Der ahnungslose Retter

Grundfall (nicht nur) für Anfangssemester, Strafrecht

von Life and Law am 01.10.2013

+++ Mord, §§ 212 I, 211 StGB +++ Notwehr, § 32 StGB +++ Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselements +++

Sachverhalt: Hans (H) lauert Balduin (B) an einer einsamen Waldstraße auf. Als sich dieser mit seinem Wagen nähert, gibt er einen tödlichen Schuss auf ihn ab. Hierbei bemerkt er nicht, dass B seinerseits gerade den vor ihm laufenden Spaziergänger Franz (F) mit seinem Pkw tödlich verletzen wollte. H rettet damit unvorhergesehen das Leben von F.

Bearbeitervermerk: Prüfen Sie die Strafbarkeit des H nach den §§ 211 ff. StGB.

A) Sound

Der vorliegende Grundfall beschäftigt sich mit einem lebhaft umstrittenen Problem aus dem Bereich der Rechtfertigungsgründe. H hat nämlich nicht bemerkt, dass sein Opfer B gerade F töten wollte. Es stellt sich daher die Frage, ob eine Rechtfertigung die Existenz eines subjektiven Rechtfertigungselements voraussetzt und falls ja, wie der Täter bei dessen Fehlen zu bestrafen ist.

B) Lösung

Zu prüfen ist die Strafbarkeit des H gem. §§ 211 ff. StGB.

Mord, §§ 212 I, 211 I, II StGB

H könnte sich durch die Abgabe des gezielten Schusses auf den B wegen Mordes gem. §§ 212 I, 211 I, II StGB strafbar gemacht haben.

hemmer-Methode: In der Klausur kann es sich schon aus Zeitgründen, aber auch um der Übersichtlichkeit willen, als sinnvoll erweisen, Grundtatbestand und Qualifikation zusammen zu prüfen. Dies gilt insbesondere dann, wenn im Qualifikationstatbestand keine größeren Probleme ersichtlich sind. Hinzuweisen ist jedoch nochmals darauf, dass für den BGH Mord und Totschlag zwei selbstständige Delikte sind und daher nicht zusammen geprüft werden dürfen. Geht man dagegen mit der insbesondere im Teilnahmebereich vorzugswürdigen Literaturmeinung davon aus, dass die beiden genannten Delikte zueinander im Verhältnis Grundtatbestand zu Qualifikation stehen, ist ein „zusammen Prüfen" ohne weiteres möglich. Auch hier müssen Sie Ihren Aufbau wiederum nicht begründen. Führen Sie in Ihrer Klausur nicht an, weswegen Sie der Literaturansicht folgen, sondern tun Sie dies einfach.

1. Objektiver Tatbestand

Es müsste der objektive Tatbestand verwirklicht sein.

a) Eintritt des tatbestandlichen Erfolges

Der tatbestandliche Erfolg ist eingetreten. B ist an den erlittenen Schussverletzungen verstorben.

b) Kausalität / Objektive Zurechnung

Der Tod des B wurde kausal durch den Schuss verursacht und ist H objektiv zurechenbar.

c) Mord gem. § 211 II Gr. 2 Var. 1 StGB (Heimtücke)

Fraglich ist das Mordmerkmal der Heimtücke, das nach der Ansicht der Rechtsprechung vorliegt, wenn ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers in feindlicher Willensrichtung gegeben ist. B setzte gerade dazu an, mit seinem Pkw den Spaziergänger F zu überfahren.

Er rechnete dabei nicht mit einem Angriff auf sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit durch H und war insofern auch wehrlos.

Zudem handelte H in feindlicher Willensrichtung und damit nach dem Verständnis der Rechtsprechung heimtückisch.

Nach anderer Auffassung setzt das Mordmerkmal der Heimtücke darüber hinaus einen verwerflichen Vertrauensbruch voraus. Diese Auffassung ist jedoch abzulehnen, da das Merkmal des verwerflichen Vertrauens­bruchs nur schwierig näher konkretisiert werden kann und daher Probleme mit dem Bestimmtheitserfordernis des Art. 103 II GG entstehen. Zudem legt der Wortlaut des § 211 II Gr. 2 Var. 1 StGB keine entsprechende Verbindung zwischen Täter und Opfer nahe.

Somit ist dem Ansatz der Rechtsprechung zu folgen und die Heimtücke zu bejahen.

hemmer-Methode: Prüft man wie hier Grundtatbestand und Qualifikation zusammen, sollte man besonderen Wert auf die Übersichtlichkeit der Ausführungen legen und deutlich zwischen Merkmalen des Grundtatbestands und der Qualifikation trennen.

d) Zwischenergebnis

Der objektive Tatbestand des Mordes ist erfüllt.

2. Subjektiver Tatbestand

Überdies müsste der subjektive Tatbestand verwirklicht sein.

a) Vorsatz bzgl. der Tötung eines Menschen

H hat hinsichtlich der objektiven Tatbestandsmerkmale des § 212  I StGB mit Wissen und Wollen gehandelt.

b) Vorsatz bzgl. des Mordmerkmals der Heimtücke

Zudem hat H eine heimtückische Tötung billigend in Kauf genommen. Auch der subjektive Tatbestand des Mordes ist damit erfüllt.

hemmer-Methode: Bis zu dieser Stelle ergeben sich im Fall keinerlei Schwierigkeiten. Verschenken Sie daher nicht unnötig Zeit und handeln Sie Unproblematisches kurz ab.

3. Rechtswidrigkeit

Zu prüfen ist, ob die Tat des H rechtswidrig war. Zu seinen Gunsten könnte hier der Rechtfertigungsgrund des § 32 StGB (Nothilfe zugunsten eines Dritten, hier des F) eingreifen.

a) Nothilfelage

Erforderlich ist zunächst das Vorliegen einer objektiven Nothilfelage. § 32 StGB verlangt einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff. Unter einem Angriff versteht man jede durch menschliches Verhalten drohende Verletzung rechtlich geschützter Güter oder Interessen. Dieser ist rechtswidrig, wenn er den Bewertungsnormen des Rechts objektiv zuwiderläuft und nicht durch einen Erlaubnissatz gedeckt ist. Gegenwärtigkeit liegt vor, wenn der Angriff unmittelbar bevorsteht, bereits begonnen hat oder noch andauert.

Als H den tödlichen Schuss auf den B abgab, war dieser gerade dabei, den F zu überfahren, und so dessen Leib und Leben zu verletzen. Dieser Angriff des B auf F hatte bereits begonnen und war nicht durch einen Erlaubnissatz gedeckt. Eine Nothilfelage lag somit vor.

b) Nothilfehandlung

Die Nothilfehandlung müsste erforderlich und geboten sein.

aa) Erforderlichkeit

Die Nothilfehandlung muss zunächst objektiv erforderlich sein. Das setzt voraus, dass die Verteidigungshandlung geeignet ist, den Angriff sofort, auf Dauer und mit Sicherheit abzuwenden und bei mehreren gleich geeigneten Mitteln das relativ mildeste verwendet wird.

Hier war die Tötung des B aus der Sicht des H die einzige Möglichkeit, den Angriff auf F sofort, auf Dauer und mit Sicherheit zu beenden.

Mangels anderweitiger Anhaltspunkte im Sachverhalt ist auch vom Einsatz des mildesten Mittels auszugehen. Die Tötung des B war damit erforderlich.

bb) Gebotenheit

Schließlich müsste der Schuss des H geboten gewesen sein. Da bei § 32 StGB anders als i.R.d. rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) grundsätzlich keine Güterabwägung zwischen dem Rechtsgut des Angreifers und dem des Angegriffenen stattfindet, ist die Verteidigungshandlung in der Regel geboten, wenn sie erforderlich ist. Etwas anderes gilt nur dann, wenn dem Angegriffenen bzw. dem Nothelfer ein anderes Verhalten zuzumuten ist. Die Gebotenheit ist zu verneinen, wenn die Nothilfehandlung unter Beachtung normativer und sozialethischer Erwägung rechtsmissbräuchlich erscheint. Solche sozialethischen Einschränkungen des Notwehr- bzw. des Nothilferechts kommen in Betracht, wenn dem Täter aus individueller Sicht ein Verzicht auf das Niederschlagen des Angriffs ohne Preisgabe berechtigter Interessen zuzumuten ist und wenn zusätzlich aus überindividueller Sicht die Rechtsordnung keiner Bewährung durch ein solches Niederschlagen des Angriffes bedarf.

hemmer-Methode: Nutzen Sie den Sinn und Zweck einer Vorschrift als Argumentationsgrundlage. § 32 StGB dient auf der einen Seite dem Selbstschutz der individuellen Rechtsgüter und Interessen des Angegriffenen (Individualschutzprinzip). Daneben weist die Norm eine zweite, nach h.M. gleichrangige Schutzrichtung auf, als sie auch der Wahrung der Rechtsordnung im Allgemeininteresse dient (Rechtsbewährungsprinzip).

Angesichts dieser zweifachen Schutzrichtung spricht man auch von einer „dualistischen Notwehrkonzeption".

B war im Begriff, den F zu töten. Er hatte sich diesem mit seinem Pkw bereits unmittelbar angenähert.

Die Preisgabe des Lebens des F war dem H in dieser Situation nicht zuzumuten. Zudem ergeben sich auch aus überindividuellen Überlegungen heraus keine Gründe für eine Beschränkung des Nothilferechts des H unter sozialethischen Gesichtspunkten. Die Tötung des B war daher geboten.

c) Subjektives Rechtfertigungselement

H wusste nicht, dass eine Nothilfesituation vorlag. Problematisch und umstritten ist, ob dies seiner Rechtfertigung gem. § 32 StGB entgegensteht.

Eine Mindermeinung lehnt das Erfordernis subjektiver Rechtfertigungselemente generell ab. Nach ihr genügt das objektive Vorliegen einer Notwehr- bzw. Nothilfelage, da die Rechtsordnung die Verletzung des Angreifers unabhängig von der Vorstellung des Täters erlaube. Eine objektiv erlaubte Handlung könne nämlich nicht rechtswidrig sein. Nach dieser Ansicht wäre H gem. § 32 StGB gerechtfertigt.

Nach der h.M. ist dagegen die Tat bei Vorsatzdelikten nur dann gerechtfertigt, wenn als subjektives Rechtfertigungselement beim Täter ein Verteidigungswille bzw. hier Nothilfewille vorliegt. Für diese Auffassung spricht bereits die tatbestandliche Fassung des § 32 StGB („um [...] abzuwenden").

Geht man davon aus, dass sich das Unrecht einer Tat aus Handlungs- und Erfolgsunwert zusammensetzt, so kann das objektive Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes nur den Erfolgsunwert beseitigen, während ihr Handlungsunwert bleibt. Eine Tat kann aber insgesamt nur dann rechtmäßig sein, wenn auch ihr Handlungsunwert entfällt.

Straflos bleibt daher nur, wer objektiv etwas nicht Strafbares tut und sich dessen auch bewusst ist. Das Gleiche muss auch für die Rechtswidrigkeit gelten.

Wer objektiv und subjektiv eine tatbestandsmäßige, aber objektiv gerechtfertigte Handlung in Unkenntnis des Rechtfertigungsgrundes vornimmt, bestätigt eine rechtsfeindliche Gesinnung. Er kann daher nicht gerechtfertigt sein.

So liegt der Fall hier: H hatte keine Kenntnis davon, dass er durch den Schuss auf B das Leben des Spaziergängers F rettete. Eine Rechtfertigung gemäß § 32 StGB (Nothilfe) scheidet damit aus.

4. Schuld

Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich. H handelte schuldhaft.

5. Folgen des Fehlens des subjektiven Rechtfertigungselementes

I.R.d. Strafzumessung stellt sich die Frage, ob der Täter bei Fehlen dieses subjektiven Rechtfertigungselements wegen vollendeter oder nur wegen versuchter Tat zu bestrafen ist.

Nach einer Meinung soll eine vollendete Tat vorliegen, weil ein Versuch nach §§ 22, 23 StGB nur dann gegeben sei, wenn es an einem objektiven Tatbestandsmerkmal fehlt. Als Argument wird zudem der Wortlaut des § 16 I S. 1 StGB herangezogen, der sich nur auf den gesetzlichen Tatbestand beziehe.

Demgegenüber bestraft die h.M. nur wegen Versuchs -- soweit dieser strafbar ist -- und zwar entweder unter direkter oder aber analoger Anwendung der Versuchsregeln, wobei letzteres nicht gegen das aus Art. 103 II GG resultierende Analogieverbot verstößt, da es sich um eine Analogie zugunsten des Täters handelt.

Dieser Ansicht ist zuzustimmen, da den Täter die Strafe wegen des vollendeten Delikts nur dann treffen kann, wenn er sämtliche objektiven und subjektiven Strafbarkeitsvoraussetzungen erfüllt hat. Hier fehlt es aber an einer objektiv rechtswidrigen Handlung.

Der Erfolg wird wegen der objektiv gegebenen Rechtfertigungslage nicht missbilligt, sodass damit eine dem Versuch entsprechende Rechtslage gegeben ist.

Es kann keinen Unterschied machen, ob der tatbestandsmäßige Erfolg als solcher ausbleibt oder ob er zwar eintritt, aber nicht als Unrecht bewertet wird.

Demzufolge entspricht es der Billigkeit, im hier vorliegenden Fall eine Milderungsmöglichkeit gemäß § 23 II StGB analog zu eröffnen.

hemmer-Methode: Eine komplette Versuchsprüfung ist an dieser Stelle nicht erforderlich, da die Versuchsregeln allein aus Gründen einer gerechten Strafzumessung angewandt werden. Nach hier vertretener Auffassung verbleibt es also bei einer Strafbarkeit wegen Vollendung. Lediglich auf Rechtsfolgenseite wird von der Milderungsmöglichkeit gemäß den §§ 23 II, 49 StGB zugunsten des Täters Gebrauch gemacht. Denken Sie an die knappe Bearbeitungszeit in der Klausur.

6. Ergebnis

A hat sich wegen Mordes strafbar gemacht. Es ist auf Grund des fehlenden subjektiven Rechtfertigungselements nach den §§ 212 I, 211 I, II Gr. 2 Var. 1 StGB in Verbindung mit §§ 23 II, 49 StGB analog eine Strafmilderung möglich.