Rechtsprobleme im Fall Gustl Mollath

Von RA Dr. Bernd Berberich und Tim Löper

von Life and Law am 01.12.2013

+++ Schuldfähigkeit +++ Maßregeln der Besserung und Sicherung +++ Wiederaufnahme des Verfahrens +++ Sachverständigengutachten +++

A) Einleitung

Der Fall des Gustl Mollath wurde in der jüngsten Zeit zu einem Fanal für die öffentliche Kritik am Justizsystem. Gegen Mollath wurden im Jahr 2005 Maßregeln zur Besserung und Sicherung verhängt und er wurde in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Nachdem 2012 neue Beweismittel hinsichtlich der ihm zur Last gelegten Taten gegen seine Ehefrau bekannt wurden, brandete eine mediale Welle der Empörung gegen die Unterbringung Mollaths auf, die in der erneuten Aufrollung des Falles gipfelte. Neben der Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens durch das OLG Nürnberg1 entschied das BVerfG zugunsten Mollaths,2 indem es die Unterbringung für verfassungswidrig befand. Abseits der in dem emotionalen öffentlichen Diskurs aufgedeckten vermeintlichen und tatsächlichen Justizfehler und verschiedener politischer Einmischungen3 wirft der Fall Mollath auch interessante strafprozessuale, straf- und verfassungsrechtliche Probleme auf. Diese berühren Themengebiete, die zum Ausbildungsstoff gehören und jedenfalls hinsichtlich ihrer Grundlagen beherrscht werden sollten. Außerdem erscheint es nicht ausgeschlossen, dass in mündlichen Prüfungen aufgrund des Medienechos der Fall Mollath als thematischer Ausgangspunkt gestellt wird.

B) Ausgangsverfahren

Für das Verständnis des Falles Mollath ist zunächst die Erörterung des Ausgangsfalles, wie ihn das LG Nürnberg-Fürth zu beurteilen hatte, Voraussetzung.4

I. Festgestellter Sachverhalt

Im Jahr 2001 misshandelte M seine Ehefrau F mehrfach. Bei einem Vorfall schlug er etwa 20 Mal auf ihren gesamten Körper ein und würgte sie anschließend bis zur Bewusstlosigkeit. Während der Schläge biss er F außerdem in den Arm, wodurch eine Wunde zurückblieb. Als F am Boden lag, trat M mindestens drei Mal mit Füßen auf sie ein, wobei er mit leichten Mokassins bekleidet war. F trug diverse Hämatome und Abschürfungen, insbesondere Würgemale am Hals, Prellungen im Kopfbereich und besagte Bisswunde davon.

Auf diese Vorfälle folgend ließ sich F von M scheiden. Daraufhin kam es 2002 zu einem weiteren Vorfall, als sie ihre Habe aus der gemeinsamen Wohnung holen wollte. M setzte sie bei dieser Gelegenheit zwei Stunden lang fest und hinderte sie am Verlassen der Wohnung, ehe sich F befreien konnte.

Zwischen 2004 und 2005 zerstach M Reifen an Fahrzeugen verschiedener Personen. Diese hatten alle einen Bezug zur Scheidungs- bzw. Trennungssituation von seiner Ehefrau. Es entstand ein Sachschaden von 7.000,- €.

M selbst gab an, die Taten seien auf eine Verschwörung gegen ihn zurückzuführen. F sei bei der Bank, bei der sie arbeite, in Schwarzgeldverschiebungen verwickelt und lege es darauf an, Beweise hierfür, die in M's Besitz sind, zu erlangen. Er, M, wehre sich durch seine Taten nur gegen die verschwörerischen Machenschaften.

II. Beweismittel

Dem urteilenden Gericht standen nur wenige Beweismittel, die im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung gem. § 261 StPO einzustellen waren, zur Verfügung. Allen voran stützte es sich auf die Aussagen der F. Diese beschrieb das immer eigentümlicher werdende Verhalten ihres ehemaligen Ehemannes in der jüngeren Vergangenheit und die Vorfälle, wie sie im Sachverhalt geschildert sind. Dabei zweifelte das Gericht nicht an der Glaubwürdigkeit der F, da sie alle Vorgänge ruhig und ohne Belastungseifer darlegte.

Überdies lag dem Gericht ein ärztliches Attest vor, das -- auf den 03.06.2002 datiert -- die Verletzungen der F nach dem Vorfall eingehend dokumentiert. Das Attest trägt den Praxisstempel der Praxis Dr. Madeleine R. Dieser Name ist auch unter der Unterschrift M. R. angebracht.

Das aggressive Verhalten des M in einer anderen Situation wird ebenfalls durch F geschildert und durch ihren Bruder bestätigt.

M selbst nahm in seiner Vernehmung zu den Vorwürfen nicht direkt Stellung. Er zog sich auf die Behauptung zurück, er habe sich gegen einen Angriff seiner Frau nur gewehrt, wobei der tätliche Streit sich an den Schwarzgeldverstrickungen seiner Frau entzündet habe.

Hinsichtlich der zerstochenen Autoreifen stützt sich das Gericht auf den Bezug aller Geschädigten zu F und M. Zudem, so ergab die Beweisaufnahme, deute das Vorgehen auf einen Reifenfachmann hin, was der früheren Tätigkeit des M entspricht. Schließlich existieren Videoaufnahmen, die eine Täterschaft des M aufgrund von Kleidung und Bewegungsablauf nahelegen.

III. Rechtliche Würdigung des vorgeworfenen Sachverhalts

Fraglich ist, ob und wie sich M auf Grundlage dieser Feststellungen strafbar gemacht hat. Dabei ist zunächst die rechtswidrige Tatbestandsverwirklichung in den Blick zu nehmen. Zunächst außer Acht und einer gesonderten Betrachtung vorbehalten bleibt die Schuld des M.

In Betracht kommt zunächst die rechtswidrige Begehung einer gefährlichen Körperverletzung gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2, 5 StGB, indem M seine Frau schlägt, würgt und auf sie eintritt. Durch die belegten Verletzungen wurde F i.S.d. § 223 I StGB körperlich misshandelt. Körperliches Wohlbefinden und körperliche Unversehrtheit sind durch die üble und unangemessene Behandlung durch M mehr als nur unerheblich beeinträchtigt. F wird durch das Hervorrufen eines pathologischen Zustandes auch an ihrer Gesundheit geschädigt.5

Soweit damit der objektive Tatbestand des § 223 I StGB erfüllt ist, ist fraglich, ob eine Qualifikation gem. § 224 StGB einschlägig ist. Die Verwendung eines gefährlichen Werkzeuges gem. § 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB scheidet hinsichtlich des Schuhwerks des M aus. Die Norm erfasst alle beweglichen Sachen, die sowohl ihrer abstrakten Beschaffenheit nach, als auch in der konkreten Tatsituation geeignet sind, erhebliche Verletzungen hervorzurufen.6 Leichtes Schuhwerk wird mangels abstrakter Verletzungseignung nach der h.M. aus dem Anwendungsbereich der Norm ausgeklammert, wenn die Tritte nicht gegen besonders empfindliche Körperregionen ausgeführt werden.7 Erfüllt ist dagegen § 224 I Nr. 5 StGB. Ein Würgen, das derart stark ist, dass es zur Bewusstlosigkeit führt, ist sowohl abstrakt als auch konkret lebensbedrohend. Der entsprechende Streit, welcher Gefährdungsgrad zur Verwirklichung erforderlich ist, kann damit dahinstehen;8 § 224 I Nr. 5 StGB ist nach allen Ansichten erfüllt. M handelt mit zielgerichtetem Erfolgswillen, mithin absichtlich. M hat Vorsatz. Der Tatbestand der §§ 223 I, 224 I Nr. 5 StGB ist erfüllt.

hemmer-Methode: Da Vorsatz den natürlichen Willen oder das Wissen des Täters voraussetzt, ändert eine eventuelle Schuldunfähigkeit nichts am Vorliegen des Vorsatzes.9

M handelt auch rechtswidrig. Die von ihm behauptete Verteidigungssituation ist nicht genügend substantiiert dargelegt, um auf eine Rechtfertigung schließen zu können.

Als er seine Frau am Verlassen des Hauses hinderte, verwirklichte M zudem eine Freiheitsberaubung gem. § 239 I StGB. Indem er sich vor die Tür stellt, hebt er die Fortbewegungsfreiheit der F für eine mehr als nur unerhebliche Zeitspanne gegen ihren Willen vollständig auf. Dadurch beraubt er sie in anderer Weise als durch Einsperren -- diese Alternative erfasst nur die Verhinderung der Fortbewegung durch äußere Vorrichtungen -- ihrer Freiheit.10 Er tut dies vorsätzlich und auch rechtswidrig.

Schließlich sind mehrere Sachbeschädigungen gem. § 303 I StGB einschlägig. Da er ihre Substanz beeinträchtigt, beschädigt M die Reifen der Fahrzeuge.

Anmerkung: Nach § 303c StGB ist für letzteres Delikt ein Strafantrag erforderlich. Diesen zu stellen ist gem. § 77 I StGB zunächst der Geschädigte gehalten. Teilweise wurde im Fall kein Strafantrag gestellt. Bei § 303c StGB handelt es sich aber um ein sog. relatives Antragsdelikt. Der Strafantrag ist bei diesen keine unverzichtbare Verfolgungsvoraussetzung.11

Soweit ein Strafantrag nicht gestellt wurde, kann die Staatsanwaltschaft bei einem besonderen öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung eine Straftat von Amts wegen verfolgen.

C) Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus

Die tatbestandsmäßige und rechtswidrige Deliktsverwirklichung stand so im Ausgangsverfahren fest. Problematisch war aber die Beurteilung der Schuld des M. Es bestanden erhebliche Zweifel an der Schuldfähigkeit des M. Das Gericht gelangte zu der Überzeugung, dass bei M im Tatzeitpunkt die Voraussetzungen des § 20 StGB vorlagen, er also schuldunfähig war. Deshalb schied letztlich eine Verurteilung sowie eine Bestrafung des M aus. Gegen ihn wurden Maßregeln der Besserung und Sicherung i.S.d. § 61 StGB verhängt. M wurde gem. §§ 61 Nr. 1, 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.

I. Psychiatrische Unterbringung im Sanktionssystem des Strafrechts

Bei der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus handelt sich um eine Maßregel der Besserung und Sicherung gem. §§ 61 Nr. 1, 63 StGB. Maßregeln der Besserung und Sicherung sind eine Form der strafrechtlichen Sanktion. Sie unterscheiden sich aber fundamental von der Strafe. Während Strafe Schuld voraussetzt, sind die Maßregeln von der Schuld des Täters unabhängig. Sie können neben oder anstelle von Strafe angeordnet werden. Ihr Zweck besteht darin, gefährliche Täter zu bessern und die Allgemeinheit vor diesen zu schützen.12

Die Maßregeln der Besserung und Sicherung stehen im strafrechtlichen Sanktionssystem also neben der Strafe als Sanktion. Sie stellen die zweite Grundlage des zweispurigen strafrechtlichen Sanktionssystems dar. Die möglichen Maßregeln der Besserung und Sicherung, die angeordnet werden können, sind in § 61 StGB enumeriert. Dabei sind die ersten drei Maßregeln des Katalogs sog. freiheitsentziehende Maßregeln.13 Hierzu gehören die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und die Sicherungsverwahrung. Für alle Maßregeln der Besserung und Sicherung und für die freiheitsentziehenden und eingriffsintensiven im Besonderen ist in hohem Maße der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.14 Dies bringt auch § 62 StGB zum Ausdruck.

Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. § 63 StGB knüpft an die Begehung einer rechtswidrigen Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit bzw. der verminderten Schuldfähigkeit an. Hinzukommen muss die Gefahr der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten in der Zukunft und die Gefährdung der Allgemeinheit. § 126a StPO erlaubt eine vorläufige einstweilige Unterbringung während des Verfahrens, wenn dringende Gründe für die Tatbegehung sprechen und wahrscheinlich eine Unterbringung angeordnet werden wird. Allerdings muss die öffentliche Sicherheit eine solche einstweilige Unterbringung rechtfertigen.

II. Bedeutung von Sachverständigengutachten

Voraussetzung der Unterbringung ist somit eine Gefährlichkeitsprognose.15 Diese Prognoseentscheidung kann der Richter im absoluten Regelfall nicht selbstständig treffen. Deshalb verlangt § 246a StPO vor der Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel die Hinzuziehung eines Sachverständigen.16 Im Rahmen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gem. §§ 61 Nr. 1, 63 StGB beziehen sich die Gutachten neben den gesetzlich geforderten Zustands- und Behandlungsaussichten auch auf die Gefährlichkeitsprognose und das Vorliegen der Schuldunfähigkeit bzw. der verminderten Schuldfähigkeit.

Dabei sind Sachverständige neben den Zeugen ein persönliches Beweismittel. Der Sachverständigenbeweis ist in §§ 72 ff. StPO geregelt. Sachverständige werden vom Gericht bestellt oder aber auf Antrag eines Prozessbevollmächtigten vernommen. Der Sachverständige zeichnet sich dadurch aus, dass er auf einem bestimmten Wissensgebiet eine dem Richter fehlende Sachkunde ausweist.17

Seine Aufgabe ist es, diese Sachkunde zu übermitteln und anzuwenden. Die dazu notwendigen Tätigkeiten sind vielfältig. Es kann sich um die Vermittlung von Erfahrungswissen, aber auch Tatsachenbekundungen oder tatsächliche Verrichtungen, die eine besondere Sachkunde erfordern, handeln.18 Der wichtigste Fall der Sachverständigentätigkeit ist die Erstattung von Gutachten. Dabei hat der Sachverständige sein Erfahrungswissen bei der Begutachtung eines bestimmten Sachverhalts anzuwenden. Er ermittelt den Sachverhalt entweder selbst aufgrund seiner Sachkunde oder er bedient sich mit Hilfe des Gerichts der Befugnisse des § 80 StPO, also der Zeugenvernehmung, Akteneinsicht oder Beschuldigtenbefragung. Diese Sachverhaltsfeststellungen werden als Anknüpfungstatsachen bezeichnet, aus denen der Sachverständige aufgrund seiner Sachkunde Befundtatsachen deduziert.19 Bei der Gutachtenerstattung hat der Sachverständige die angewendeten Erfahrungssätze mitzuteilen und seine Schlussfolgerungen schlüssig darzulegen.20 Hinsichtlich der Begutachtung des psychischen Zustandes, wie sie die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankhaus gem. § 63 StGB erfordert, gelten Besonderheiten. §§ 80a, 81 StPO erlauben es, schon im Vorverfahren einen Sachverständigen mit der Begutachtung zu befassen. Hierzu kann der Verdächtige bereits zur Begutachtung vorläufig untergebracht werden. Die Anordnung trifft gem. § 81 III StPO das für die Hauptverhandlung zuständige Gericht.

Das Verfahren der Begutachtung, insbesondere die Prognosebegutachtung im Vorfeld der Anordnung freiheitsentziehender Maßregeln, hat besonderen Anforderungen zu genügen.21 Nach den Feststellungen des BVerfG hat ein Prognosegutachten mindestens die Anlasstat, die prädeliktische Persönlichkeit und die postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung zu thematisieren. Deutlich werden muss der Zusammenhang zwischen Anlasstat und Persönlichkeit sowie das Vorhandensein von deliktsspezifischen Persönlichkeitszügen und die prognostische Relevanz der Anlasstat in der Gesamtpersönlichkeit des potenziell Unterzubringenden. Allgemein gilt, dass der Erkenntnis- und Wertungsprozess des Gutachters umfassend und nachvollziehbar darzulegen ist. In der Regel ist exakt auf die Erkenntnismittel und ihren Informationsgewinn Bezug zu nehmen.22

III. Die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik im Fall Mollath

Entsprechend den verfahrensmäßigen Besonderheiten der Begutachtung zur Unterbringung wurde Mollath zunächst gem. § 81 StPO zur Beobachtung in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Aus der in diesem Rahmen vorgenommenen Begutachtung folgte nach Ansicht des erkennenden Gerichts, dass die Voraussetzungen des § 63 StGB bei M im Tatzeitpunkt vorlagen.

Das Sachverständigengutachten attestiert M eine wahnhafte psychische Störung und das wahrscheinliche Vorliegen der Voraussetzungen des § 20 StGB, jedenfalls aber des § 21 StGB. Es stützt sich dabei auf folgende Feststellungen:

M verweigerte -- so das Gutachten -- Untersuchungen und Explorationsgespräche. Ein Gespräch brach er schreiend und unter Vorhaltungen ab. Er erschien in psychischer Hinsicht orientiert, wach, bewusstseinsklar und ausgeglichen. Es waren keine formalen Denkstörungen feststellbar. Konzentration und Gedächtnisleistung waren unauffällig und eine gesteigerte Aggressivität nicht gegeben.

Allerdings waren bei M eine misstrauische Grundhaltung und ein negativistisches Weltbild, in dem er sich für den Benachteiligten hält, vorhanden. In einem paranoiden Gedankengebäude glaubt M, dass sich „Schwarzgeldkreise" um seine Frau und deren Geschäftspartner gegen ihn verschworen haben. In dieses Bild werden auch beliebige andere Personen einbezogen. Dabei prägen Größenphantasien und eine ausgeprägte Ich-Bezogenheit das Denken des M, die sich in Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen und massiver Rigidität äußert. Er gab an, eine innere Stimme zu hören. Seine Ich-Grenzen waren verschwommen und er machte ausufernde und scheinlogische Ausführungen, durchzogen mit vernünftigen Gedanken über Gewissensfreiheit und den nach seiner Meinung bestehenden Unrechtsstaat. M glitt zunehmend ab in eine innere Welt ohne jegliche Außenkontakte. Die paranoide Wahnsymptomatik bestimmte zunehmend das Denken des M.

Das erkennende Gericht schloss sich der gutachterlichen Einschätzung „aufgrund eigener kritischer Würdigung" an. Es führte aus, dass es insbesondere die undifferenzierte Einbeziehung des gesamten Umfeldes des M in einen Schwarzgeldskandal bestätigen könne und als wahnhaft einschätzt, selbst wenn es Schwarzgeldverschiebungen gegeben haben sollte. Dabei erfülle die schwere psychische wahnhafte Störung die biologischen Eingangskriterien des § 20 StGB. Folglich wurde M wegen der dargestellten rechtswidrigen Taten freigesprochen.

Hinsichtlich der Anordnung der Unterbringung genüge die Gefährlichkeitsprognose den Anforderungen von § 63 StGB. Die Störungen des M seien dauerhaft und ohne Behandlung ohne Aussicht auf Besserung. Es seien ähnliche Symptome wie bisher zu befürchten, zumal M bisher jegliche Behandlung ablehnte. Hierfür bestehe eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades, die eine Gefahr für die Allgemeinheit begründe und die Unterbringung rechtfertige.

D) Wiederaufnahme des Verfahrens

Mit der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus war der Fall Mollath aber noch nicht abgeschlossen. Vielmehr nahm er mit dem Auftauchen neuer Tatsachen hinsichtlich der ursprünglichen Beweismittel eine neue Wendung. Es kam zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens i.S.d. §§ 359 ff. StPO.

I. Wiederaufnahme des Verfahrens im Strafprozess

Die Wiederaufnahme des Verfahrens ist in §§ 359 ff. StPO geregelt. Sie dient der Beseitigung von Fehlentscheidungen mittels einer Durchbrechung der Rechtskraft von Entscheidungen.23

Dabei bewegt sich die Rechtsfigur der Wiederaufnahme im Konflikt zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit.24 Dies entspricht einem dem Rechtsstaatsprinzip immanenten Zielkonflikt. In diesem hat sich der Gesetzgeber -- seinem Beurteilungsspielraum folgend -- dafür entschieden, das Prinzip der Rechtskraft stärker zu akzentuieren. Deshalb ist nur unter engen Voraussetzungen eine Wiederaufnahme möglich.25 Die Gründe sind enumeriert. Mithin kommt es auf sonstige nicht gesetzlich normierte Fehler des Urteils nicht an. Neben der Aufzählung der §§ 359, 362 StPO sind insbesondere die Wiederaufnahmegründe des § 79 BVerfGG zu beachten. Die Wiederaufnahme wird nicht von Amts wegen, sondern nur auf Antrag eines Berechtigten hin angeordnet. Der Antragsteller hat die Tatsachen für einen Wiederaufnahmegrund darzulegen.26 Ein erfolgreicher Wiederaufnahmeantrag versetzt eine durch rechtskräftiges Sachurteil abgeschlossene Rechtssache wieder zurück in das Hauptverfahren.27

Auf den Antrag finden zwar gem. § 365 StPO die allgemeinen Vorschriften über Rechtsmittel Anwendung. Bei der Wiederaufnahme handelt es sich aber nicht um ein Rechtsmittel, sondern um einen Rechtsbehelf sui generis. Das Verfahren gliedert sich in zwei Abschnitte. Gem. § 368 StPO wird die Zulässigkeit des Antrags im sog. Additionsverfahren überprüft. In diesem Rahmen muss der Antragsteller eine Beschwer geltend machen und sein Vorbringen wird unter Wahrunterstellung auf seine Schlüssigkeit überprüft. In der Begründetheit wird gem. §§ 369, 370 StPO im sog. Probationsverfahren das Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes abschließend beurteilt.28

II. Erfolgloser Wiederaufnahmeantrag vor dem LG Regensburg

Im Fall Mollath stellten sowohl sein Verteidiger als auch die Staatsanwaltschaft Regensburg einen Wiederaufnahmeantrag, nachdem bekannt geworden war, dass das ärztliche Attest hinsichtlich der Verletzungen der F womöglich unecht war.29 Der Antrag stützte sich auf die Wiederaufnahmegründe des § 359 Nr. 1, 3 und 5 StPO sowie § 79 I Var. 3 BVerfGG. Vor dem LG Regensburg blieb er in erster Instanz erfolglos.30

§ 359 Nr. 1 StPO sei mangels einer unechten Urkunde nicht einschlägig. Im Antrag wird vorgebracht, das Attest sei nicht -- wie es scheint -- von Madeleine R., sondern ihrem Sohn Markus R. erstellt, der zu dieser Zeit in der Facharztausbildung in der Praxis tätig war. Dies bestreitet Markus R. nicht. Das auf ein Jahr nach der Tat datierte Attest sei aber mit dem Zusatz „i.V." versehen, sodass sich kein Widerspruch zwischen dem wahren und dem scheinbaren Aussteller ergebe. Die Urkunde sei demnach nicht unecht.

§ 359 Nr. 3 StPO sei ebenfalls nicht erfüllt. Selbst nach der extensivsten Auffassung sei bereits im Additionsverfahren erforderlich, dass ein Anfangsverdacht gegen einen mitwirkenden Richter vorliegt, der gem. § 152 II StPO eine Ermittlung rechtfertigen würde. Für Straftaten gem. § 339 StGB oder § 239 StGB bestünden aber keine konkreten Anhaltspunkte, zumal insbesondere § 339 StGB eine bewusste Rechtsverletzung fordere.31

Schließlich scheide § 359 Nr. 5 StPO aus. Es seien keine neuen Tatsachen und Beweismittel gegeben. Rechtsfehler unterfallen der Norm nicht, da die Wiederaufnahme ansonsten zu einer unbefristeten Revision wird.32 Neu sind dabei alle Tatsachen, die das erkennende Gericht bei der Entscheidung nicht berücksichtigt hat. Es reicht also aus, wenn die Tatsachen dem Gericht aktuell nicht bekannt waren. Es besteht keine zwingende Bindung an die Aktenlage, diese kann aber ein Indiz für die Kenntnis oder Unkenntnis einer Tatsache sein.33 Im Rahmen des § 359 Nr. 5 StPO sind Tatsachen nur dann relevant, wenn die neuen Tatsachen isoliert oder zusammen mit anderen Tatsachen einen Freispruch oder eine wesentlich andere Entscheidung über die Maßregeln der Besserung und Sicherung rechtfertigen. Die Sachvorträge müssen gegenüber dem angefochtenen Urteil überhaupt erheblich sein. Sie müssen der im angefochtenen Urteil ausgesprochenen Rechtsfolge bei unterstellter Richtigkeit die tatsächliche Grundlage entziehen.34 An den Grad der Wahrscheinlichkeit des Vorbringens sind keine überspannten Anforderungen zu stellen, der Zweifelssatz gilt in diesem Zusammenhang aber nicht. Der Wiederaufnahmegrund lag nach Ansicht des Gerichts letztlich nicht vor. Er wurde hinsichtlich der Echtheit des Attests betreffend die Verletzungen der F, der Glaubwürdigkeit der F als Zeugin und ihrer tatsächlichen Verwicklung in eine Schwarzgeldaffäre diskutiert. Von alledem konnte sich das Gericht aber nicht hinreichend überzeugen.

Die Wiederaufnahme konnte auch nicht auf § 79 I Var. 3 BVerfGG gestützt werden. Zwar existiert eine Entscheidung des BVerfG,35 die sich mit der Auslegung des § 81 StPO auseinandersetzt. Diese kann auch grundsätzlich einschlägig sein. Hierbei handelte es sich aber nur um einen Kammerbeschluss, auf den § 79 BVerfGG a priori keine Anwendung findet, da die Feststellung der Nichtigkeit einer Norm gem. § 31 II BVerfGG der Entscheidung der Senate des BVerfG vorbehalten bleibt.36 Außerdem betrifft § 79 I Var. 3 BVerfGG unstreitig nur Normen des materiellen Strafrechts und nicht solche des Prozessrechts.37

III. Stattgebende Beschwerdeentscheidung des OLG Nürnberg

Gegen diesen Beschluss wurde das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde -- statthaft gem. § 372 StPO -- eingelegt. Dieser gab das OLG Nürnberg statt.38

1. Begründung

Als Begründung führte es an, § 359 Nr. 1 StPO sei erfüllt, da eine unechte Urkunde vorgelegt und verwertet wurde. Das Attest vom 03.06.2002 sei eine unechte Urkunde. Es komme nicht darauf an, ob der materielle Urkundenbegriff der §§ 267 ff. StGB oder der prozessuale Urkundenbegriff gem. §§ 249 ff. StPO im Rahmen des § 359 Nr. 1 StPO maßgeblich ist.39 Das Attest ist -- den materiellen Urkundenbegriff erfüllend -- eine menschliche verkörperte Gedankenerklärung, die zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet und bestimmt ist und ihren Aussteller erkennen lässt. Im prozessualen Sinne enthält es daneben einen verlesbaren Gedankeninhalt.40 Die Urkunde ist auch unecht im Sinne eines Auseinanderfallens von wahrer und scheinbarer Ausstellereigenschaft, sog. Identitätstäuschung:41 Aus der Urkunde geht hervor, dass Madeleine R. Urheberin der Erklärung ist. Tatsächlich steht aber Markus R. als Urheber des Attestes fest (s.o.). Der von der Vorinstanz entdeckte Vertretungszusatz sei bei Betrachtung des Originals nicht zu erkennen und auch nicht aus den Gesamtumständen zu schließen. Vielmehr wird mehrfach der Name Madeleine R. erwähnt. Dies gilt umso mehr, als Markus R. zu dieser Zeit noch nicht als Arzt in Erscheinung trat.

Dieses Ergebnis bleibt bestehen, selbst wenn man den undeutlichen Vertretungszusatz anerkennt. Hinsichtlich der Echtheit einer Urkunde gilt die Geistigkeitstheorie. Als Urheber gilt nicht stets der körperliche Schöpfer, sondern derjenige, dem die Erklärung im Rechtsverkehr zuzurechnen ist.42 Deshalb stellen zulässige Stellvertretungen keine tatbestandlichen Urkundenfälschungen dar. Die Geistigkeitstheorie hat folgende Voraussetzungen: Der Ersteller der Urkunde hat Vertretungswillen, der Vertretene will sich vertreten lassen und die Stellvertretung ist zivilrechtlich zulässig.43 Selbst die ersten Voraussetzungen unterstellt, fehlt es hier an letzterem. Beim Attest handelt es sich nicht um eine Willenserklärung, sondern um eine reine Wissenserklärung. Es enthält die Beschreibung sinnlicher Wahrnehmung. Diese kann allein die Person bekunden, die sie tatsächlich gemacht hat, eine Vertretung durch Dritte ist ausgeschlossen. Der Zurechnungstatbestand des § 164 BGB ist anders als bei Willenserklärungen deshalb nicht anwendbar.44

Die Urkunde ist daher in jedem Falle unecht.

hemmer-Methode: Eine andere Ansicht ist aber dann vertretbar, wenn für § 359 Nr. 1 StPO eine Strafbarkeit gem. § 267 StGB erforderlich wäre, da Markus R. dann wohl jedenfalls subjektiv die Täuschungsabsicht fehlen würde.45 Dies ist indes nicht der Fall. Ausweislich des Wortlauts des § 359 Nr. 1 StPO und der norminternen Systematik -- andere Varianten setzen Strafbarkeit teils explizit voraus -- genügt das bloße Vorliegen einer unechten Urkunde.46

Die Unechtheit kann sich auf das Urteil auch auswirken. Das Attest diente als tragendes Argument für die Glaubwürdigkeit der Belastungszeugin F. Und diese belastete M zu großen Teilen allein aufgrund einer Aussage/Aussage-Konstellation.

Anmerkung: Über weitere Gründe hatte das Beschwerdegericht deshalb nicht mehr zu entscheiden.

Der Wiederaufnahmeantrag des M und der entsprechende Antrag der Staatsanwaltschaft sind zulässig und begründet und haben daher Aussicht auf Erfolg.

2. Rechtsfolgen

Auf dieser Basis kam es zur Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens durch das Beschwerdegericht gem. § 370 II StPO. Es hat die Hauptverhandlung vor einer anderen Strafkammer des LG Regensburg eröffnet. Dies stützt das Gericht auf eine analoge Anwendung des § 210 III S. 1 StPO.47 Es bestehe die Befürchtung, dass sich die Richter der Kammer, die über den Wiederaufnahmeantrag entschieden hat, bereits festgelegt haben.

Durch diese Entscheidung ist die Grundlage für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus entfallen. Mollath wurde daraufhin folgerichtig freigelassen.

E) Nachträgliche Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Unterbringung

Den vorläufigen Höhepunkt des Falles bildete die Entscheidung des BVerfG, wonach die gerichtliche Anordnung und Bestätigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gegen Mollath gegen das Grundgesetz verstoßen.48

hemmer-Methode: Hierbei handelt es sich um einen Kammerbeschluss des BVerfG gem. § 93c I S. 1 BVerfGG i.V.m. § 93a II BVerfGG. Die entsprechenden Voraussetzungen liegen vor: Die verfassungsrechtlichen Fragen des Falles wurden bereits entschieden. Außerdem ist die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung zur Durchsetzung der Grundrechte des M angezeigt. Im Sinne des § 93c I S. 1 BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde auch offensichtlich begründet. Der Beschluss steht einer Senatsentscheidung gem. § 93c I S. 2 BVerfGG gleich.

Das BVerfG entschied über eine Verfassungsbeschwerde des M gegen das Unterbringungsurteil als Judikativakt, sog. Urteilsverfassungsbeschwerde. Diese war nach Ansicht des BVerfG zulässig und begründet.

Die Zulässigkeit -- im Übrigen evident gegeben -- wirft insbesondere ein Problem hinsichtlich der Gegenwärtigkeit der möglichen Grundrechtsverletzung im Rahmen der Beschwerdebefugnis des M im Sinne von Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 90 I, 13 Nr. 8a BVerfGG auf. M wurde bereits vor der Entscheidung des BVerfG aufgrund des erfolgreichen Wiederaufnahmeantrags aus der Unterbringung entlassen. Man könnte sich deshalb auf den Standpunkt stellen, die Grundrechtsverletzung sei erledigt und dem M fehle mangels gegenwärtigen Grundrechtsangriffs die Beschwerdebefugnis.

Anmerkung: Es ist Geschmacksache, wo dieses Problem zu verorten ist. Das BVerfG prüft es teils auch beim Rechtsschutzbedürfnis.49 In der Klausur sind beide Wege ohne weiteres gangbar.

Indes ist anerkannt, dass in bestimmten Fällen ein schutzwürdiges Interesse an der nachträglichen Überprüfung und eventuellen Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer hoheitlichen Handlung besteht. Neben weiteren Fallgruppen ist paradigmatischer Fall eines schutzwürdigen Interesses ein besonders tiefgreifender Grundrechtseingriff.50 Die Anerkennung dieser Möglichkeit der nachträglichen Überprüfung rechtfertigt sich teleologisch -- wie auch bei der verwaltungsgerichtlichen Fortsetzungsfeststellungsklage -- letztlich aus dem Verfassungsgebot des effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 IV GG.51 Dies gilt angesichts des schweren Eingriffs in seine Fortbewegungsfreiheit auch für M, sodass eine Verfassungsbeschwerde möglich bleibt. Da die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen unproblematisch gegeben sind, insbesondere der Rechtsweg i.S.d. § 90 II BVerfGG wegen § 372 StPO i.V.m. § 310 II StPO erschöpft ist, ist die Verfassungsbeschwerde zulässig.

Bezüglich ihrer Begründetheit ist zu beurteilen, ob tatsächlich Grundrechte des M verletzt sind. In Frage kommt primär eine Kollision mit Art. 2 II S. 2 GG i.V.m. Art. 104 I GG. Da § 63 StGB den Schrankenvorbehalt des Art. 2 II S. 2 GG i.V.m. Art. 104 I GG verfassungskonform ausfüllt, stellt sich die Frage, ob der normanwendende Einzelakt auch verfassungskonform ist. Da nur diese problematisch erscheint, verengt sich die verfassungsrechtliche Prüfung dabei auf die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Anordnung und des Aufrechterhaltens der Unterbringung.

Die Anordnung dient dem verfassungslegitimen Ziel des Schutzes der Allgemeinheit vor schuldunfähigen Gewalttätern,52 im konkreten Fall vor dem potenziell gefährlichen M. Hierzu ist die Unterbringung auch geeignet, da sie die Erreichung des Eingriffszwecks fördert. Die Unterbringung ist hierzu auch erforderlich. Das Merkmal der Erforderlichkeit geht über das der Geeignetheit hinaus und fordert nicht nur ein wirksames Mittel, sondern dasjenige, das bei gegebener Effektivität den geringsten Grundrechtseingriff bewirkt, mithin das relativ mildeste Mittel. Auf dieser Prüfungsstufe wird dem Hoheitsträger gemeinhin eine weite Einschätzungsprärogative zugestanden.53 Diese erweitert sich noch mehr eingedenk der Tatsache, dass es sich bei der Unterbringungsentscheidung um eine Prognoseentscheidung hinsichtlich der zukünftigen Gefährlichkeit handelt. Insofern ist davon auszugehen, dass kein der Unterbringung adäquates Eingriffsmittel gegeben war, das den gleichen Erfolg versprochen hätte. Insbesondere war nicht klar, ob etwa Vorstellungspflichten bei der Polizei den von M ausgehenden Gefahren mit gleicher Effektivität begegnen können.

Somit stellt sich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne die Frage, ob Zielerreichung und Eingriffsintensität im Fall des M in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Abwägungspositionen sind auf einer Seite die grundrechtliche Garantie der Fortbewegungsfreiheit des M aus Art. 2 II S. 2 GG i.V.m. Art. 104 I GG und auf der anderen Seite der Schutz der Allgemeinheit vor tätlichen Übergriffen durch schuldunfähige bzw. vermindert schuldfähige Gewalttäter. In Art. 2 II S. 1 GG als Recht auf körperliche Unversehrtheit fundiert, ist dieses Eingriffsziel jedenfalls abstrakt gleichrangig mit der Grundrechtsposition des M. Hinsichtlich der konkreten Gegenüberstellung sind die vom Täter ausgehende Gefahr und der mit der Maßregel verbundene Eingriff im Rahmen einer Gesamtwürdigung in ein Verhältnis zu setzen. Sicherungsbelange der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch sind als jeweils wechselseitiges Korrektiv anzusehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass wegen des Prognosecharakters der Unterbringungsanordnung auch die Prüfung auf dieser Ebene durch eine Restriktion des Prüfungsumfangs determiniert wird.54 Voraussetzung ist auf erster Stufe, dass Entscheidungen über eine Freiheitsentziehung auf zureichender richterlicher Sachverhaltsaufklärung beruhen müssen. Die Bedeutung der Freiheitsgarantie gebietet besonders bei der Unterbringung eine „bestmögliche Sachverhaltsaufklärung". Auf Grundlage sachverständiger Begutachtung hat sich der Richter eine eigene Meinung hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen des § 63 StGB zu verschaffen. Die Meinungsbildung darf er nicht dem Sachverständigen überlassen. Auf der zweiten Stufe prüft das BVerfG grundsätzlich nur, ob überhaupt eine Abwägung stattgefunden hat und ob die vom Gericht zu Grunde gelegten Bewertungsmaßstäbe der Verfassung entsprechen. Allerdings ist einzubeziehen, dass das Gewicht des individuellen Freiheitsanspruchs mit längerer Dauer der Unterbringung stetig zunimmt. Deshalb ist eine strengere Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen und der richterliche Beurteilungsspielraum verengt sich ausnahmsweise.55 Gerade bei lebenslanger Unterbringung hat der Richter seine Bewertung substantiiert offenzulegen. Weiterhin sind die Konkretisierung des Grades der Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer rechtswidriger Taten und deren Deliktstypus erforderlich.

Im Fall Mollath wird die richterliche Anordnung der Unterbringung diesen Maßstäben nicht gerecht. Zunächst wird die Wahrscheinlichkeitsprognose nicht hinreichend argumentativ unterlegt. Zudem hinterfragt das Gericht abweichende Angaben des Sachverständigen in Gutachten und mündlicher Verhandlung nicht tiefgehend. Es nimmt vielmehr nur pauschal auf die Ausführungen in der Hauptverhandlung Bezug, ohne eigene Erwägungen anzustellen. Bestimmte Tatsachen, welche die Sachverständigengutachten aufwerfen, ignoriert das Gericht dabei völlig, etwa das sich bessernde, unauffälligere und angepasste Verhalten des M. Außerdem setzt sich das Gericht nicht damit auseinander, dass die Anlasstat -- die brutal ausgeführte und abstrakt lebensbedrohliche -- gefährliche Körperverletzung eine Beziehungstat war, die mittlerweile mehrere Jahre zurückliegt. Die Nichtberücksichtigung der zwischenzeitlichen Scheidung begründet aber bereits ein Defizit bei der Tatbestandsermittlung.

Damit ist die Anordnung der Unterbringung unangemessen und mithin unverhältnismäßig. Sie verstößt gegen das Grundrecht des M gem. Art. 2 II S. 2 GG.

Die Verfassungsbeschwerde gegen die Unterbringungsentscheidung ist somit auch begründet und erfolgreich.

F) Fazit und Ausblick

Die Betrachtung des Falles Mollath unter einem juristischen Blickwinkel vermag eine kritische Distanz zur bisweilen sogar polemisierenden Medienberichterstattung zu erzeugen. Dabei nahm der Fall, der so viel öffentliches Interesse erregte, für den so lange Untergebrachten Mollath im jetzigen Zeitpunkt einen positiven Ausgang. Allerdings ist der Fall nach dem Gesagten nicht zu Ende. Es findet nun eine erneute Hauptverhandlung vor dem LG Regensburg mit offenem Ausgang statt.

Wirkungen zeitigt die durch das Verfahren entbrannte Debatte auch über die konkrete Entscheidung hinaus. Aus Anlass des Falles Mollath wird über eine Reform des Rechts der Sachverständigengutachten nachgedacht, um deren Qualität in Zukunft zu erhöhen. Es bleibt abzuwarten, wie der Fall Mollath am Ende ausgeht und ob es wirklich zu einer entsprechenden Reform kommt.


  1. OLG Nürnberg, NJW 2013, 2692 ff.

  2. BVerfG, Beschluss v. 26.08.2013, 2 BvR 371/12

  3. Vgl. zu einem Überblick über die politische Dimension des Falles die detaillierte wie pointierte Darstellung unter http://www.gustl-for-help.de/summary.html.

  4. LG Nürnberg-Fürth, Urteil v. 08.08.2006, 7 KLs 802 Js 4743/2003.

  5. Zu den Definitionen vgl. Joecks, § 223 StGB, Rn. 4 ff.

  6. Fischer, § 224 StGB, Rn. 9.

  7. Fischer, § 224 StGB, Rn. 9c.

  8. Vgl. zum Ganzen Schönke/Schröder, § 224 StGB, Rn. 12.

  9. Vgl. Fischer, § 15 StGB, Rn. 2.

  10. Vgl. allg. Joecks, § 239 StGB, Rn. 15 ff.

  11. Fischer, Vor § 77 StGB, Rn. 3.

  12. Vgl. Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 61 ff. StGB, Rn. 1 ff.

  13. Fischer, § 61 StGB, Rn. 1.

  14. Vgl. Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 61 ff. StGB, Rn. 12.

  15. Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 61 ff. StGB, Rn. 8.

  16. Siehe dazu Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 61 ff. StGB, Rn. 15.

  17. Joecks, Vor § 72 StPO, Rn. 1.

  18. Vgl. Meyer-Goßner, Vor § 72 StPO, Rn. 3 ff.

  19. Zum Ganzen Meyer-Goßner, Vor § 72 StPO, Rn. 7.

  20. Meyer-Goßner, Vor § 72 StPO, Rn. 7.

  21. BVerfG, NJW 2004, 739, 743 kritisch rezipiert bei Boetticher/Kröber/Müller-Isberner et al., NStZ 2006, 537, 539.

  22. Boetticher/Kröber/Müller-Isberner et al., NStZ 2006, 537, 539.

  23. Meyer-Goßner, Vor § 359 StPO, Rn. 1.

  24. Joecks, Vor § 359 StPO, Rn. 1; Meyer-Goßner, Vor § 359 StPO, Rn. 1; vgl. BVerfG, MDR 1975, 468, 469.

  25. Vgl. BVerfGE 2, 380, 403 f.

  26. Meyer-Goßner, Vor § 359 StPO, Rn. 2, 4.

  27. Vgl. Meyer-Goßner, Vor § 359 StPO, Rn. 2.

  28. Joecks, Vor § 359 StPO, Rn. 6.

  29. Sehr lesenswert ist der Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft, abrufbar unter http://www.strate.
    net/de/dokumentation/Mollath-Wiederaufnahmeantrag-StA-Regensburg-2013-03-18.pdf
    .

  30. LG Regensburg, Beschl. v. 24.07.2013, 7 KLs 151 Js 4111/13 WA.

  31. Zur Tatbestandsrestriktion Fischer, § 339 StGB, Rn. 14.

  32. Allg. zum Argument Brauns, JZ 1995, 492, 494; vgl. auch BVerfG, NStZ-RR 2007, 29, 30

  33. Vgl. Graf, § 359 StPO, Rn. 23.

  34. Meyer-Goßner, § 359 StPO, Rn. 37 ff.

  35. Vgl. BVerfG, StV 2001, 657, 657 f.

  36. Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 93c BVerfGG, Rn. 34.

  37. Lechner/Zuck, § 79 BVerfGG, Rn. 5.

  38. OLG Nürnberg, NJW 2013, 2692 ff.

  39. Vgl. hierzu Meyer-Goßner, § 359 StPO, Rn. 4 m.w.N.

  40. Zum prozessualen Urkundenbegriff des § 249 StPO vgl. Joecks, § 249 StPO, Rn. 2, mit Unterschieden zum materiellen Begriff; dazu Fischer, § 267 StGB, Rn. 2 ff.

  41. Hinsichtlich § 267 StGB Joecks, § 267 StGB, Rn. 57 ff.

  42. Schönke/Schröder, § 267 StGB, Rn. 55.

  43. Vgl. zum Ganzen Schönke/Schröder, § 267 StGB, Rn. 58.

  44. Vgl. allg. MK-BGB, § 164 BGB, Rn. 6.

  45. Zum Streit vgl. Kleinknecht/Müller/Reitberger, § 359 StPO, Rn. 57 m.w.N.

  46. Kleinknecht/Müller/Reitberger, § 359 StPO, Rn. 61.

  47. Die Analogie wird von der h.M. in der Literatur anerkannt, vgl. Meyer-Goßner, § 370 StPO, Rn. 18.

  48. BVerfG, Beschluss v. 26.08.2013, 2 BvR 371/12

  49. Jarass/Pieroth, Art. 93 GG, Rn. 55 a.E.

  50. BVerfGE 99, 129, 138 , vgl. Jarass/Pieroth, Art. 93 GG, Rn. 66a m.w.N. und Fallgruppen.

  51. Zur VwGO vgl. Kopp/Schenke, § 113 VwGO, Rn. 98.

  52. Fischer, § 63 StGB, Rn. 2.

  53. Gröpl/Windthorst/von Coelln, Art. 20 GG, Rn. 164.

  54. Vgl. schon BVerfGE 70, 297, 315

  55. Vgl. BVerfGE 70, 297, 316 f.