Der vermeintliche Simulant -- Zum Irrtum über die Fortdauer einer Notwehrlage

BGH, Beschluss vom 21.08.2013 -- 1 StR 5449/13

von Life and Law am 01.05.2014

+++ Erlaubnistatbestandsirrtum bei Putativnotwehrlage +++ Notwehrlage bei zeitlich versetzten Handlungsabläufen, § 32 StGB +++ Fahrlässige Tötung, § 222 StGB +++

Sachverhalt (leicht abgewandelt): S besuchte am Abend des 22. Mai 2013 seinen flüchtigen Bekannten A in dessen Wohnung. S hatte eine Flasche Wodka besorgt, welche er mit A zusammen trinken wollte. A ließ S ein und sie tranken zusammen Wodka mit Eistee, bis die Flasche leer war. S wies danach eine Blutalkoholkonzentration von 2,7 Promille auf, A hatte eine BAK von 2,2 Promille. Kurz vor 22:00 Uhr wollte A zu Bett gehen und bot S an, er könne auf der Couch übernachten. Als A ins Schlafzimmer gehen wollte, zog S ihn kräftig und ruckartig auf die Couch zurück. Gleichzeitig sagte S, der nicht damit einverstanden war, dass der Abend nun beendet werden sollte, in strengem Ton: „Sitzen!". A wiederholte, dass er jetzt müde sei und schlafen gehen möchte. Als A erneut versuchte aufzustehen, versetzte ihm S einen kräftigen Schlag mit der Faust gegen den Kopf. Einem folgenden Faustschlag konnte A reflexartig ausweichen. Obgleich A nun S eindringlich sagte, dass er damit aufhören solle und jetzt Schluss sei, ließ dieser sich nicht beruhigen. S war weiterhin aggressiv und wollte abermals mit den Fäusten auf A einschlagen, der die Schläge ablenkte.

Daraufhin gelang es A, welcher in jungen Jahren Judo und Karate als Wettkampfsportler betrieben hatte, einen Armhebel bei S anzusetzen und dessen rechte Hand rücklings auf den Rücken zu drehen. Mit diesem Griff wollte A den S aus seiner Wohnung werfen, was aber nicht gelang, da S versuchte, sich aus diesem Griff herauszudrehen. A befürchtete nun, dass S, wenn er sich befreien könnte, erneut auf ihn losgehen und auf ihn einschlagen werde. Um dies zu verhindern, nahm er S von hinten stehend mit seinem linken Arm in den Schwitzkasten bzw. Würgegriff und drückte zu. Als S kurz darauf schwächer wurde, konnte A ihn immer noch im Schwitzkasten haltend zu Boden bringen. Um den Angriff zu beenden, hielt A den S weiter über einen Zeitraum von jedenfalls einer Minute fest im Schwitzkasten, wobei er aus seiner Zeit als Kampfsportler wusste, dass das Abdrücken beider Halsschlagadern zu einer lebensgefährlichen Sauerstoffunterversorgung des Gehirns führen kann. S wehrte sich am Boden liegend nicht mehr. Seine Atmung wurde stoßartig und sein Gesicht lief weiß an. A glaubte jedoch, dass S lediglich simulierte, was jedoch nicht der Fall war. Noch während des Würgegriffs rief A den Notruf der Polizei an, um deren Hilfe herbeizurufen. Nachdem A aufgelegt hatte, bemerkte er, dass S bewusstlos war und nicht mehr atmete. Daraufhin rief A die Rettungsleitstelle an und forderte einen Rettungsdienst an, bevor A selbst Maßnahmen der Ersten Hilfe leistete. Der eingetroffene Notarzt konnte S nicht mehr reanimieren. Dieser war aufgrund einer Sauerstoffunterversorgung des Gehirns infolge eines beiderseitigen Abdrückens der Halsschlagader bereits tot.

Hat sich A nach dem StGB strafbar gemacht?

A) Sounds

1. Eine Notwehrlage i.S.d. § 32 StGB dauert an, wenn der Notwehrberechtigte den Angreifer in einem Würgegriff hält und der Angreifer nur deshalb aufhört sich zu wehren, um aus dem Griff freizukommen und seine unberechtigten Angriffe gegen den Notwehrberechtigten fortzusetzen, d.h. seine Friedfertigkeit simuliert.

2. Ist der Angreifer hingegen tatsächlich bereits kampfunfähig, der Notwehrberechtigte glaubt aber, dass dieser nur simuliere (= Putativnotwehrlage), kommt ein Erlaubnistatbestandsirrtum in Betracht. Nach der h.M. scheidet dadurch eine vorsätzliche Tatbegehung auf Schuldebene aus. Eine Bestrafung wegen Fahrlässigkeit bleibt unberührt, wobei sich der Fahrlässigkeitsvorwurf auf den Irrtum des Täters beziehen muss.

3. Ein Würgegriff am Hals des Opfers stellt jedenfalls dann eine das Leben gefährdende Behandlung i.S.d. § 224 I Nr. 5 StGB dar, wenn dabei die Halsschlagader abgedrückt wird, sodass eine Sauerstoffunterversorgung des Gehirns des Opfers eintritt.

B) Problemaufriss

Der Erlaubnistatbestandsirrtum ist zweifellos ein Klassiker des Strafrechts und begleitet den Jurastudenten vom ersten Semester bis zum Staatsexamen. Gleichwohl verändert sich in dieser Zeit seine Bedeutung: Während er eine Abschlussklausur zum Strafrecht-AT dominieren kann, ist er in einer Examensklausur häufig nur „ein Problem von vielen" und muss einerseits zügig, andererseits hinsichtlich des Umfangs angemessen abgearbeitet werden.

Die dem Fall zugrunde liegende Entscheidung bietet die Möglichkeit, sich nochmals die Voraussetzungen und umstrittenen Rechtsfolgen des Erlaubnistatbestandsirrtums vor Augen zu führen. Zugleich kann anhand des Fall trainiert werden, einen Sachverhalt mit zeitlich komplexem Ablauf differenziert zu betrachten.

C) Lösung

Fraglich ist, ob bzw. wie sich A strafbar gemacht hat.

I. § 212 I StGB

A könnte sich wegen Totschlags gem. § 212 I StGB zulasten des S strafbar gemacht haben, indem er diesen im Schwitzkasten würgte.

S ist tot, sodass der tatbestandliche Erfolg eingetreten ist. Der Tod wurde kausal durch A verursacht, der den S über einen Zeitraum von jedenfalls einer Minute fest im Schwitzkasten hielt und dadurch die Sauerstoffversorgung des Gehirns des S dauerhaft unterbrach. Somit hat A objektiv tatbestandlich gehandelt.

Fraglich erscheint jedoch, ob A auch den subjektiven Tatbestand des Totschlags erfüllt hat. Hierzu müsste A vorsätzlich i.S.d. § 15 StGB gehandelt haben, wobei bedingter Vorsatz ausreicht. Ein solcher kommt in Betracht, wenn der Täter die Tatbestandsverwirklichung für möglich hält. Ferner bedarf es im Hinblick auf eine sachgerechte Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit eines voluntativen Elements. Der bedingt vorsätzlich Handelnde muss mit dem Eintritt des Erfolges in dem Sinne einverstanden sein, dass er ihn billigend in Kauf nimmt.1 Im vorliegenden Fall erkennt A zwar, dass sein Würgegriff die Halsschlagader des S abdrücken und zu einer tödlich verlaufenden Sauerstoffunterversorgung des Gehirns führen kann. Insofern hält A den Tod des S für möglich. Allerdings darf hieraus nicht ohne weiteres abgeleitet werden, dass A diesen auch billigend in Kauf nahm. Der Sachverhalt enthält keine Anhaltspunkte für eine Billigung des Todeseintritts durch A. Vielmehr spricht der Umstand, dass A noch während des Würgegriffs die Polizei um Hilfe anrief dafür, dass A den S nicht töten wollte, sondern eine anderweitige Lösung des Konflikts mit S anstrebte. Jedenfalls vor dem Hintergrund der erhöhten subjektiven Hemmschwelle bei Tötungsdelikten muss eine billigende Inkaufnahme des Todes durch A verneint werden.

Zwischenergebnis: A hat sich mangels Vorsatzes nicht wegen Totschlags gem. § 212 I StGB zulasten des S strafbar gemacht.

II. §§ 223 I, 224 I Nr. 5 StGB

A könnte sich wegen gefährlicher Körperverletzung gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 5 StGB zulasten des S strafbar gemacht haben, indem A bei S zunächst einen Armhebel ansetzte, A diesen anschließend im Schwitzkasten zu Boden brachte und dort letztlich über eine Minute fest im Schwitzkasten hielt.

1. Tatbestand

Sowohl der Armhebelgriff, bei dem A die rechte Hand des S rücklings auf dessen Rücken drehte, als auch der (andauernde) Würgegriff, bei dem A seinen linken Arm fest um den Kopf des S schlang, stellen eine üble, unangemessene Behandlung seitens A dar, die das körperliche Wohlbefinden und die körperliche Unversehrtheit des S erheblich beeinträchtigte.2 Mithin sind die Griffe als körperliche Misshandlungen i.S.d. § 223 I StGB zu werten. Infolge des Schwitzkastens kam es bei S zu einer Sauerstoffunterversorgung des Gehirns. Damit hat A bei S einen pathologischen Zustand hervorgerufen und ihn an seiner Gesundheit geschädigt.3 Der objektive Tatbestand des § 223 I StGB ist somit erfüllt.

Des Weiteren hat A die Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung i.S.d. § 224 I Nr. 5 StGB begangen. Der Würgegriff, bei dem A die Halsschlagader des S für mindestens eine Minute abschnürte, hat konkret das Leben des S gefährdet. Er führte tatsächlich sogar zum Tod des S. Demnach bedarf es hinsichtlich der Frage, ob es für eine Begehungsweise nach § 224 I Nr. 5 StGB ausreicht, dass die Behandlung nach den Umständen des Einzelfalls abstrakt generell lebensgefährdend ist, keiner Erörterung.4

A misshandelte S mit Wissen und Wollen, d.h. vorsätzlich. Ferner wusste A, dass der Würgegriff lebensbedrohlich sein kann und nahm diese Gefahr aus Sorge vor einem weiteren Angriff des zuvor aggressiv auftretenden S billigend in Kauf. Objektiver und subjektiver Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung sind daher erfüllt.

2. Rechtswidrigkeit

Allerdings könnte A gerechtfertigt sein. Im vorliegenden Fall könnte A aus Notwehr gem. § 32 StGB gehandelt haben. Dies setzt neben einer Notwehrlage eine erforderliche Notwehrhandlung sowie ein subjektives Rechtfertigungselement voraus. Aufgrund der verschiedenen Verletzungshandlungen und des zeitlich versetzten Ablaufs ist eine differenzierte Analyse des Gesamtgeschehens notwendig.

a) Armhebel und Würgegriff

Fraglich ist, ob A bei Anwendung des Armhebels und des anfänglichen Würgegriffs gerechtfertigt ist. Hierzu müsste zunächst eine Notwehrlage im Zeitpunkt der Tat vorgelegen haben. Darunter ist ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf ein notwehrfähiges Rechtsgut des Täters zu verstehen.5 Gegenwärtig ist ein Angriff, der unmittelbar bevorsteht, gerade begonnen hat oder noch andauert.6

Ausgangspunkt der Auseinandersetzung war die Ankündigung des A, das gemeinsame Gelage nun beenden und ins Bett gehen zu wollen. S wollte dies nicht akzeptieren und zog A zunächst ruckartig auf die Couch zurück. Nachdem dies A nicht vom Zubettgehen abrücken ließ, schlug der mittlerweile aggressive S kräftig mit der Faust gegen den Kopf des A. Auch nach eindringlicher Aufforderung des A an S, nun zu gehen, versuchte dieser weiter auf A einzuschlagen. Diese (teils versuchten) Faustschläge des S gegen A stellen einen rechtswidrigen Angriff seitens S dar, der noch andauerte, als A bei S den Armhebel anlegte, um diesen aus der Wohnung zu werfen. Auch in diesem Griff zeigte S Gegenwehr, sodass der Angriff auch fortdauerte, als A vom Armhebel in den Schwitzkasten überging.

Ferner müssten Armhebel und Schwitzkasten erforderliche Notwehrhandlungen sein. Hierzu müssten die Abwehrhandlungen nach den Umständen des Einzelfalls geeignet sein, den Angriff sofort zu beenden oder zumindest abzuschwächen und die Gefahr endgültig abzuwenden, und zugleich das relativ mildeste Mittel sein.7 Mit dem Armhebel und dem Würgegriff konnte A die Reihe von Faustschlägen, die S gegen ihn richtete, endgültig unterbrechen und den Angriff beenden. Damit waren die Handlungen zur Verteidigung geeignet. Sie waren auch die relativ mildesten Mittel, da A den S zuvor bereits ohne Erfolg mehrfach und eindringlich zum Gehen aufgefordert hatte. S verlangte stattdessen zunehmend aggressiver eine Fortsetzung des Abends. Im Ergebnis lag damit eine erforderliche Notwehrhandlung vor. Im Übrigen handelte A mit dem erforderlichen Verteidigungswillen.

hemmer-Methode: Merken Sie sich, dass Notwehr in subjektiver Hinsicht neben der Kenntnis der die Notwehrlage begründenden Umstände auch den Willen voraussetzt, der drohenden Rechtsgutverletzung entgegenzutreten.8

Zwischenergebnis: Hinsichtlich der Anwendung des Armhebels und des anfänglichen Würgegriffs des A gegen S ist A gem. § 32 StGB gerechtfertigt.

b) Schwitzkasten auf dem Boden

Es gilt zu prüfen, ob A auch noch gerechtfertigt handelte, als er S bereits zu Boden gebracht hatte und ihn dort über einen Zeitraum von jedenfalls einer Minute weiter fest im Würgegriff hielt. Zwar wies A auch zu diesem Zeitpunkt den Willen auf, sich gegenüber S zu verteidigen. Schließlich erwartete A, dass S ihn weiterhin attackieren würde, sobald dieser sich befreien könnte.

Problematisch erscheint jedoch, ob auch in dieser zweiten Phase des Würgegriffs noch ein Notwehrlage vorlag. Bei objektiver Betrachtung war S durch den anfänglichen Würgegriff des A bereits erheblich geschwächt und dadurch kampfunfähig. Folglich war der Angriff des S bereits beendet als A ihn im Schwitzkasten für mindestens eine weitere Minute auf den Boden drückte. Obgleich A dies verkannte und davon ausging, dass S nur simulierte, fehlt es damit an der objektiv notwendigen Notwehrlage. Im Ergebnis ist das Aufrechterhalten des Schwitzkastens gegenüber dem kampfunfähigen S nicht (mehr) gerechtfertigt. Diesbezüglich handelte A rechtswidrig.

3. Schuld

Schließlich müsste A den S schuldhaft verletzt haben. Möglicherweise befand sich A jedoch in einem nach h.M. die Schuld betreffenden Irrtum, dem sog. Erlaubnistatbestandsirrtum. Die Vorsatzschuld könnte entfallen. Ein solcher Erlaubnistatbestandsirrtum ist gegeben, wenn der Täter irrig Tatumstände auf Rechtfertigungsebene annimmt, die im Falle ihres wirklichen Bestehens die Tat rechtfertigen würden.9

a) Vorstellungsbild des Täters

In einem ersten Schritt ist daher zu prüfen, ob ein Rechtfertigungsgrund gegeben wäre, würde die Vorstellung des A der Wahrheit entsprechen. Hinsichtlich der im Raum stehenden Notwehr stellt sich konkret die Frage, ob nach dem Vorstellungsbild des A eine Notwehrlage vorlag, als er den Schwitzkasten aufrechterhielt.

Zu diesem Zeitpunkt wehrte sich der geschwächte S objektiv nicht mehr. A glaubte jedoch, dass S simulierte, d.h. er sich nur deswegen nicht mehr wehrte, um freizukommen und seine unberechtigten Angriffe gegen A fortzusetzen. Hätte S tatsächlich simuliert, um losgelassen zu werden und A erneut angreifen zu können, so hätte der ursprüngliche Angriff des S angedauert bzw. ein neuer Angriff hätte unmittelbar bevorgestanden.10 Folglich lag nach dem Vorstellungsbild des A eine Notwehrlage vor.

Noch während A den auf dem Boden liegenden S im festen Würgegriff fixierte, rief er den Notruf der Polizei an, um Hilfe herbeizurufen. Dies zeigt, dass nach dem Vorstellungsbild des A der Schwitzkasten als Notwehrhandlung erforderlich war, um die vermeintlich fortbestehende Notwehrlage zu beenden. Die Motivation des A hat sich seit Ansetzen des Armhebels nicht verändert, sodass A auch im Zeitpunkt des andauernden Würgegriffs mit dem Willen zur Verteidigung agiert hat. Im Ergebnis sind damit nach dem Vorstellungsbild des A auch bei Aufrechterhalten des Würgegriffs die Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes des § 32 StGB erfüllt.

Anmerkung: In der dem Fall zugrunde liegenden Entscheidung wirft der BGH dem LG Kempten, das den Angeklagten A ursprünglich wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt hat, vor, sich mit eben diesem Vorstellungsbild des Angeklagten nicht ausreichend auseinandergesetzt zu haben und hebt deshalb das erstinstanzliche Urteil auf. Der Tadel der Richter aus Karlsruhe ist deutlich: „Soweit das LG ohne weitere Begründung davon ausgegangen ist, es könne den Angeklagten nicht entlasten, dass er befürchtete, „der Angreifer könne simulieren", legt nahe, dass es von unzutreffenden Anforderungen an eine Putativnotwehrlage ausgegangen ist." Sie können es in einer Examensklausur vermeiden, sich einer solchen Kritik aussetzen zu müssen, indem Sie auf Schlüsselbegriffe wie „hierbei glaubte/dachte er ... " oder „er ging davon aus ... " achten. Tauchen diese auf, ist in aller Regel ein Irrtum in der Klausur versteckt. Irrtümer stellen ein zentrales Problemfeld des Strafrecht-AT dar. Solide Kenntnisse sind an dieser Stelle unbedingt notwendig.

b) Rechtsfolgen des Erlaubnistatbestandsirrtums

In einem zweiten Schritt stellt sich die Frage, welche Rechtsfolgen der Erlaubnistatbestands-irrtum des A auslöst bzw. wie dieser sachgerecht zu lösen ist.11

Möglicherweise greift unmittelbar eine gesetzliche Regelung ein. Nach der früher vertretenen Vorsatztheorie ist das Unrechtsbewusstsein neben dem Wissen und Wollen der Tat ein Teil des Vorsatzes. In Konsequenz fehlt bei fehlendem Unrechtsbewusstsein auch der Vorsatz des Täters und es kann niemals eine Vorsatzstrafe eintreten. Hier glaubte A, dass er gerade kein Unrecht tut, sondern aus Notwehr gerechtfertigt ist. Würde man dieser Ansicht folgen, wäre bereits der Vorsatz des A gem. § 16 I S. 1 StGB zu verneinen. Allerdings muss das Unrechtsbewusstsein seit Einführung des § 17 StGB als Element der Schuld und eben nicht des Vorsatzes angesehen werden, was dieser Ansicht die Grundlage entzieht.

Vertreter der strengen Schuldtheorie behandeln den Erlaubnistatbestandsirrtum nach § 17 StGB, sodass der Täter bei Unvermeidbarkeit des Irrtums schuldlos handelt. Zu dieser Ansicht kann man durch eine unbefangene Lesart des § 17 StGB gelangen. Denn auch einem Täter, der einem solchen Irrtum unterliegt, fehlt in gewisser Weise „die Einsicht, Unrecht zu tun". Schließlich glaubt er daran, gerechtfertigt zu sein. Ferner wird die Theorie damit begründet, dass § 16 StGB nur den Tatbestandsirrtum erwähnt, sodass alle anderen Irrtümer einen Verbotsirrtum i.S.d. § 17 StGB darstellen (müssen). Im konkreten Fall hätte A, der aus seiner Zeit als Judo- und Karate-Wettkampfsportler um die Wirkung des festen Würgegriffs wusste, bei Anstrengung aller geistigen Kräfte erkennen können, dass S seine erhebliche Schwächung nicht nur simuliert, sondern tatsächlich kampfunfähig ist. Folgt man dieser Ansicht, gelangt man zu einem vermeidbaren Verbotsirrtum, der den Schuldvorwurf nicht entfallen lässt. Allerdings ist der strengen Schuldtheorie der Wille des Gesetzgebers entgegenzuhalten: Dieser wollte eine strikte Trennung zwischen Sachverhalts- und reinen Bewertungsirrtümern, wobei § 17 StGB nur Irrtümer bezüglich der rechtlichen Bewertung erfassen sollte. A irrt jedoch über tatsächliche Umstände, nämlich die Kampffähigkeit des S. Daher vermag auch diese Ansicht nicht zu überzeugen.

Obgleich bei Ablehnung der o.g. Ansichten keine gesetzliche Regelung unmittelbar eingreift, ist der Irrtum rechtlich relevant. Der (diesbezüglich zerstrittene) Gesetzgeber hat es ausdrücklich für Rechtsprechung und Lehre offen gelassen, für die Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums eine sachgerechte Lösung zu finden. Als vorherrschende Ansicht hat sich die eingeschränkte Schuldtheorie herausgebildet, die den Erlaubnistatbestandsirrtum wie einen Tatbestandsirrtum behandelt und daher § 16 StGB entsprechend anwendet. Innerhalb dieser Theorie ist wiederum streitig, ob ein Erlaubnistatbestandsirrtum schon den Vorsatz des Täters entfallen lässt, oder ob zwar eine vorsätzliche, rechtswidrige Tat vorliegt, der Täter jedoch ohne Vorsatzschuld handelt.

Insbesondere Teile der Rechtsprechung folgen der reinen eingeschränkten Schuldtheorie und nehmen an, dass bei einem Erlaubnistatbestandsirrtum das Unrecht einer vorsätzlichen Tat in analoger Anwendung des § 16 I S. 1 StGB ausgeschlossen sei.12 Folglich hätte hiernach im vorliegenden Fall A bereits vorsatzlos gehandelt.

Sachgerecht erscheint indes die Lösung der rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten Schuldtheorie, nach der der Erlaubnistatbestandsirrtum einen Irrtum eigener Art darstellt, der auf Ebene der Schuld relevant wird und einerseits mit dem Tatbestandsirrtum eng verwandt ist, andererseits der Ausgangspunkt eines Verbotsirrtums ist.13 Vertreter der Ansicht ziehen daher lediglich die Rechtsfolgen des § 16 StGB heran, sodass die Vorsatzschuld des Täters entfällt. Dem Täter kann dann nur eine fahrlässige Begehungsweise der Tat vorgeworfen worden. Gleichzeitig werden Strafbarkeitslücken möglicher Teilnehmer der Tat vermieden, da bei Vorliegen des Erlaubnistatbestandsirrtums nur die (Vorsatz-)Schuld des Täters entfällt und damit weiterhin eine vorsätzliche, rechtswidrige Haupttat bestehen bleibt, zu der angestiftet oder Hilfe geleistet werden kann. Neben der sachlichen Nähe des Erlaubnistatbestandsirrtums zum Tatbestandsirrtum überzeugt hieran auch, dass den Irrtümern der gleiche Unrechtsgehalt innewohnt: So verwirklicht ein Täter, der nicht weiß, dass er eine Person verletzt, ebenso kein Erfolgsunrecht wie ein Täter, der einen anderen Menschen bei vorgestellter Rechtfertigung verletzt. Im Ergebnis ist daher der rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten Schuldtheorie zu folgen, wonach A ohne Vorsatzschuld handelte.

4. Ergebnis

A handelte teils gerechtfertigt, teils schuldlos und hat sich somit nicht wegen gefährlicher Körperverletzung zulasten des S strafbar gemacht. Mangels einer Strafbarkeit gem. §§ 223, 224 StGB scheidet somit auch eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung mit Todesfolge gem. § 227 StGB aus.

hemmer-Methode: Natürlich wird von Ihnen in der Klausursituation keine Problematisierung des Erlaubnistatbestandsirrtums in diesem Umfang erwartet. Im Gegenteil: Statt Detailverliebtheit zu beweisen, gilt es, im Examen Schwerpunkte zu setzen. Andernfalls ist -- v.a. im Strafrecht -- bereits der zeitliche Rahmen nicht einzuhalten. Im Hinblick auf den Erlaubnistatbestandsirrtum ist von entscheidender Bedeutung, sich nicht voreilig auf den Theorienstreit zu stürzen, sondern zunächst sorgfältig zu prüfen, ob ein solcher Irrtum tatsächlich vorliegt. Nur wenn Sie geprüft (!) und festgestellt haben, dass der Täter irrig Umstände annimmt, die im Falle ihres wirklichen Bestehens die Tat rechtfertigen würden, müssen Sie sich überhaupt über die Rechtsfolgen Gedanken machen. Nicht selten wird Ihre Prüfung jedoch bereits auf erster Stufe enden.

III. § 222 StGB

Fraglich ist, ob sich A wegen fahrlässiger Tötung gem. § 222 StGB zulasten des S strafbar gemacht hat, indem er diesen erwürgte.

Anmerkung: Die eingeschränkten Schuldtheorien wenden § 16 StGB entsprechend an. In Konsequenz gilt auch § 16 I S. 2 StGB, der klarstellt, dass eine Bestrafung wegen Fahrlässigkeit unberührt bleibt. Hierbei ist allerdings die Besonderheit zu beachten, dass sich der Fahrlässigkeitsvorwurf auf den Irrtum beziehen muss, da die Tat ja -- wie bereits festgestellt -- vorsätzlich begangen wurde.

1. Tatbestand und Rechtswidrigkeit

A hat S getötet. Möglicherweise trifft A hinsichtlich des entstandenen Erlaubnistatbestandsirrtums ein objektiver Fahrlässigkeitsvorwurf, d.h. der Irrtum könnte auf einer Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt beruhen. Hierzu müsste der Irrtum für einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und sozialen Rolle des Handelnden vorhersehbar und vermeidbar gewesen sein. Unter Berücksichtigung der Vehemenz und Aggressivität, mit der S einen Abbruch des Abends verhindern wollte, war es sicherlich nicht von vornherein auszuschließen, dass S im Schwitzkasten seine Kampfunfähigkeit bloß vortäuschte, um freizukommen und A erneut zu attackieren. Allerdings gab es deutliche Anzeichen dafür, dass S nach dem ersten Würgen bereits zu geschwächt für weitere Angriffe war. So war objektiv erkennbar, dass S mit andauerndem Würgegriff zunehmend stoßhaft atmete und sich sein Gesicht verfärbte, es war mithin hinreichend erkennbar, dass S nicht simulierte, sondern tatsächlich kampfunfähig war. Folglich war der Irrtum vermeidbar.

Mangels Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes ist die Tat rechtswidrig.

2. Schuld

Die Tat war auch subjektiv pflichtwidrig. A hat die persönlich zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen, als er den Würgegriff über eine Minute hinaus aufrecht erhielt, obwohl er das weiße Gesicht und die stoßhafte Atmung des S wahrnahm. Insbesondere A, dem die Gefährlichkeit des Würgegriffs aus seiner Zeit als aktiver Judo- und Karate-Wettkampfsportler bekannt war, hätte den Irrtum über die Beendigung der Notwehrlage vermeiden können.

A wies im Zeitpunkt der Tat eine Blutalkoholkonzentration von 2,2 Promille auf, sodass er gem. § 21 StGB vermindert schuldfähig handelte. Daher kann die Strafe des A nach § 49 I StGB fakultativ gemindert werden.

Zwischenergebnis: A hat sich wegen fahrlässiger Tötung zulasten des S gem. § 212 StGB i.V.m. § 21 StGB strafbar gemacht.

IV. § 221 I Nr. 1, III StGB

Überdies könnte sich A wegen einer Aussetzung mit Todesfolge gem. § 221 I Nr. 1, III StGB zulasten des S strafbar gemacht haben, indem er S bis zur Wehr- und Bewusstlosigkeit würgte und dieser daraufhin verstarb.14

Der objektive Tatbestand ist gegeben: Durch den festen Würgegriff unterbrach A die Sauerstoffversorgung des S, was zu dessen Bewusstlosigkeit führte. In dieser Situation konnte sich S nicht mehr selbst vor der Gefahr des Todes schützen. Mithin befand sich S in hilfloser Lage. Aus der andauernden Sauerstoffunterversorgung des Gehirns des S resultierte für ihn eine konkrete Todesgefahr.

A handelte jedoch ohne Vorsatz zur Aussetzung; insbesondere wollte er S nicht in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung bringen. A beabsichtigte mit dem Würgegriff, weitere Angriffe von S zu unterbinden und diesen bis zum Eintreffen der Polizei zu fixieren. Er ging vielmehr davon aus, dass S im Schwitzkasten durchaus wohlauf war. Somit scheidet eine Strafbarkeit des A nach § 221 I Nr. 1, III StGB aus. Eine fahrlässige Begehungsweise der Aussetzung kennt das Gesetz nicht.

V. § 239 I, III Nr. 2 StGB

Möglicherweise hat sich A wegen einer Freiheitsberaubung mit Todesfolge gem. § 239 I, III Nr. 2 StGB zulasten des S strafbar gemacht, als er diesen über mindestens eine Minute im Schwitzkasten festhielt.

A könnte durch den Würgegriff objektiv die Aufhebung der Fortbewegungsfreiheit des S bewirkt haben und ihn somit auf andere Weise als Einsperren der Freiheit beraubt haben. Dass S ursprünglich die Wohnung des A gar nicht verlassen wollte, ist i.R.d. § 239 StGB unerheblich, da der potentielle Wille zur Ortsveränderung geschützt ist.15 Fraglich erscheint jedoch, ob die Dauer des Schwitzkastens eine Strafbarkeit wegen Freiheitsberaubung rechtfertigt. Zwar kommt es auf die Dauer für § 239 I StGB grundsätzlich nicht an; es genügt eine nur kurzfristige Entziehung der Bewegungsfreiheit. Nicht ausreichend ist aber eine nur ganz kurzfristige Beschränkung, etwa das kurzzeitige Festhalten eines Gegners im Rahmen einer körperlichen Auseinandersetzung.16 Die Fixierung von mindestens einer Minute scheint ein Grenzfall zu sein.

Es bedarf an dieser Stelle jedoch keiner Entscheidung, da A hinsichtlich des anfänglichen Würgegriffs wegen § 32 StGB gerechtfertigt und bezüglich der Fixierung des S am Boden ohne (Vorsatz-)Schuld handelte (s.o.). Eine Freiheitsberaubung scheidet damit aus.

VI. § 323c StGB

Schließlich könnte A sich wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c StGB strafbar gemacht haben.

Bei differenzierter Betrachtung des Sachverhalts fehlte A jedoch bei Eintritt des Unglücksfalls, d.h. ab Eintritt der Bewusstlosigkeit des S, der Vorsatz zur Untätigkeit, da A zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass S bereits Hilfe benötigt. Sobald er erkannte, dass S nicht simulierte, rief A den Rettungsdienst und leistete bis zu dessen Eintreffen erste Hilfe, sodass diesbezüglich kein Unterlassen von Hilfe gegeben ist. Im Ergebnis hat sich A daher nicht wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar gemacht.

VII. Ergebnis

A ist ausschließlich wegen fahrlässiger Tötung gem. §§ 222, 21 StGB strafbar.

D) Kommentar

(bb). Der Fall zeigt anschaulich, wie wichtig wenige Details im Sachverhalt sein können. Mit nur wenigen Änderungen des Sachverhalts wäre ein völlig anderes Ergebnis die Folge! Achten Sie daher stets sehr genau auf die Einzelheiten und die Wortwahl im Sachverhalt. Zudem ist immer strikt zwischen dem objektiven Geschehen und dem subjektiven Vorstellungsbild des möglichen Täters zu differenzieren.

Neben der richtigen Einordnung des Sachverhalts ist für die Klausurlösung eine präzise Gliederung der gutachterlichen Lösung erforderlich. Die Art der Gliederung hängt dabei stets von dem gewählten Lösungsweg ab: Nur wer den Hafen kennt, für den ist jeder Wind günstig.

E) Zur Vertiefung

  • Erlaubnistatbestandsirrtum

Hemmer/Wüst, Strafrecht AT II, Rn. 333

F) Wiederholungsfragen

  1. Was ist der Unterschied zwischen Erlaubnistatbestandsirrtum und

    Erlaubnisirrtum?

  2. Wie wird der Erlaubnisirrtum behandelt?

  1. So die ganz h.M., vgl. Fischer, § 15 StGB, Rn. 9 ff.

  2. Fischer, § 223 StGB, Rn. 3a.

  3. Fischer, § 223 StGB, Rn. 6.

  4. Zu diesem Streit vgl. Fischer, § 224 StGB, Rn. 12 m.w.N.

  5. Fischer, § 32 StGB, Rn. 4.

  6. Vgl. BGH, NJW 1973, 255 = Urteil v. 07.11.1972 -- 1 StR 489/72

  7. Fischer, § 32 StGB, Rn. 28 f.

  8. Vgl. BGH, Urteil v. 25.05.2013 -- 4 StR 552/12 = Life & Law 2013, 745 ff.

  9. Sch/Sch, § 32 StGB, Rn. 65.

  10. So BGH, NStZ 2014, 30 = Beschluss v. 21.08.2013 -- 1 StR 449/13

  11. Dies ist eine der streitigsten Fragen im Strafrecht; vgl. zu den verschiedenen Auffassungen: Fischer, § 16 StGB, Rn. 20 ff.; Sch/Sch, § 16 StGB, Rn. 14 ff. jeweils m.w.N.

  12. Vgl. BGH a.a.O., m.w.N. Zum Ausschluss der Vorsatzschuld kommt hingegen BGH, Urteil v. 02.11.2011 -- 2 StR 375/11.

  13. Lackner/Kühl, § 17 StGB, Rn. 15.

  14. In der Erfolgsqualifikation des Abs. 3 ist § 221 StGB ein Verbrechen und verdrängt auf Konkurrenzebene daher § 222 StGB, vgl. Sch/Sch, § 221 StGB, Rn. 15 u. 18.

  15. So h.M. und Rspr., vgl. BGH, NJW 1960, 1629 = Urteil v. 31.05.1960 -- 1 StR 212/60

  16. Vgl. BGH, NStZ 2003, 371 = Beschluss v. 03.12.2002 -- 4 StR 432/02