Ist § 167 ZPO auch auf solche Fristen anwendbar, für die eine gerichtliche Zustellung nicht erforderlich ist?

BGH, Urteil vom 25.06.2014, VIII ZR 10/14, NJW 2014, 2568 f. sowie BAG, Urteil vom 22.05.2014, 8 AZR 662/13, NZA 2014, 924 ff.

von Life and Law am 01.12.2014

+++ Frist des § 545 BGB und des § 15 IV AGG +++ Wahrung dieser Fristen durch „demnächst" zugestellte Klage +++ Anwendbarkeit des § 167 ZPO +++

Sachverhalt (abgewandelt, verkürzt und zusammengefasst): V hatte an M mit Wirkung zum 01.08.2013 eine Wohnung seines ihm gehörenden Hauses vermietet. In der zweiten Wohnung des Hauses wohnt V selbst. Mit Schreiben vom 07.01.2014 (Dienstag) kündigte V das Mietverhältnis mit Wirkung zum 31.07.2014. M widerspricht der Kündigung, da V kein berechtigtes Interesse an der Kündigung habe. Daher werde er - M - die Wohnung am 01.08.2014 sicher nicht verlassen.

Außerdem hat V Ärger bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz. V bewarb sich nach seiner dreijährigen - erfolgreich bestandenen - Ausbildung als Fachangestellter für Bäderbetriebe im Betrieb des Arbeitgebers AG auf die ausgeschriebene Stelle als Betreuer für Badegäste und für die Erteilung von Schwimmunterricht und Aquafitnesskursen. AG stellte dem V eine befristete Anstellung in Aussicht und lud V zum Vorstellungsgespräch am 23.06.2014 ein. Im Bewerbungsgespräch erklärte V, dass er an multipler Sklerose leide und mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 % schwerbehindert sei. Dies wirke sich aber -- was tatsächlich zutrifft -- nicht auf die Eignung für die ausgeschriebene Tätigkeit aus. AG meint daraufhin, dass er Behinderte seinen Badegästen nicht zumuten könne. Eine Anstellung komme unter diesen Umständen nicht in Betracht.

V begibt sich daraufhin am 01.08.2014 zu Rechtsanwalt R und beauftragt ihn unter Darlegung des Sachverhalts mit der sofortigen Erhebung einer Räumungsklage gegen M und einer „Schmerzensgeldklage wegen Mobbings" gegen AG.

Die Räumungsklage geht beim örtlich zuständigen Amtsgericht am 10.08.2014 ein und wird dem M am 23.08.2014 zugestellt.

Die beim örtlich zuständigen Arbeitsgericht am 11.08.2014 eingereichte Klage auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung wird dem AG am 25.08.2014 zugestellt.

Sind die zulässigen Klagen des V gegen M und AG begründet?

A) Sounds

1. Die Frist für die Erklärung des Widerspruchs gegen die stillschweigende Verlängerung des Mietverhältnisses (§ 545 I BGB) wird durch eine vor Fristablauf eingereichte und gemäß § 167 ZPO „demnächst" zugestellte Räumungsklage gewahrt. Auf die Unterscheidung zwischen prozessualen und auch durch außergerichtliche Geltendmachung zu wahrende Fristen kommt es nicht (mehr) an, da der Vermieter seinen Widerspruch gegen die Verlängerung des Mietverhältnisses nach § 545 BGB nicht deutlicher zum Ausdruck bringen kann als durch Erhebung einer Räumungsklage.

2. Die nach § 15 IV S. 1 AGG erforderliche Schriftform zur Geltendmachung von Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen (§ 15 I, II AGG) kann auch durch eine Klage gewahrt werden. Dabei findet § 167 ZPO Anwendung. Es genügt der rechtzeitige Eingang der Klage bei Gericht, wenn die Klage „demnächst" zugestellt wird.

B) Problemaufriss

Soll durch die Erhebung einer Klage eine Frist gewahrt werden oder die Verjährung neu beginnen oder nach § 204 BGB gehemmt werden, entsteht für den Kläger folgendes Problem:

Die Erhebung einer Klage, die zur Rechtshängigkeit führt, setzt die Zustellung der Klageschrift an den Beklagten voraus, §§ 253 I, 261 I ZPO.

Die Einreichung der Klage bei Gericht selbst führt lediglich zur Anhängigkeit.

Da bei den Gerichten im Jahr teilweise mehrere tausend Klagen eingehen, vergehen zwischen Einreichung der Klage und Zustellung in der Praxis manchmal mehrere Wochen.

Wie will dann zum Beispiel ein Arbeitnehmer gegen eine schriftliche Kündigung seines Arbeitsverhältnisses gem. § 4 S. 1 KSchG innerhalb von drei Wochen seit Zugang „Klage erheben", um die Wirksamkeitsfiktion des § 7 HS 1 KSchG zu verhindern?

Oder: Am 01.01.2015 tritt Verjährung ein, was der Gläubiger Ende Dezember 2014 -- also noch rechtzeitig -- bemerkt. Wie soll dann die Verjährung noch gehemmt werden, wenn hierzu nach § 204 I Nr. 1 BGB die „Erhebung der Klage" erforderlich ist?

Diese Beispiele zeigen, dass es dem Kläger teilweise unmöglich ist, diese Fristen einzuhalten bzw. dem Gläubiger das Recht abgeschnitten wird, Fristen bis zuletzt auszuschöpfen, wenn für die Wahrung der Frist oder den Neubeginn bzw. die Hemmung der Verjährung eine Klage oder sonstige Prozesshandlung und damit die Mitwirkung der oftmals völlig überlasteten Gerichte erforderlich ist.

In diesen Fällen kommt dem Kläger die Regelung in § 167 ZPO zugute. Soll durch die Zustellung eine Frist gewahrt werden oder die Verjährung neu beginnen oder nach § 204 BGB gehemmt werden, tritt diese Wirkung bereits mit Eingang des Antrags oder der Erklärung ein, wenn die Zustellung „demnächst" erfolgt. Die Wirkung der Rechtshängigkeit wird daher auf den Zeitpunkt der Anhängigkeit vorverlegt.

hemmer-Methode: § 167 ZPO ist eine eng begrenzte Ausnahmevorschrift.

Auf andere Wirkungen der Rechtshängigkeit (z.B. §§ 292, 818 IV, 987, 989, 994 II, 996 BGB usw.) wird § 167 ZPO weder direkt noch analog angewendet.

Damit eine Vorverlagerung auf den Zeitpunkt der Anhängigkeit erfolgt, muss die Zustellung „demnächst" erfolgt sein.

Dies ist nur dann nicht der Fall, wenn gleichzeitig zwei Umstände zusammentreffen: Es muss sich um einen verhältnismäßig langen Zeitraum zwischen Fristablauf bzw. Verjährungseintritt einerseits und Zustellung andererseits handeln,1 und die Verzögerung muss aus der Sphäre des Antragstellers stammen (z.B. falsche Adressangabe des Beklagten). Beide Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen, damit eine Zustellung nicht mehr demnächst i.S.d. § 167 ZPO erfolgt.

Eine verhältnismäßig geringfügige Verzögerung liegt nach ständiger Rechtsprechung in der Regel vor, wenn die Zustellung um nicht mehr als zwei Wochen verzögert wurde. Zur Berechnung dieser Verzögerung ist auf den Zeitpunkt des Fristablaufs bzw. des Verjährungseintritts abzustellen und nicht auf den der Einreichung der Klageschrift.2

Längere Verzögerungen im Zustellungsverfahren, die durch eine fehlerhafte oder nachlässige Sachbearbeitung des Gerichts verursacht sind, werden dem Antragsteller/Kläger grundsätzlich nicht zugerechnet, sodass eine Zustellung auch in diesem Fall noch demnächst erfolgt.

hemmer-Methode: Hat der Kläger alle von ihm geforderten Mitwirkungshandlungen für eine ordnungsgemäße Klagezustellung erbracht, so sind er und sein Prozessbevollmächtigter im Weiteren nicht mehr gehalten, das gerichtliche Vorgehen zu kontrollieren und durch Nachfragen auf die beschleunigte Zustellung hinzuwirken.

Etwas anderes gilt dann, wenn das Gericht den Gerichtskostenvorschuss (vgl. § 12 I S. 1 GKG3) nicht anfordert und der Kläger mehrere Wochen verstreichen lässt, ohne sich nach den Umständen zu erkundigen. Die Zustellung erfolgt dann nicht mehr demnächst.

Gleiches kann bei Zustellung des Mahnbescheids gelten, wenn der Antragsteller zunächst keine vollständigen Angaben macht und es zu einer längeren Verzögerung kommt, ohne dass sich der Antragsteller nach den Gründen der Verzögerung erkundigt.4

In den beiden hier zu besprechenden Entscheidungen geht es um die Frage, ob § 167 Var. 1 ZPO nur für solche Fristen gilt, für welche die Mitwirkung der Gerichte erforderlich ist (prozessuale Fristen), oder ob § 167 ZPO auch auf materielle Fristen anwendbar ist, die auch durch eine außergerichtliche Geltendmachung gewahrt werden können.

Das BAG hat dies früher zur Frage der Fristwahrung für die Annahme einer Änderungskündigung unter dem Vorbehalt gerichtlicher Nachprüfung (in § 2 S. 1 KSchG: Drei-Wochen-Frist) verneint. Eine Fristwahrung durch Klageerhebung und Zustellung „demnächst" nach § 167 ZPO komme für die Erklärung des Vorbehalts nicht in Betracht, weil diese Frist auch ohne Prozesshandlung durch formlose Erklärung gegenüber dem Arbeitgeber gewahrt werden könne.5

Diese Rechtsprechung, die auch früher vom BGH vertreten wurde, hat der BGH am 17.07.2008 aufgegeben.

In der vorliegenden Entscheidung bestätigt der BGH seine großzügige Anwendung des § 167 ZPO. Das BAG gibt in seinem Urteil seine ältere Rechtsprechung ebenfalls auf.

Anmerkung: Der Problemaufriss war bewusst ausführlich, um Ihren Blick gleich für das zentrale Problem der beiden Entscheidungen zu schärfen. Die Besprechung der beiden Urteile wird dadurch entschlackt und übersichtlicher.

C) Lösung

Zu prüfen sind die Begründetheit der Räumungsklage des V gegen M und der Entschädigungsklage des V gegen AG.

I. Begründetheit der Räumungsklage

Die Räumungsklage ist begründet, wenn das Mietverhältnis wirksam beendet wurde. In diesem Fall besteht ein Anspruch auf Rückgabe gem. §§ 549 I, 546 I BGB bzw. auf Herausgabe aus § 985 BGB.6

1. Wirksamkeit der Kündigung

Fraglich ist, ob die von V ausgesprochene ordentliche Kündigung wirksam war.

a) Einhaltung der Schriftform, § 568 I BGB

V hat dem M mit Schreiben vom 07.01.2014 gekündigt und damit die für die Kündigung eines Wohnraummietvertrags vorgesehene Schriftform des § 568 I BGB gewahrt.7

b) Vorliegen eines berechtigten Interesses entbehrlich, § 573a BGB

M hat gegen die Kündigung eingewendet, dass V kein berechtigtes Interesse an der Kündigung gehabt habe. Ein solches ist gem. § 573 I BGB aber bei der ordentlichen Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses durch den Vermieter grundsätzlich erforderlich.

Allerdings bestimmt § 573a I S. 1 BGB, dass der Vermieter ein Mietverhältnis über Wohnraum in einem vom Vermieter selbst bewohnten Gebäude mit nicht mehr als zwei Wohnungen kündigen kann, ohne dass es eines berechtigten Interesses im Sinne des § 573 BGB bedarf.

Diese Voraussetzungen einer erleichterten Kündigung lagen hier vor, sodass eine ordentliche Kündigung auch ohne Vorliegen eines berechtigten Interesses möglich war.

c) Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist, § 573c I BGB

Die Kündigung ist gem. § 573c I S. 1 spätestens am dritten Werktag eines Kalendermonats zum Ablauf des übernächsten Monats zulässig.

Da das Mietverhältnis erst seit August 2013 bestand, hat sich die ordentliche Kündigungsfrist für den Vermieter V nicht nach § 573c I S. 2 BGB verlängert.

Allerdings ist zu beachten, dass sich bei einer nach § 573a BGB erleichterten Kündigung die ordentliche Kündigungsfrist generell um drei Monate verlängert, § 573a I S. 2 BGB.

Danach betrug die ordentliche Kündigungsfrist sechs Monate. Da die Kündigung erst am Dienstag, dem 07.01.2014, erfolgte, wird für die Berechnung der Kündigungsfrist der Monat Januar nicht mehr mitgerechnet, vgl. § 573c I S. 1 BGB.

Zwischenergebnis: Das Mietverhältnis wurde also durch ordentliche Kündigung mit Ablauf des 31.07.2014 wirksam beendet.

2. Evtl. stillschweigende Verlängerung des Mietverhältnis gem. § 545 BGB

Nach § 545 S. 1 BGB verlängert sich das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit, wenn der Mieter den Gebrauch der Mietsache nach Ablauf der Mietzeit fortsetzt und keine Vertragspartei ihren entgegenstehenden Willen der anderen Partei binnen zwei Wochen mitteilt.

Da das Mietverhältnis - wie ausgeführt - mit Ablauf des 31.07.2014 endete, hätte V einer Fortsetzung des Gebrauchs bis spätestens 14.08.2014 widersprechen müssen.

Im vorliegenden Fall hat V, ohne der Fortsetzung des Gebrauchs durch M zu widersprechen, unmittelbar durch seinen Rechtsanwalt R eine Räumungsklage erheben lassen. Da diese dem M erst am 23.08.2014 zugestellt wurde, könnte dieser Widerspruch verspätet gewesen sein.

Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn nach § 167 ZPO auf die Einreichung der Klage am 10.08.2014 abzustellen wäre. Da die Verzögerung zwischen Fristablauf mit Ablauf des 14.08.2014 und der tatsächlichen Zustellung am 23.08.2014 weniger als zwei Wochen beträgt, erfolgte die Zustellung jedenfalls demnächst im Sinne des § 167 ZPO (vgl. hierzu den Problemaufriss).

Fraglich ist aber, ob § 167 Var. 1 ZPO überhaupt auf die Wahrung der Widerspruchsfrist des § 545 S. 1 BGB anwendbar ist.

aa) Nach e.A. gilt § 167 ZPO nicht

In der Rechtsprechung der Instanzgerichte und in der mietrechtlichen Literatur wird unter Bezugnahme auf eine ältere Rechtsprechung des BGH8 überwiegend die Auffassung vertreten, dass die Vorschrift des § 167 ZPO auf die Frist des § 545 BGB keine Anwendung findet.9

Zur Begründung wird vor allem angeführt, dass die Vorschrift des § 167 ZPO restriktiv auszulegen sei und deshalb nur für Fristen gelte, die nicht durch außergerichtliche Geltendmachung, sondern nur durch Inanspruchnahme der Gerichte gewahrt werden könnten, wie etwa die Hem­mung der Verjährung (§ 204 I Nr. 1 BGB).

Auch stehe der Zweck des § 545 BGB, alsbald Klarheit über die Beendigung des Mietverhältnisses zu erlangen, einer Anwendung des § 167 ZPO entgegen.

bb) Nach neuer Rechtsprechung des BGH gilt § 167 ZPO auch für Fristen, die durch außergerichtliche Geltendmachung gewahrt werden können

Mit Urteil vom 17.07.2008 hat der BGH allerdings seine ältere, restriktive Rechtsprechung aufgegeben und entschieden, dass § 167 ZPO regelmäßig auch auf Fristen anzuwenden ist, die auch durch außergerichtliche Geltendmachung gewahrt werden können.10

Diese Rechtsprechung hat der BGH in der hier zu besprechenden Entscheidung nun bestätigt.

(1) Klageerhebung ist stärkste Form der Geltendmachung

Der BGH stellt dabei vor allem auf Gesichtspunkte der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes ab.

Der Wortlaut des § 167 ZPO bietet keine Anhaltspunkte dafür, dass die Zustellung davon abhängt, ob mit der Zustellung eine nur gerichtlich oder auch eine außergerichtlich geltend zu machende Frist gewahrt werden soll und ob die Zustellung durch Vermittlung des Gerichts oder eines Gerichtsvollziehers (§ 132 BGB) erfolgt.

Wer mit der Klage die stärkste Form der Geltendmachung von Ansprüchen wählt, muss sich darauf verlassen können, dass die Einreichung der Klageschrift die Frist wahre.

Für die Wahrung der in § 545 BGB bestimmten Frist gilt nichts anderes. Auch insoweit findet § 167 ZPO Anwendung. Eindeutiger als durch die Einreichung einer Räumungsklage kann der Vermieter seinen Widerspruch gegen die Verlängerung des Mietverhältnisses nach § 545 BGB nicht zum Ausdruck bringen.

Ein rechtzeitiger Widerspruch gegen die Verlängerung des Mietverhältnisses kann mithin auch dadurch erfolgen, dass innerhalb der Widerspruchsfrist eine Räumungsklage eingereicht wird, deren Zustellung „demnächst" im Sinne des § 167 ZPO erfolgt.

(2) § 545 BGB ist nicht mit § 121 BGB vergleichbar, für den § 167 ZPO nicht gilt

Für die Anfechtungsfrist macht der BGH aber eine Ausnahme und wendet § 167 ZPO für die Fristwahrung nicht an.11 Die Anfechtung muss nämlich „unverzüglich", d.h. ohne schuldhaftes Zögern, erklärt werden, § 121 I S. 1 BGB. Hier steht also das Interesse des Anfechtungsgegners im Vordergrund, alsbald darüber Klarheit zu erlangen, ob der Anfechtungsberechtigte von seinem Gestaltungsrecht Gebrauch macht.

Der Widerspruch nach § 545 BGB ist aber nicht mit der Anfechtung nach §§ 119 f. BGB vergleichbar. § 545 BGB bezweckt, einen vertragslosen Zustand zu vermeiden, der ohne diese Vorschrift - von den Parteien unbemerkt - auch für einen längeren Zeitraum eintreten und zu erheblichen rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten bei der in diesem Fall erforderlichen Abwicklung nach den Vorschriften des Bereicherungsrechts oder des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses führen könnte.

Diesem Gesetzeszweck steht es nicht entgegen, die innerhalb der zweiwöchigen Frist eingereichte und „demnächst" im Sinne des § 167 ZPO zugestellte Räumungsklage für die rechtzeitige Erhebung des Widerspruchs ausreichen zu lassen. Denn auch durch die Einreichung einer Räumungsklage ist sichergestellt, dass binnen einer Frist von zwei Wochen ab Ende des Mietverhältnisses die alsbaldige Abwicklung des Mietverhältnisses in die Wege geleitet wird.

3. Ergebnis

Der Widerspruch erfolgte gem. § 167 Var. 1 ZPO am 10.08.2014 mit der Einreichung der Räumungsklage und damit rechtzeitig innerhalb der Zwei-Wochen-Frist des § 545 S. 1 BGB.

Aufgrund der wirksamen Kündigung zum 31.07.2014 und mangels Verlängerung des Mietverhältnisses gem. § 545 BGB ist die Räumungsklage des V begründet.

II. Begründetheit der Klage auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung

Die Entschädigungsklage wäre begründet, wenn dem V gegen AG gem. § 15 II AGG ein Anspruch auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung zusteht.

1. Vorliegen der Voraussetzungen des § 15 II AGG

a) V ist als Bewerber gem. § 6 I S. 2 AGG als Beschäftigter i.S.d. AGG anzusehen.

b) AG hat als Arbeitgeber (vgl. § 6 II S. 1 AGG) den V beim Zugang zu einer nichtselbstständigen Erwerbstätigkeit (vgl. § 2 I Nr. 1 AGG) wegen dessen Behinderung und damit wegen eines in § 1 AGG genannten Diskriminierungsmerkmals unmittelbar benachteiligt (§ 3 I S. 1 AGG).

c) Da sich die Behinderung des V für die ausgeschriebene Tätigkeit nicht auswirkt, war die Benachteiligung nicht nach § 8 I AGG gerechtfertigt, sodass AG gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 I AGG verstoßen hat.

d) Gem. § 15 II AGG steht V wegen seines immateriellen Schadens ein Anspruch auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung in Geld zu.

Nach Ansicht des BGH setzt dieser Anspruch kein schuldhaftes Verhalten des Arbeitgebers voraus.12

Eine Exkulpation gem. § 15 I S. 2 AGG kommt daher nicht in Betracht.

Zwischenergebnis: V steht daher ein Anspruch auf eine angemessene Entschädigung zu, deren Höhe in das billige Ermessen des Gerichts gestellt werden darf.

hemmer-Methode: Der Klageantrag kann daher entgegen § 253 II Nr. 2 ZPO -- wie bei einer Klage auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes nach § 253 II BGB -- unbestimmt gestellt werden.

Für § 15 II AGG ist aber zu beachten, dass die Entschädigung nach § 15 II S. 2 AGG bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen darf, wenn der Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre. Da dem V bereits eine Stelle in Aussicht gestellt wurde, kommt diese Beschränkung im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung.

Anmerkung: Hüten Sie sich davor, im Gutachten zu großzügig vom Urteilsstil Gebrauch zu machen. Dies ist nur dann zulässig, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs -- wie im vorliegenden Fall -- unproblematisch gegeben sind.

2. Ausschluss des Anspruchs gem. §15 IV AGG

Für die Geltendmachung seines Entschädigungsanspruches muss der AN bzw. der Bewerber die materielle Ausschlussfrist des § 15 IV AGG einhalten.

Die Frist beträgt grundsätzlich zwei Monate. Sie beginnt nach § 15 IV S. 2 AGG im Falle der Bewerbung mit dem Zugang der Ablehnung, im vorliegenden Fall also am 23.06.2014.

V hätte daher den Anspruch auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung bis spätestens 23.08.2014 schriftlich gegenüber AG geltend machen müssen.

a) Die Zustellung der Klage am 25.08.2014 erfolgte zu spät

Im vorliegenden Fall hat V, ohne von AG eine Entschädigungszahlung zu verlangen, unmittelbar durch R Klage erheben lassen.

Die Geltendmachung eines Anspruchs muss als sog. „rechtsgeschäftsähnliche Handlung" analog § 130 BGB rechtzeitig zugehen. Ein solcher Zugang i.S.d. § 130 I BGB liegt bei einer Klageerhebung aber erst dann vor, wenn dem Beklagten die Klageschrift zugestellt wird.

Da die Klage dem AG erst am 25.08.2014 zugestellt wurde, könnte der Anspruch gem. § 15 IV AGG verfallen sein.

b) Vorverlagerung auf Zeitpunkt der Anhängigkeit gem. § 167 Var. 1 ZPO?

Das BAG hat bisher die Ansicht vertreten, dass § 167 ZPO auf eine Frist, die auch ohne Prozesshandlung durch formlose Erklärung gegenüber dem Arbeitgeber gewahrt werden kann, keine Anwendung findet.13

hemmer-Methode: Nach §** **61b I ArbGG muss binnen dreier Monate nach schriftlicher Geltendmachung des Anspruchs auch Klage auf Zahlung der Entschädigung erhoben werden, um einen Verfall zu verhindern.

§ 15 IV AGG, § 61b I ArbGG enthalten daher eine gesetzlich geregelte zweistufige Ausschlussfrist.

Für die Wahrung der zweiten Stufe ist nach allgemeiner Meinung § 167 ZPO anwendbar.

Das BAG gibt in der vorliegenden Entscheidung seine veraltete Rechtsprechung auf und folgt der geänderten Rechtsprechung des BGH.

§ 167 ZPO ist daher auch auf die Geltendmachung des Anspruchs nach § 15 IV AGG anwendbar, obwohl diese Geltendmachung auch außergerichtlich möglich ist.

aa) Erst-Recht-Schluss aus § 132 I S. 1 BGB

Unter den verschiedenen Möglichkeiten für den Zugang einer Willenserklärung lässt § 132 I S. 1 BGB -- anstelle des Zugangs -- die Zustellung einer Willenserklärung durch Vermittlung eines Gerichtsvollziehers zu. Sie entfaltet Rückwirkung. Es ist nicht gerechtfertigt, einer Zustellung durch Vermittlung des Gerichts in gleichartigen Fällen die Rückwirkung zu versagen.

Mit einer Zustellung nach § 132 I S. 1 BGB können Fristen eingehalten werden, die nicht gerichtlicher Geltendmachung bedürfen. Soll durch eine solche Zustellung eine Frist gewahrt werden, tritt diese Wirkung nach § 132 I S. 2 BGB i.V.m. §§ 191, 192 II S. 1, 167 ZPO bereits mit Übergabe des die Willenserklärung enthaltenden Schriftstücks an den Gerichtsvollzieher ein, wenn die Zustellung demnächst erfolgt.14

Für eine Zustellung durch Vermittlung des Gerichts gilt in gleichartigen Fällen nichts anderes. Bei der Geltendmachung einer Forderung handelt es sich um einen gleichartigen Fall.

bb) Rechtssicherheit, Vertrauensschutz

Die Gesichtspunkte der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sprechen für eine Anwendung des § 167 ZPO bei einer Zustellung durch Vermittlung des Gerichts im Hinblick auf die Wahrung einer Frist, die auch durch außergerichtliche Geltendmachung eingehalten werden kann.

Wer mit der Klage die stärkste Form der Geltendmachung von Ansprüchen wählt, muss sich deshalb darauf verlassen können, dass die Einreichung der Klageschrift die Frist wahrt. Dies gilt umso mehr, wenn -- wie im Fall des § 15 IV S. 1 AGG -- die Schriftform auch durch eine Klage gewahrt werden kann.

Die Geltendmachung eines Anspruchs i.S.v. § 15 IV S. 1 AGG ist zwar keine -- in § 132 I S. 1 BGB ausdrücklich genannte -- Willenserklärung, sondern eine einseitige rechtsgeschäftsähnliche Handlung. Die Interessenlage ist aber vollkommen vergleichbar.

3. Ergebnis

Die Frist zur Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs wurde daher gem. § 167 Var. 1 ZPO durch die am 11.08.2014 eingereichte Entschädigungsklage gewahrt, da die Zustellung lediglich zwei Tage nach Fristablauf und damit „demnächst" erfolgte.

III. Endergebnis

Die Klagen des V gegen M und AG sind jeweils begründet.

D) Kommentar

(mty). Das BAG ändert seine Rechtsprechung und folgt damit der neueren Rechtsprechung des BGH.

Dies ist wenig überzeugend.

Natürlich ist die Erhebung der Klage im Vergleich zur Schriftform kein aliud, sondern nur eine strengere Form auf sonst gleicher Ebene. Die Schriftform kann folglich nach den allgemeinen Grundsätzen durch die strengere Form der Klageerhebung gewahrt werden.

Auf den nach § 130 I BGB erforderlichen Zugang einer Willenserklärung bzw. einer geschäftsähnlichen Handlung gem. § 167 ZPO zu verzichten, ist nur gerechtfertigt, wenn dem Kläger nach Einreichung der Klage keinerlei Einfluss auf die rechtzeitige Zustellung verbleibt, weil er insbesondere keine andere Möglichkeit hat, den Zugang beim Empfänger zu bewirken.

In diesem Fall wäre es unbillig, dem Erklärenden das Risiko einer gerichtlichen Verzögerung aufzubürden. Besteht hingegen für den Erklärenden wie im Fall des § 545 BGB bzw. § 15 IV AGG die Möglichkeit, auf andere Weise formgerecht den Zugang zu bewirken, so liegt dieser Ausnahmetatbestand, der die Anwendung von § 167 ZPO rechtfertigen würde, nicht vor. Es liegt dann vielmehr nach den allgemeinen Grundsätzen in der Verantwortung des Erklärenden, denjenigen Übermittlungsweg zu wählen, der tatsächlich einen rechtzeitigen Zugang gewährleistet.

Im Übrigen fördert die neue Rechtsprechung letztlich die Einleitung von Prozessen. Sie entspricht daher nicht dem Ziel des Gesetzgebers, Prozesse zu vermeiden und vorab außergerichtlich eine Klärung herbeizuführen. In vielen Fällen reicht nämlich bereits ein außergerichtliches Anwaltsschreiben, um dem Gegner den Ernst der Lage vor Augen zu führen.

Auf den Empfänger wird nämlich überhaupt keine Rücksicht genommen. Wenn jemand die Möglichkeit hat, außerhalb eines Gerichtsverfahrens eine Frist zu wahren, muss sich die andere Partei darauf verlassen können, dass mit Fristablauf auch Rechtssicherheit besteht.

Die Ansicht des BGH und des BAG verkehren mithin eine Ausnahme unzulässigerweise zur Regel.

Statt einer erweiterten Anwendung des §167 ZPO hätte es vielmehr einer Verdeutlichung seiner Grenzen bedurft.15

Für das Examen empfehlen wir Ihnen
folgendes Vorgehen
:

1. Im Zweiten Staatsexamen wäre es sinnvoll, der neuen Rechtsprechung des BAG und des BGH zu folgen.

2. Im Ersten Staatsexamen können Sie -- nach Darlegung der neueren Rechtsprechung -- aber auch sehr gut der anderen Ansicht folgen und eine Anwendung des § 167 ZPO ablehnen.

E) Zur Vertiefung

  • Kündigung bei der Wohnraummiete

Hemmer/Wüst, Schuldrecht III, Rn. 266 ff.

  • Ersatz für immaterielle Schäden gem. § 15 II AGG

Hemmer/Wüst, Arbeitsrecht, Rn. 371b f.

F) Wiederholungsfragen

1. Was ist Sinn und Zweck des § 167 ZPO?

2. Warum gilt nach Ansicht des BAG und des BGH § 167 ZPO auch für Fristen, die durch außergerichtliche Geltendmachung gewahrt werden können?


  1. Vgl. BGH, Life & Law 2002, 740 ff.

  2. Vertiefungshinweis für Referendare: Bei der Berechnung der Zeitdauer der Verzögerung ist auf die Zeitspanne abzustellen, um die sich der ohnehin erforderliche Zeitraum für die Zustellung der Klage als Folge der Nachlässigkeit des Klägers verzögert, vgl. BGH, Life & Law 06/2011, 395 ff. = BGH, NJW 2011, 1227 ff.

  3. Schönfelder, Ordnungsnummer 115.

  4. Vgl. hierzu BGH, Life & Law 11/2006, 753 ff. = NJW 2006, 3206 ff.

  5. Vgl. BAG, NZA 1998, 1225 ff.

  6. Vgl. hierzu zuletzt BGH, Life & Law 11/2014, 801 ff. = NJW 2014, 2566 ff.

  7. Hinweis: Für die Kündigung eines Geschäftsraum- bzw. Grundstücksmietvertrags ist § 568 I BGB nicht anwendbar, da § 578 BGB nicht auf § 568 I BGB verweist.

  8. BGH, NJW 1982, 172 ff. BGH, WM 1971, 383 ff.

  9. OLG Stuttgart, WuM 1987, 114 LG Berlin, NZM 2001, 40 Palandt, § 545 BGB, Rn. 9; Staudinger, § 545 BGB, Rn. 13; MüKo, § 545 BGB, Rn. 13; Erman, § 545 BGB, Rn. 9; Soergel, § 545 BGB, Rn. 9; Prütting/Wegen/Weinreich, § 545 BGB, Rn. 9; Schmidt-Futterer/Blank, Mietrecht, § 545 BGB, Rn. 22; Stein/Jonas/Roth, 22. Aufl., § 167 ZPO, Rn. 3

  10. BGHZ 177, 319

  11. BGH, NJW 2009, 765 ff.

  12. BAG, NZA 2009, 945 ff.

  13. Vgl. BAG, NZA 1998, 1225 ff.

  14. Vgl. BGHZ 177, 319

  15. So auch Boemke, jurisPR-ArbR 40/2014 Anm. 2