwGO gebunden ist. Je nachdem, ob man der Fortsetzungsfeststellungsklage nun eine größere Ähnlichkeit zu einer Anfechtungsklage oder einer allgemeinen Feststellungsklage zuschreibt, spricht dies entweder für oder gegen die Notwendigkeit der Einhaltung einer Klagefrist.

Gegen das Erfordernis der Einhaltung einer Klagefrist spricht jedenfalls, dass der Sinn und Zweck einer solchen, nämlich durch Bestandskraft Rechtssicherheit zu schaffen, bei einer erledigten Allgemeinverfügung überhaupt nicht mehr erreicht werden kann. Der Streit müsste vorliegend aber gar nicht entschieden werden, wenn die Klagefrist ohnehin eingehalten worden wäre.

Da das Widerspruchsverfahren entfällt (s.o.), richtet sich die Klagefrist nach § 74 I S. 2 VwGO analog. Demnach ist grundsätzlich innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Allgemeinverfügung Klage zu erheben. Jedoch ist vorliegend zu beachten, dass im Rahmen einer Allgemeinverfügung eine Rechtsbehelfsbelehrung der Beteiligten nach § 58 I VwGO unterblieben ist. Somit gilt gem. § 58 II VwGO die einjährige Frist zur Einlegung von Rechtsbehelfen.

Die Klageerhebung durch B am 05.07.2011 war somit ohnehin in jedem Fall fristgerecht, sodass es einer Entscheidung des oben dargestellten Streits vorliegend nicht bedarf.

6. Fortsetzungsfeststellungsinteresse

Nach § 113 I S. 4 VwGO analog ist die Fortsetzungsfeststellungsklage nur dann zulässig, wenn der Kläger ein qualifiziertes Interesse an der Feststellung geltend machen kann. Ein solches kann sich ergeben aus

  • einer konkreten Wiederholungsgefahr,
  • einem Rehabilitationsinteresse,
  • einer schwerwiegenden Grundrechtsverletzung
  • sowie aus der Vorbereitung eines Amtshaftungsprozesses.

Ein Rehabilitationsinteresse des B scheidet vorliegend mangels Öffentlichkeitsbezug der Maßnahme gerade gegenüber B genauso aus wie die Vorbereitung eines Amtshaftungsprozesses.

schwerwiegender Grundrechtseingriff

In dem angegriffenen Versammlungsverbot könnte aber ein schwerwiegender Grundrechtseingriff zu sehen sein. Ein solcher ist deshalb zu bejahen, weil das Grundrecht der Versammlungsfreiheit durch das Verbot umfassend ausgeschlossen wird. Ein solcher Verstoß ist als schwerwiegend zu erachten, da die Versammlungsfreiheit für eine funktionierende Demokratie ein besonders wichtiges, unerlässliches Grundrecht ist.4

hinreichend konkrete Wiederholungsgefahr

Darüber hinaus könnte eine hinreichend konkrete Wiederholungsgefahr zu bejahen sein.

Der am Tag des Transports geplante Protest richtet sich nicht nur gegen den Betrieb von Atomkraftwerken an sich, sondern auch gegen den Umgang mit radioaktiven Abfallprodukten. Aufgrund dieser, eine Vielzahl von umweltpolitisch aktiven Personen bewegenden Sachverhalte, werden Castortransporte auch in Zukunft Anlass zu Versammlungen und zu nicht von der Versammlungsfreiheit gedeckten Protestaktionen geben, wie etwa der Blockade von Transportstrecken. Dabei ist nicht zu erwarten, dass die Stadt Karlsruhe von ihrer Rechtsauffassung abweicht und demzufolge zur Sicherung entsprechender Transporte auch in der Zukunft mit dem vorliegenden Sachverhalt vergleichbare Rechtshandlungen vornehmen wird.

Das Fortsetzungsfeststellungsinteresse ergibt sich dementsprechend zum einen aus einem schwerwiegenden Verstoß gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG und zum anderen aus der konkreten Wiederholungsgefahr.

7. Beteiligten- und Prozessfähigkeit, §§ 61, 62 VwGO

B ist gem. § 61 Nr. 1 Alt. 1 VwGO als natürliche Person beteiligtenfähig und nach § 62 I Nr. 1 als nach dem bürgerlichen Recht Geschäftsfähiger im Sinne des § 104 BGB auch prozessfähig.

Die Stadt Karlsruhe ist im Sinne des § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO als juristische Person des öffentlichen Rechts beteiligtenfähig und bei Vertretung gem. § 42 I S. 2 GemO durch ihren Oberbürgermeister, § 42 IV GemO, auch nach § 62 III VwGO prozessfähig.

8. Weitere Sachentscheidungsvoraussetzungen

Die Klage wurde dem Sachverhalt nach beim gem. § 45 VwGO sachlich und nach § 52 Nr. 1 VwGO, § 1 I Nr. 2 AGVwGO örtlich zuständigen VG Karlsruhe unter Beachtung der Formvorschriften nach §§ 81, 82 VwGO erhoben.

9. Zwischenergebnis

Die Sachentscheidungsvoraussetzungen der Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 I S. 4 VwGO analog sind gegeben.

II. Begründetheit

Die Fortsetzungsfeststellungsklage des B ist begründet, soweit die Klage sich gegen den richtigen Beklagten richtet, § 78 I Nr. 1 VwGO analog, das mittels Allgemeinverfügung erlassene Versammlungsverbot rechtswidrig war und B dadurch in subjektiven Rechten verletzt wurde, § 113 I S. 4 u. 1 VwGO analog.

1. Passivlegitimation, § 78 I Nr. 1 VwGO analog

Passivlegitimiert ist die Stadt Karlsruhe als Rechtsträgerin der erlassenden Behörde, § 78 I Nr. 1 VwGO analog.

2. Rechtmäßigkeit der Allgemeinverfügung

Weiterhin steht die Rechtmäßigkeit der Allgemeinverfügung in Frage.

a) Ermächtigungsgrundlage

Als taugliche Ermächtigungsgrundlage eines entsprechenden Versammlungsverbots kommt nur § 15 I VersG in Betracht. Insbesondere ein Rückgriff auf das allgemeine Polizei- und Sicherheitsrecht kommt aufgrund der Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts nicht in Frage.

b) Formelle Rechtmäßigkeit

Die für den Erlass sachlich zuständige Behörde ist gem. § 1 I VersGZuV die Kreispolizeibehörde. Die Stadtverwaltung des Stadtkreises Karlsruhe, § 3 I GemO, ist als untere Verwaltungsbehörde, § 15 I Nr. 2 LVG, die entsprechend sachlich zuständige Kreispolizeibehörde im Sinne des § 1 I VersGZuV. Die örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus § 2 VersGZuV.

öffentliche Bekanntgabe

Fraglich ist aber, ob die Allgemeinverfügung auch ordnungsgemäß bekannt gegeben wurde. Die Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes regelt grundsätzlich § 41 LVwVfG, sofern dieser nicht nach den Grundsätzen des LVwZG zugestellt wurde, § 41 V LVwVfG.

Vorliegend könnte die Allgemeinverfügung nach § 41 III LVwVfG öffentlich bekannt gegeben worden sein. Die öffentliche Bekanntgabe eines schriftlichen Verwaltungsaktes wird dadurch bewirkt, dass sein verfügender Teil ortsüblich bekannt gemacht wird, § 41 IV S. 1 LVwVfG. Mit der Bekanntgabe im Amtsblatt der Stadt Karlsruhe wurde die Allgemeinverfügung in diesem Sinne grundsätzlich ortsüblich bekannt gemacht.

Die öffentliche Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes ist nach § 41 III S. 1 LVwVfG aber nur möglich, wenn dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist. Eine solche Rechtsvorschrift ist nicht erkennbar.

Davon abweichend kann ein Verwaltungsakt aber auch dann öffentlich bekannt gegeben werden, wenn es sich bei diesem um eine Allgemeinverfügung handelt und eine Bekanntgabe an die Beteiligten untunlich ist, § 41 III S. 2 LVwVfG. Vorliegend steht die Bekanntgabe einer Allgemeinverfügung nach § 35 S. 2 LVwVfG in Frage (s.o.). Untunlich im Sinne des § 41 III S. 2 LVwVfG ist die individuelle Bekanntgabe an die Beteiligten dann, wenn diese wegen der Natur des in Frage stehenden Verwaltungsaktes nicht möglich ist oder jedenfalls mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden wäre. Aufgrund der Aufrufe im Internet zu verschiedensten Formen des Protests und Aktionen gegen den Castortransport, die größtenteils nicht mit entsprechenden Anmeldungen von Versammlungen einhergingen, war es der Stadt Karlsruhe nicht möglich, jedem potenziellen Veranstalter oder Teilnehmer die Allgemeinverfügung oder gar eine Einzelverfügung bekannt zu geben. Damit liegen die Voraussetzungen des § 41 III S. 2 LVwVfG vor.

Einer Aushändigung an die Bevölkerung, wie von B gefordert, bedurfte es daher nicht. Die Stadt Karlsruhe konnte die Allgemeinverfügung demnach gem. § 41 III S. 2 LVwVfG durch Bekanntmachung in ihrem Amtsblatt öffentlich bekannt geben.

Anmerkung: Da ohne wirksame Bekanntgabe der Verwaltungsakt nach § 43 I VwVfG überhaupt nicht wirksam wurde, ist es auch denkbar, diesen Aspekt nicht unter der formellen Rechtmäßigkeit, sondern bereits in der statthaften Klageart zu diskutieren -- lag bis zur Erledigung überhaupt ein wirksamer Verwaltungsakt vor?

Die Verbotsverfügung erweist sich damit als formell rechtmäßig.

c) Materielle Rechtmäßigkeit

Möglicherweise war die Untersagungsanordnung jedoch materiell rechtswidrig.

aa) Tatbestand des Art. 15 I VersG

Versammlungsbeschränkende Maßnahmen nach § 15 I VersG dürfen nur ergriffen werden, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel unmittelbar gefährdet ist.

öffentliche Versammlung unter freiem Himmel, Art. 8 I GG, § 1 I VersG

Eine Versammlung im Sinne des § 15 VersG ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Menschen. Nach dem engen Versammlungsbegriff bedarf es zur Annahme einer Versammlung aber zudem einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgabe. Davon abzugrenzen sind bloße Menschenansammlungen, denen eine gemeinsame Zweckverfolgung fehlt.

Vorliegend wurde die Ansammlung einer großen Anzahl von Menschen entlang der Bahntrasse befürchtet, die sich gemeinschaftlich gegen die Nutzung von Atomenergie und den Umgang mit den dadurch entstehenden Abfallprodukten aussprechen. Dabei schadet es nicht, dass nicht ersichtlich ist, ob Kundgebungen oder Ähnliches stattfinden sollen. Insofern ist nämlich sogar bloßes Schweigen als Meinungskundgabe anerkannt, sofern dieses einen Bezug zur öffentlichen Meinungsbildung aufweist.5

Demnach sind selbst die Voraussetzungen des engen Versammlungsbegriffes gegeben. Von einer Versammlung im Sinne des Art. 8 I GG kann im vorliegenden Fall daher ausgegangen werden.

Da die fraglichen Versammlungen der Öffentlichkeit frei zugänglich sein sollten, handelt es sich auch um Versammlungen unter freiem Himmel im Sinne des § 15 I VersG.

Darüber hinaus handelt es sich auch um öffentliche Versammlungen nach § 1 I VersG, weil deren Teilnehmerkreis nicht von vorneherein auf einen bestimmten Personenkreis abschließend beschränkt sein sollte.

Demnach ist von Versammlungen im Sinne des § 15 I VersG auszugehen.

unmittelbare Gefährdung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung

Es müsste weiterhin nach den zur Zeit des Erlasses der Allgemeinverfügung erkennbaren Umständen eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung vorgelegen haben.

Gefahr ist ein Zustand, der bei ungehindertem Ablauf des nach allgemeiner Lebenserfahrung zu erwartenden Geschehens in absehbarer Zeit den Eintritt eines Schadens an einem polizeilichen Schutzgut erwarten lässt.

Das von der Gefährdung betroffene polizeiliche Schutzgut könnte vorliegend die öffentliche Sicherheit sein. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst den Schutz zentraler Rechtsgüter wie des Lebens, der Gesundheit, der Freiheit, der Ehre, des Eigentums und des Vermögens jedes Einzelnen, sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen.

An die Gefahrprognose sind aufgrund der Bedeutung der Versammlungsfreiheit strenge Anforderungen zu stellen. Dem trägt das Unmittelbarkeitskriterium ausreichend Rechnung. Eine unmittelbare Gefährdung meint dabei nicht nur die besondere zeitliche Nähe des Schadenseintritts, sondern vor allem dessen besonders hohe Wahrscheinlichkeit.

Eine das Versammlungsrecht beschränkende Verfügung darf demnach nur ergehen, wenn bei Verfügungserlass nach verständiger Würdigung aller erkennbarer Umstände die Durchführung einer Veranstaltung im geplanten Rahmen mit hoher, an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nach sich zieht.

In diesem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, ob von B selbst oder einer der angemeldeten Versammlungen potenziell eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit befürchtet wurde. Denn die Allgemeinverfügung richtete sich nicht nur an B oder eine bestimmte Versammlung, sondern generell an alle potenziellen Versammlungsteilnehmer. Folglich ist im Rahmen einer Gesamtbetrachtung festzustellen, ob aus dem Kreis aller Versammlungsteilnehmer entlang der Transportstrecke eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu erwarten war.

Gefährdung elementarer Rechtsgüter

Aufgrund früherer Verhaltensweisen von Demonstranten bei vergangenen Castortransporten konnte davon ausgegangen werden, dass auch bei diesem Transport elementare Rechtsgüter gefährdet sein würden. Dafür sprechen auch die zahlreichen Aufrufe im Internet zum Widerstand gegen den aktuell geplanten Castortransport.

Eine Sitzblockade auf einer dem öffentlichen Eisenbahnverkehr dienenden Schienenstrecke kann als gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr gem. § 315 StGB strafbar sein.

Aktionen, die nicht nur kurzfristig und symbolisch Protest ausdrücken sollen, sondern auf die Verhinderung dessen gerichtet sind, was von den Teilnehmern politisch missbilligt wird, sind grundsätzlich nicht vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 I GG gedeckt. Dieser erfasst lediglich die Teilhabe an der Meinungsbildung, nicht aber die zwangsweise Durchsetzung eigener Forderungen.

Auch wenn Sitzblockaden bei passiver Handlung der Teilnehmer nicht pauschal als unfriedlich anzusehen sind und für sie folglich der Schutz des Art. 8 I GG nicht von vorneherein entfällt, erreichen sie den Bereich der geistigen Auseinandersetzung dann nicht, wenn sie sich nicht als demonstrative Sitzblockaden, die auf die Kundgabe einer Meinung und die Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für ein kommunikatives Anliegen gerichtet sind, darstellen, sondern bloß auf die Beeinträchtigung der Rechte anderer und die Ausübung von Zwang gerichtet sind. Art. 8 GG umfasst nicht das Recht, die öffentliche Aufmerksamkeit für Demonstrationsanliegen durch gezielte und absichtliche Behinderung der Rechte Dritter zu steigern.

Der Versammlung könnte es zudem am friedlichen Charakter fehlen, wodurch der Schutz des Art. 8 I GG verloren ginge. Unfriedlich ist eine Versammlung, wenn ein gewalttätiger oder aufrührerischer Verlauf angestrebt ist.

Gewalttätig meint dabei die aggressive, nicht unerhebliche körperliche Einwirkung auf Personen oder Sachen. Das befürchtete Bewerfen des Zuges mit Steinen, Flaschen und Farbbeuteln könnte als nach § 303 StGB strafbare Sachbeschädigung gewertet werden. Diese Handlungen können daher nicht als bloß unerhebliche Einwirkungen auf den Zug als Sache angesehen werden. Sie sind als gewalttätig in diesem Sinne einzustufen.

Zudem könnte auch die Verwirklichung des Merkmals des aufrührerischen Verhaltens zu befürchten sein. Aufrührerisch ist der aktive gewaltsame Widerstand gegen rechtmäßig handelnde Vollstreckungs- oder Polizeibeamte. Genau dies ist bei vergangenen Castortransporten mehrfach vorgefallen. Insofern besteht auch diesbezüglich einer konkrete Wiederholungsgefahr.

Die zu erwartenden Versammlungen können daher nicht mehr als friedlich eingestuft werden, sondern müssen als potenziell unfriedlich bewertet werden. Die befürchteten Verstöße gegen § 315 StGB durch Blockadeaktionen auf dem Schienenstrang und gegen § 303 StGB durch das Bewerfen des Zuges mit Gegenständen, sowie der zu erwartende Widerstand gegen Polizeibeamte stellen daher eine nicht hinzunehmende unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar.

aber auch friedliche Versammlungen erfasst

Allerdings ist zu beachten, dass das Versammlungsverbot in Form einer Allgemeinverfügung erlassen wurde und damit auch solche Teile der Versammlungen erfasst, welche als friedlich anzusehen sind.

Durch die Allgemeinverfügung wurde auch die Versammlungsfreiheit von Demonstranten beschränkt, die nicht die Absicht hatten, sich an durch Art. 8 I GG nicht gedeckten Verhinderungsblockaden oder anderen rechtswidrigen Aktionen zu beteiligen. Zerfällt die Versammlung aber in friedliche und unfriedliche Gruppen, so kommt das Grundrecht der Versammlungsfreiheit uneingeschränkt zu Gunsten der friedlichen Gruppe zur Geltung.

Soweit Rechtsgüter durch Dritte, die nicht im Rahmen der von Art. 8 I GG geschützten Versammlung handeln, gefährdet werden, hat die Behörde zunächst gegen diese vorzugehen.

Voraussetzung des Einschreitens gegen eine friedliche Versammlung ist eine hohe Wahrscheinlichkeit in der Gefahrenprognose, sowie die vorherige Ausschöpfung aller anwendbaren Mittel, um eine Grundrechtsverwirklichung der friedlichen Demonstranten zu ermöglichen.

Da die Allgemeinverfügung vorliegend aber auf ein vollständiges Verbot auch von friedlichen Teilen der Versammlungen gerichtet war, wäre diese nur dann rechtmäßig, wenn die Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes vorgelegen hätten.

polizeilicher Notstand

Die Rechtsfigur des polizeilichen Notstandes setzt voraus, dass die Gefahr auf andere Weise nicht abgewehrt und die Störung auf andere Weise nicht beseitigt werden kann, weil die Versammlungsbehörde nicht über ausreichende eigene, eventuell durch Amts- und Vollzugshilfe ergänzte Mittel und Kräfte verfügt, um die gefährdeten Rechtsgüter wirksam zu schützen.

Dies setzt voraus, dass die Versammlungsbehörde mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anderenfalls wegen der Erfüllung vorrangiger staatlicher Aufgaben und trotz des Bemühens, gegebenenfalls externe Polizeikräfte hinzuzuziehen, zum Schutz des Castortransportes und der friedlichen Demonstranten nicht in der Lage wäre. Dabei reicht eine pauschale Behauptung dieses Inhalts nicht aus. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines polizeilichen Notstandes liegt bei der Versammlungsbehörde.

Daran gemessen kann hier nicht festgestellt werden, dass die Voraussetzungen eines polizeilichen Notstandes vorlagen. Zwar stellt die Begleitung eines Castortransportes angesichts der regelmäßig langen Transportstrecke und der großen Zahl angemeldeter und unangemeldeter Versammlungen und sonstiger Aktionen mit zum Teil sehr vielen Teilnehmern eine außergewöhnlich komplexe polizeiliche Maßnahme dar. Allein dies vermag jedoch noch keinen polizeilichen Notstand zu begründen.

Zu Situationen, die die Annahme eines polizeilichen Notstandes rechtfertigen, kam es bei Castortransporten in der Vergangenheit in und um die betroffene Stadt Karlsruhe bisher nicht. Dementsprechend konnte auch beim vorliegenden Castortransport nicht davon ausgegangen werden, dass ein solcher eintreten würde. Auch bei den von der Stadt Karlsruhe dargelegten, der Gefahrprognose zugrunde gelegten Vorfällen, war nicht von einem polizeilichen Notstand ausgegangen worden. Vielmehr konnten Störungen überwiegend durch ein gezieltes Vorgehen gegen die Störer beseitigt werden, ohne dass es zu nennenswerten Verzögerungen des jeweiligen Castortransportes gekommen wäre.

Die Stadt Karlsruhe konnte nicht darlegen, in welcher Zahl ihre Polizeikräfte zur Sicherung des Castortransportes und der friedlichen Versammlungen in ihrem Zuständigkeitsbereich zur Verfügung standen und wie viele Polizeibeamte voraussichtlich erforderlich gewesen wären, um ohne ein präventives allgemeines Versammlungsverbot Störungen der öffentlichen Sicherheit im Zusammenhang mit dem Castortransport zu verhindern.

Der Beweislastregel folgend kann daher nicht vom Vorliegen eines polizeilichen Notstandes ausgegangen werden.

Demzufolge hätte die Stadt Karlsruhe zunächst gegen Dritte, die nicht im Rahmen der von Art. 8 I GG geschützten Versammlungen handeln, vorgehen müssen. Die Versammlungsbehörde hat nicht zunächst alle in Frage kommenden Mittel ausgeschöpft, um eine Grundrechtsverwirklichung der friedlichen Demonstranten zu ermöglichen.

bb) Zwischenergebnis

Das Versammlungsverbot nach § 15 I VersG war in Form einer Allgemeinverfügung demnach materiell rechtswidrig.

cc) Bestimmtheit, § 37 IVwVfG

Möglicherweise ist die Allgemeinverfügung außerdem nicht bestimmt genug im Sinne des § 37 I LVwVfG. Für die inhaltliche Bestimmtheit ist erforderlich, dass aus dem gesamten Inhalt des Verwaltungsaktes und dem Zusammenhang, vor allem aus der Begründung und der den Beteiligten bekannten Umständen des Erlasses, im Wege einer an den Grundsätzen von Treu und Glauben ausgerichteten Auslegung hinreichend Klarheit über den Regelungsgehalt gewonnen werden kann. Hierbei ist entsprechend § 133 BGB auf den objektiven Empfängerhorizont abzustellen.

Durch die Angabe des § 15 I VersG als Rechtsgrundlage und die Verwendung des unbestimmten Rechtsbegriffes der Versammlung unter freiem Himmel war aber hinreichend klar, welche Verhaltensweisen von dem Versammlungsverbot erfasst waren. Der räumliche Geltungsbereich der Anordnung wurde durch die Anlage zum Bescheid hinreichend bestimmt.

Gegebenenfalls hätte es jedoch einer konkreten Benennung des Adressatenkreises der Allgemeinverfügung bedurft. Allerdings kann der Adressatenkreis vorliegend schon aus dem Regelungsgehalt der Allgemeinverfügung entnommen werden. Adressat war demnach jede Person, die innerhalb des räumlichen und zeitlichen Geltungsbereichs der Allgemeinverfügung an einer Versammlung unter freiem Himmel teilnahm. Der Adressatenkreis war somit nach allgemeinen Merkmalen bestimmbar. Einer konkreten Bezeichnung der betroffenen Adressaten bedurfte es daher nicht mehr.

Das Bestimmtheitsgebot des § 37 I LVwVfG steht der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes damit nicht entgegen.

3. Subjektive Rechtsverletzung

Als Deutscher im Sinne des Art. 116 I GG ist B vom Schutzbereich des Art. 8 I GG erfasst. Durch die Verbotsverfügung wird in von § 15 I VersG nicht gedeckter Weise in den Schutzbereich der grundrechtlich garantierten Versammlungsfreiheit eingegriffen. Damit ist B in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG bzw. § 1 VersG verletzt.

III. Ergebnis

Die Fortsetzungsfeststellungsklage des B nach § 113 I S. 4 VwGO analog ist demzufolge auch begründet. Sie hat Aussicht auf Erfolg.

D) Kommentar

(mg). Ein zwingendes Ergebnis. Angesichts der Bedeutung der Versammlungsfreiheit kann es auf keinen Fall angehen, pauschal und ohne jegliche Einzelfallbetrachtung sämtliche Versammlungen, die möglicherweise in einem bestimmten Zeitraum an einem bestimmten Ort stattfinden werden, zu verbieten. Es ist den staatlichen Stellen zumutbar, den konkreten Ablauf des Castortransportes abzuwarten und dann vor Ort über das Verbot der jeweiligen Versammlung zu entscheiden.

Jedes andere Ergebnis würde die Versammlungsfreiheit friedlicher Demonstranten unverhältnismäßig beschränken. Nur weil voraussichtlich auch gewalttätige Aktionen Dritter stattfinden werden, darf die Versammlungsfreiheit friedlicher Demonstranten auf keinen Fall vollständig ausgeschlossen werden.

E) Zur Vertiefung

  • Zum Versammlungsrecht

Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 232 ff.

F) Wiederholungsfragen

  1. Wann ist eine Versammlung unfriedlich?
  2. Wie viele Teilnehmer muss eine Versammlung aufweisen?

  1. Aus den letzten Jahren: BVerfG, NVwZ-RR 2007, 641 ff. = Life & Law 2008, 123; OVG Lüneburg, NJW 2006, 391 = Life & Law 2006, 474; BVerfG, NVwZ 2008, 414 ff. = Life & Law 08/2008; BVerfG, DÖV 2011, 282 ff. = Life & Law 08/2011; VGH München, Beschluss vom 02.07.2012, 10 CS 12.1419 = Life & Law 01/2013; alle Entscheidungen siehe auch jurisbyhemmer.

  2. In Bayern ist dies kraft Gesetzes der Fall, vgl. Art. 25 BayVersG.

  3. Für Bayern vgl. Art. 15 II AGVwGO.

  4. BVerfGE 110, 77 ff.

  5. VGH München, Beschluss vom 02.07.2012, 10 CS 12.1419 = Life & Law 01/2013