Es gibt auch fehlerhaften Strom!

BGH, Urteil vom 25.02.2014, VI ZR 144/13 = DB 2014, 892 ff.

von Life and Law am 01.06.2014

+++ Produkthaftung bei Überspannungsschäden +++ Strom als Produkt +++ Herstellerbegriff i.S.d. ProdHaftG +++ §§ 1 I S. 1, 2, 3 I, 4 I ProdHaftG+++

Sachverhalt: A verlangt von B Schadensersatz wegen eines Überspannungsschadens.

B betreibt ein kommunales Stromnetz und stellt dieses den Stromproduzenten (Einspeisern) und Abnehmern zur Verfügung. Dazu transformiert sie den Strom auf eine andere Spannungsebene (Niederspannung). A ist mit seinem Haus an das Niederspannungsnetz der B angeschlossen.

Am 6. Mai 2009 gab es eine Störung der Stromversorgung im Wohnviertel des A. Nach einem Stromausfall trat in seinem Hausnetz eine Überspannung auf, durch die mehrere Elektrogeräte und die Heizung beschädigt wurden. Die Ursache für die Überspannung lag in der Unterbrechung von zwei sog. PEN-Leitern (PEN = protective earth neutral) in der Nähe des Hauses des A, über die sein Haus mit der Erdungsanlage verbunden war.

B argumentiert, sie sei nicht Herstellerin des Stroms. Außerdem sei der Strom nach Abschluss der Transformation fehlerfrei gewesen. Für Probleme, die danach auftreten, sei sie keinesfalls verantwortlich.

Hat A gegen B dem Grunde nach einen Anspruch auf Schadensersatz?

A) Sounds

1. Führt eine übermäßige Überspannung zu Schäden an üblichen Verbrauchsgeräten, liegt ein Fehler des Produkts Strom vor.

2. Nimmt der Betreiber des Stromnetzes Transformationen auf eine andere Spannungsebene -- hier in die sog. Niederspannung für die Netzanschlüsse von Letztverbrauchern -- vor, ist er Hersteller des Produkts Elektrizität.

3. In diesem Fall ist das Produkt Elektrizität erst mit der Lieferung des Netzbetreibers über den Netzanschluss an den Anschlussnutzer in den Verkehr gebracht.

B) Problemaufriss

Überspannungsschäden verursachen jährlich Belastungen in Milliardenhöhe. Typischerweise sind diese Schäden die Folge von Blitzeinschlägen. In solchen Fällen kommt eine zivilrechtliche Haftung des Netzbetreibers bzw. des Stromversorgers von vorneherein nicht in Betracht. Im vertraglichen Bereich fehlt es an der Pflichtverletzung. Zudem fehlt es an einer schuldhaften deliktischen Handlung. Auch die Gefährdungshaftung gem. § 1 I S. 1 ProdHaftG scheidet aus, weil der Schaden nicht auf einem fehlerhaften Produkt basiert.

Da ein Verschuldensvorwurf vorliegend ebenfalls nicht gemacht werden konnte, kam es letztlich allein auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 I S. 1 ProdHaftG an.

Anmerkung: Grundsätzlich stehen Ansprüche aus Produkthaftung und Deliktsrecht (sog. Produzentenhaftung) in Anspruchskonkurrenz, vgl. § 15 II ProdHaftG. Da die Gefährdungshaftung weniger strengen Voraussetzungen unterliegt, entspricht es grundsätzlich der praktischen Vorgehensweise, mit Ansprüchen aus dem ProdHaftG zu beginnen. Dies gilt allerdings nicht, wenn es um Sachschäden geht. Denn gem. § 11 ProdHaftG besteht hier ein Selbstbehalt in Höhe von 500,- €. Eine Klage kann bei Sachschäden daher von vorneherein nur dann vollständig erfolgreich sein, wenn eine deliktische Verantwortlichkeit gegeben ist, da es eine Selbstbeteiligung im Deliktsrecht nicht gibt. Ein Richter würde daher stets mit der Prüfung deliktischer Ansprüche beginnen, weil dem Klageantrag nur dann voll entsprochen werden kann, wenn ein Tatbestand der §§ 823 ff. BGB voll verwirklicht ist. Da vorliegend eine deliktische Haftung nicht in Betracht kommt, haben wir die Darstellung auf die Prüfung des Anspruchs aus § 1 I S. 1 ProdHaftG beschränkt. In der Klausur sollten Sie allerdings kurz auf § 823 I BGB eingehen und im Hinblick auf das fehlende Verschulden einen Anspruch ablehnen.

C) Lösung

Zu prüfen ist, ob A von B dem Grunde nach ein Anspruch auf Schadensersatz zusteht.

I. Anspruch aus § 1 I S. 1 ProdHaftG

Ein Anspruch könnte sich aus § 1 I S. 1 ProdHaftG ergeben. Dann müssten die bei A eingetretenen Schäden durch einen Fehler eines von B hergestellten, fehlerhaften Produkts verursacht worden sein.

Gem. § 2 ProdHaftG ist neben beweglichen Sachen auch Elektrizität ein Produkt im Sinne des Produkthaftungsgesetzes.

1. Fehlerhafte Elektrizität

Fraglich ist jedoch, ob der Strom fehlerhaft gem. § 3 I ProdHaftG ist. Dies wäre dann der Fall, wenn er nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände berechtigterweise erwartet werden kann.

a) Problem: Beurteilung bei Strom

Zu klären ist daher, ob das Produkt „Strom" aufgrund der Überspannung als fehlerhaft im Sinne der Norm bezeichnet werden kann. Abzustellen ist dabei nicht auf die subjektive Sicherheitserwartung des jeweiligen Benutzers, sondern objektiv darauf, ob das Produkt diejenige Sicherheit bietet, die die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält.1

Die nach § 3 I ProdHaftG maßgeblichen Sicherheitserwartungen beurteilen sich grundsätzlich nach denselben objektiven Maßstäben wie die Verkehrspflichten des Herstellers im Rahmen der deliktischen Haftung gem. § 823 I BGB. Dabei kann die Beachtung gesetzlicher Sicherheitsvorschriften oder die Befolgung technischer Normen, wie z.B. DIN-Normen oder sonstiger technischer Standards, von Bedeutung sein, wobei dies allerdings nicht bedeutet, dass ein Produkt bei Befolgung solcher Normen immer als fehlerfrei angesehen werden müsste.

Die Verordnung über Allgemeine Bedingungen für den Netzanschluss und dessen Nutzung für die Elektrizitätsversorgung in Niederspannung konkretisiert in ihrem Anwendungsbereich die berechtigten Sicherheitserwartungen an das Produkt Elektrizität. Gem. § 16 III NAV2 hat der Netzbetreiber Spannung und Frequenz möglichst gleichbleibend zu halten; allgemein übliche Verbrauchsgeräte und Stromerzeugungsanlagen müssen einwandfrei betrieben werden können.

b) Beurteilung im Fall

Danach liegt ein Verstoß gegen die berechtigten Sicherheitserwartungen in das Produkt Elektrizität jedenfalls dann vor, wenn eine Überspannung wie im Streitfall zu Schäden an üblichen Verbrauchsgeräten führt. In diesem Fall ist der Bereich der Spannungsschwankungen, mit denen der Verkehr rechnen muss, nicht mehr eingehalten. Es wird allgemein angenommen, dass zumindest bei übermäßigen Frequenz- oder Spannungsschwankungen eine Haftung nach § 1 ProdHaftG ausgelöst werden kann.

Vorliegend ist davon auszugehen, dass das Produkt Elektrizität fehlerhaft war, weil -- wegen der Unterbrechung der beiden PEN-Leiter -- eine übermäßige Überspannung auftrat.

2. B als Hersteller?

Fraglich ist allerdings, ob B auch als Hersteller des fehlerhaften Stroms i.S.d. § 4 I ProdHaftG angesehen werden kann.

a) Definition des Herstellers

Nach dieser Vorschrift ist Hersteller im Sinne des ProdHaftG, wer das Endprodukt, einen Grundstoff oder ein Teilprodukt hergestellt hat. Eine Definition des Herstellens enthält die Vorschrift indes nicht. Sie bestimmt nur, wer dem Herstellerkreis haftungsrechtlich zugeordnet werden muss.

Wer im Einzelfall Hersteller des Produkts Elektrizität ist, ist im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung des § 4 I ProdHaftG zu ermitteln.

b) Orientierung an Richtlinie

Die Auslegung muss sich so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen.

Anmerkung: Die hier relevante Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, auf deren Basis das deutsche ProdHaftG geschaffen wurde, haben wir bewusst nicht abgedruckt. Sofern man im Examen eine intensive Auseinandersetzung damit verlangt, könnten Sie erwarten, dass entsprechende Passagen dem Sachverhalt beigefügt sind. Sie sollten aber generell wissen, ob ein Gesetz einen „europarechtlichen" Hintergrund hat oder nicht.

In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Richtlinie unter anderem das Ziel verfolgt, den Schutz der Verbraucher zu gewährleisten.3

Bei der Auslegung des Herstellerbegriffs ist der enge Zusammenhang zu dem Produktbegriff des § 2 ProdHaftG zu berücksichtigen. Der Herstellerbegriff setzt danach grundsätzlich das „Erzeugen eines Produkts" im Sinne des § 2 ProdHaftG voraus. Damit sind alle Personen gemeint, die in eigener Verantwortung an dem Prozess des Herstellens des Produkts beteiligt waren. Daher haften alle am Produktionsprozess Beteiligten, wenn das Endprodukt oder der von ihnen gelieferte Bestandteil oder Grundstoff fehlerhaft ist.

Hersteller ist demnach jeder, in dessen Organisationsbereich das Produkt entstanden ist. Der Umkehrschluss aus der Lieferantenhaftung nach § 4 III ProdHaftG ergibt, dass die Herstellung vom Produktvertrieb bzw. Produkthandel abzugrenzen ist. Für die Abgrenzung ist entscheidend, ob in die Produktgestaltung oder in eine wesentliche Produkteigenschaft eingegriffen wird oder ob eine im Vergleich mit dem Herstellungsprozess nur unerhebliche Manipulation am Produkt erfolgt.

Dabei kommt es insbesondere auf die sicherheitsrelevanten Eigenschaften des Produkts an. Es kommt hingegen nicht darauf an, ob der Hersteller zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts feststellbar war oder nicht. Dieser Gesichtspunkt kann allein für die Frage von Bedeutung sein, ob ein Lieferant gem. § 4 III ProdHaftG wie ein Hersteller haftet.4

c) Beurteilung bezogen auf B als Netzbetreiberin

Fraglich ist, ob B nach diesen Grundsätzen als Herstellerin des Produkts Elektrizität anzusehen ist.

Dafür spricht zunächst, dass B als Betreiberin des Stromnetzes Transformationen auf eine andere Spannungsebene, nämlich die sog. Niederspannung für die Netzanschlüsse von Letztverbrauchern, vornimmt. In diesem Fall wird -- anders als bei einem reinen Lieferungs- oder Weiterverteilungsunternehmen -- die Eigenschaft des Produkts Elektrizität durch den Betreiber des Stromnetzes in entscheidender Weise verändert, weil es nur nach der Transformation für den Letztverbraucher mit den üblichen Verbrauchsgeräten nutzbar ist.

Folgerichtig ist anzunehmen, dass in einem solchen Fall der „Lieferant" der Elektrizität mit der von ihm geänderten Eigenschaft als Hersteller anzusehen ist.

Anmerkung: Dies ist der entscheidende Aspekt. Der Netzbetreiber beschränkt sich eben nicht auf ein reines „Durchleiten", sondern wirkt auf den durchzuleitenden Strom ein. Der Verbraucher wird also nur mit diesem erst dadurch „fertig hergestellten" Strom beliefert.

3. Ausschluss gem. § 1 II Nr. 2 ProdHaftG?

Möglicherweise haftet B aber deshalb nicht, weil ihre Haftung gem. § 1 II Nr. 2 ProdHaftG ausgeschlossen ist.

Nach dieser Vorschrift haftet ein Hersteller dann nicht, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Produkt den Fehler, der den Schaden verursacht hat, noch nicht hatte, als der Hersteller es in den Verkehr brachte. Der Hersteller soll nicht für Beeinflussungen des Produkts haften müssen, die außerhalb seiner Risikosphäre stattfinden, d.h. nachdem er das Produkt aus seinem Einflussbereich entlassen hat.

a) Maßgeblicher Zeitpunkt bei Strom?

Fraglich ist daher, wann das Produkt durch B inverkehrgebracht wurde.

Davon ist auszugehen, wenn das Produkt den vom Hersteller eingerichteten Prozess der Herstellung verlassen hat und in einen Prozess der Vermarktung eingetreten ist, in dem es in ge- oder verbrauchsfertigem Zustand öffentlich angeboten wird. Dabei sind die Besonderheiten des Produkts Elektrizität zu berücksichtigen.

b) Nicht Umspannung, sondern Lieferung an Letztverbraucher maßgeblich

Im Hinblick darauf liegt ein Inverkehrbringen des Produkts Elektrizität erst mit der Lieferung des von dem Netzbetreiber übergabefähig transformierten Stroms über den Netzanschluss an den Anschlussnutzer vor. Denn der Netzbetreiber ist gerade für die Stromqualität am Netzanschluss verantwortlich.

Der Netzanschluss verbindet das Elektrizitätsversorgungsnetz der allgemeinen Versorgung mit der elektrischen Anlage des Anschlussnehmers. Er beginnt an der Abzweigstelle des Niederspannungsnetzes und endet grundsätzlich mit der Hausanschlusssicherung.

Netzanschlüsse werden durch den Netzbetreiber hergestellt. Sie gehören noch zu den Betriebsanlagen des Netzbetreibers. Die Nutzung durch den Letztverbraucher mit den üblichen Verbrauchsgeräten beginnt mithin beim Netzanschluss und setzt einen fehlerhaften Strom zum Zeitpunkt der Entnahme des Stroms aus dem Elektrizitätsversorgungsnetz der allgemeinen Versorgung voraus.

Nur dies wird den Interessen der Anschlussnutzer gerecht, für die entscheidend ist, dass ihnen eine fehlerfreie Elektrizität über ihren Stromanschluss zur Verfügung gestellt wird.

c) Insbesondere Verbraucherschutzerwägungen

Aus Verbraucherschutzgründen kann sich B auch nicht darauf berufen, der Herstellungsprozess „Umwandung von Strom aus Mittelspannung in Niederspannung" sei mit der fehlerfreien Umspannung und Einspeisung in das Niederspannungsnetz abgeschlossen.

Zwar qualifiziert jedenfalls die Umspannung die B als Herstellerin im Sinne des Produkthaftungsgesetzes. Daraus folgt aber nicht, dass das Produkt Elektrizität mit Abschluss des Umspannungsprozesses auch ihre Sphäre als Herstellerin verlassen hat. Denn ihre Verantwortung für die Qualität des gelieferten Stroms wirkt bis zum Zeitpunkt der Übergabe an den Anschlussnutzer weiter. Dafür, dass der Strom auch noch in diesem Zeitpunkt fehlerfrei war, lässt sich dem Sachverhalt jedoch nichts entnehmen, sodass dies aufgrund von § 1 IV ProdHaftG zu Lasten der B geht.

II. Endergebnis

B hat fehlerhaften Strom hergestellt, durch welchen A geschädigt wurde. A hat demnach einen Anspruch aus § 1 I S. 1 ProdHaftG.

D) Kommentar

(cda). Die Entscheidung ist nicht zuletzt aus Verbraucherschutzerwägungen heraus überzeugend. Dem Verbraucher wird relativ egal sein, wann und wo der Strom umgewandelt wurde; relevant ist für ihn, wie er aus der Steckdose kommt.

Lassen Sie sich von dem atypischen Aufhänger für die Produkthaftungsprüfung nicht abschrecken. Der Korrektor erwartet „lediglich" eine engagierte Auseinandersetzung mit dem Gesetzestext!

E) Zur Vertiefung

  • Produkthaftung

Hemmer/Wüst, Deliktsrecht II, Rn. 347 ff.

F) Wiederholungsfragen

  1. Warum ist in der Stromtransformation eine Herstellung i.S.d. Produkthaftungsrechts zu sehen?
  2. Warum kommt es für den Zeitpunkt des Inverkehrbringens nicht auf den Abschluss des Transformationsprozesses an?

  1. BGH, VersR 2009, 649 ff.

  2. § 16 III NAV (Niederspannungsanschlussverordnung) lautet: „Der Netzbetreiber hat Spannung und Frequenz möglichst gleichbleibend zu halten. Allgemein übliche Gebrauchsgeräte und Stromerzeugungsanlagen müssen einwandfrei betrieben werden können ... "

  3. Das gilt jedenfalls für Sachschäden, vgl. § 1 I S. 2 ProdHaftG. Sofern es um Gesundheitsbeeinträchtigungen geht, ist selbstverständlich auch ein unternehmerisch tätiger Mensch geschützt, wenn dieser durch ein fehlerhaftes Produkt verletzt wird, welches er für sein Unternehmen angeschafft hat.

  4. BGH, VersR 2005, 1297 f.