Äpfel sind keine Birnen!

VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.02.2014, 9 S 2275/13

von Life and Law am 01.08.2014

+++ Prüfungsrecht +++ Chancengleichheit +++ Abschichtung im Mannheimer Modell +++ Art. 3 I, 12 I GG +++

Sachverhalt: Die Klägerin studierte Rechtswissenschaft an der Universität Konstanz. Im Frühjahr 2011 bestand sie den schriftlichen Teil der Staatsprüfung der Ersten juristischen Prüfung nicht. Im Frühjahr 2012 wiederholte sie den schriftlichen Teil der Staatsprüfung und erzielte dabei nicht die für eine Zulassung zur mündlichen Prüfung erforderliche Durchschnittspunktzahl von 3,75 Punkten.

Mit Bescheid vom 05.06.2012 erklärte das Landesjustizprüfungsamt die Staatsprüfung daraufhin für endgültig nicht bestanden. Nach ordnungsgemäßem, aber erfolglosem Widerspruchsverfahren erhob die Klägerin am 05.12.2012 Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht Stuttgart und beantragt, den Beklagten unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide zu verpflichten, ihr eine erneute Wiederholung des schriftlichen Teils der Staatsprüfung der Ersten juristischen Prüfung zu gestatten. Sie werde durch die angefochtenen Bescheide in ihrem Recht aus Art. 3 I GG in Verbindung mit dem prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit verletzt. Dies begründet sie mit den Vorteilen, die für Studierende nach dem sog. Mannheimer Modell verbunden sind. Nach § 35b JAPrO dürfen Studierende, die sich spätestens nach dem sechsten Semester erstmalig zum Staatsexamen melden, sich zunächst auf ein Teilgebiet (Zivilrecht, Strafrecht, Öffentliches Recht) beschränken und die übrigen Teile innerhalb der nächsten vier Prüfungstermine „nachliefern". Diese Abschichtung ist aber nur zulässig, wenn der Kandidat im Rahmen des gestuften Kombinationsstudienganges zugleich einen berufsqualifizierenden Universitätsabschluss erwirbt. Die Klägerin behauptet, dass sie das Examen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestanden hätte, wenn ihr diese Möglichkeit der Abschichtung auch zur Verfügung gestanden hätte.

Liegen die Sachurteilsvoraussetzungen vor? Dabei ist davon auszugehen, dass der Prüfungsbescheid im Übrigen fehlerfrei ist.

A) Sound

Mit der Behauptung, das „Mannheimer Modell" verletze den Prüfling der Ersten juristischen Staatsprüfung in seinem Grundrecht aus Art. 3 I GG in Verbindung mit dem prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit, weil dem Teilnehmer an diesem Modell die Abschichtung der Prüfungsleistungen im Gegensatz zu ihm ermöglicht werde, kann eine Klagebefugnis nicht begründet werden, wenn der Kläger nicht zur korrespondierenden Vergleichsgruppe gehört.

B) Problemaufriss

Vermeintliche Ungleichheiten zwischen den Staatsexamen der einzelnen Bundesländer gehören zu den Dauerbrennern der Juristen-Gerüchteküche.1 Im Zweifel war außerdem der eigene Examenstermin immer der schwerste und alle anderen Termine der letzten Jahre sind deutlich besser ausgefallen ... .

Die vorliegende Entscheidung befasst sich insoweit mit einem Sonderfall: Es geht um die Ungleichbehandlung innerhalb eines Bundeslandes, die darin besteht, dass die Examenskandidaten, die an einem besonderen Studiengang, der nur an der Universität Mannheim angeboten wird, die Möglichkeit der sog. Abschichtung erhalten, während die anderen Examenskandidaten in Baden-Württemberg in allen Rechtsgebieten in einem Block abgeprüft werden.

Anmerkung: Die baden-württembergische Regelung ist insoweit sehr speziell, als sie auf einen bestimmten Studiengang in Mannheim beschränkt ist. In Nordrhein-Westfalen bspw. ist die Möglichkeit der Abschichtung nach § 12 JAG NRW nicht auf bestimmte Studienmodelle beschränkt, sondern steht allen Examenskandidaten offen, die sich bis spätestens zum Abschluss des siebten Fachsemesters zur staatlichen Pflichtfachprüfung anmelden! Ähnlich ist die Regelung in § 4 II NJAG für Niedersachsen.

C) Lösung

I. Rechtswegeröffnung

Streitgegenstand ist eine prüfungsrechtliche Streitigkeit. Streitentscheidend hierfür sind die Normen der JAPrO, die nach der modifizierten Subjektstheorie als öffentlich-rechtliche Normen zu qualifizieren sind. Somit liegt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art ohne anderweitige Rechtswegzuweisung vor. Der Verwaltungsrechtsrechtsweg ist nach § 40 I VwGO eröffnet.

II. Klageart

Die statthafte Klageart richtet sich nach dem klägerischen Begehren, § 88 VwGO. Dieses ist hier auf die Anordnung einer Wiederholungsprüfung gerichtet. Diese Anordnung stellt einen Verwaltungsakt im Sinne des § 35 S. 1 VwVfG dar, sodass statthaft die Versagungsgegenklage nach § 42 I Alt. 2 UF 2 VwGO ist.

Anmerkung: Auch die Klage auf eine bessere Benotung stellt eine Versagungsgegenklage dar. Allein die Anfechtung der bisherigen Benotung hilft dem Kläger nicht weiter, da er dann überhaupt keine Benotung mehr hat.

Die Besonderheit der Verpflichtungsklage auf eine bessere Benotung liegt darin, dass nur eine Klage auf ein Verbescheidungsurteil nach § 113 V S. 2 VwGO erhoben werden kann. Hintergrund ist der Beurteilungsspielraum der Prüfer. Die Bewertung des Korrektors ist das Ergebnis einer einmaligen, nicht wiederholbaren Situation, bei der die subjektiv-wertende Sicht des Beurteilenden eine große Rolle spielt. Das Gericht darf hier seine Wertungen nicht an die Stelle derer des Korrektors setzen. Deshalb kann auch bei Vorliegen eines Korrekturfehlers nicht auf eine bestimmte, bessere Note geklagt werden, sondern nur darauf, dass die Prüfungsleistung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts nochmals neu bewertet wird.

III. Klagebefugnis

Nach § 42 II VwGO ist die Klage nur zulässig, wenn die Klägerin geltend machen kann, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in ihren Rechten verletzt zu sein. Danach muss es nach ihrem Vorbringen zumindest möglich erscheinen, dass ihr solche Rechte zustehen. Dies ist nur dann nicht der Fall, wenn die von ihr behaupteten Rechte offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise bestehen oder ihr zustehen können.

möglicher Anspruch auf Wiederholungsprüfung

Im Rahmen einer Verpflichtungsklage muss der Klägerin demnach ein zumindest möglicher Anspruch auf den begehrten Verwaltungsakt zustehen.

möglicher Anspruch aus Art. 12 I, 3 I GG

Die Klägerin hat aufgrund ihrer Grundrechte aus Art. 12 I, 3 I GG einen Anspruch darauf, dass die Prüfungsentscheidung nicht auf der Grundlage eines Prüfungsverfahrens getroffen wird, in dem der Grundsatz der Chancengleichheit in einer Weise verletzt wird, die sich auf das Ergebnis der Prüfung ausgewirkt haben kann.

Möglichkeit der Abschichtung als verfassungswidrige Ungleichbehandlung?

Die Klägerin stützt ihr Begehren auf - erneute - Wiederholung des schriftlichen Teils der Staatsprüfung der Ersten juristischen Prüfung maßgeblich auf die Behauptung, durch das „Mannheimer Modell" werde sie in ihrem Grundrecht aus Art. 3 I GG in Verbindung mit dem prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit verletzt.

Eine Abschichtung der Prüfungsleistungen, wie sie in § 35b I, II JAPrO vorgesehen ist, verzerre den Prüfungsmaßstab. Studierende des Kombinationsstudiengangs könnten sich in ihrer Examensvorbereitung zunächst ausschließlich auf einen Teil des Prüfungsstoffs (die Erbringung der schriftlichen Leistungen im Fach Zivilrecht) konzentrieren und sich sodann im nachfolgenden Abschnitt der Prüfung gesondert auf die Materien des Strafrechts und des Öffentlichen Rechts vorbereiten. Sowohl im Hinblick auf die Gedächtnisleistung als auch die Beherrschung der Systematik des abgeschichteten Teilrechtsgebiets würden diese Examenskandidaten damit in ungleicher Weise entlastet.

1. Fehlende Abschichtungsmöglichkeit als Ungleichbehandlung

Eine mögliche Verletzung von Art. 3 I GG könnte darin liegen, dass die Klägerin nicht die Möglichkeit der Abschichtung hatte.

Die gleichheitswidrige Vorenthaltung einer Begünstigung stellt grundsätzlich eine mögliche Verletzung des Art. 3 I GG dar und ist deshalb auch grundsätzlich geeignet, die Klagebefugnis zu begründen.

aber keine Vergleichbarkeit der Examenskandidaten

Voraussetzung ist allerdings, dass die Rüge der Verletzung des Art. 3 I GG deutlich macht, dass der Klägerin der Anspruch auf Beseitigung der Ungleichheit als eigener zustehen kann. Dies setzt neben der Darlegung, dass sich die zum Vergleich gestellten Sachverhalte, die vom Normgeber verschieden geregelt worden sind, im Wesentlichen gleichen und sich kein plausibler Grund für die Verschiedenartigkeit der Regelung anführen lässt, voraus, dass die Klägerin einem der Vergleichspaare angehört. Außerdem muss die Klägerin dartun, dass sie für den Fall des Erfolgs eine Besserstellung erfahren würde, die nicht nur in der Beseitigung der unterschiedlichen Rechtslage zum Nachteil anderer bestünde.

Hier gehört die Klägerin nach Ansicht des VGH bereits keiner Gruppe an, die mit den Kandidaten, denen die Abschichtungsmöglichkeit zusteht, verglichen werden könnte.

Die Erstprüfung der Klägerin ist bestandskräftig abgeschlossen. An der Wiederholungsprüfung im Examenstermin Frühjahr 2012 hat sie ohne Erfolg teilgenommen. Dementsprechend ist Streitgegenstand der vorliegenden Klage allein das Begehren auf Verpflichtung des Beklagten, ihr - unter Aufhebung der diesbezüglichen Bescheide - eine erneute Wiederholung des schriftlichen Teils der Staatsprüfung der Ersten juristischen Prüfung zu gestatten.

Die von der Klägerin beanstandete Ungleichbehandlung durch die Abschichtungsmöglichkeit betrifft aber überhaupt nicht Kandidaten einer Wiederholungsprüfung. Denn die beanstandete, in § 35b I, II JAPrO vorgesehene Abschichtungsmöglichkeit steht allein denjenigen zu, die erstmals an der Staatsprüfung teilnehmen. Wiederholern wird auch im Rahmen des Mannheimer Modells eine erneute Abschichtungsmöglichkeit und damit der mutmaßlich gleichheitswidrige Vorteil gerade nicht eingeräumt

Damit kommen als Angehörige der gleichheitswidrig begünstigten bzw. benachteiligten Vergleichsgruppe allein die Teilnehmer an der Erstprüfung, nicht aber Wiederholer wie die Klägerin in Betracht.

keine Änderung der Rechtslage zugunsten der Kläger zu erwarten

Darüber hinaus ist nach Auffassung des VGH auch nicht ersichtlich, dass die Feststellung eines Gleichheitsverstoßes zu einer Änderung der Rechtslage zugunsten der Klägerin führen würde.

Wird festgestellt, dass eine begünstigende Regelung mit Art. 3 I GG unvereinbar ist, ergibt sich als Rechtsfolge daraus grundsätzlich die Verpflichtung des Normgebers, die Rechtslage rückwirkend verfassungsgemäß umzugestalten. Eine Änderung der Rechtslage im Sinne des hier allein streitgegenständlichen Begehrens der Klägerin erscheint dem VGH ausgeschlossen. Diese verlangt, ihr erneut die Teilnahme am schriftlichen Teil der Staatsprüfung nach den allgemeinen, nicht für gestufte Kombinationsstudiengänge geltenden Bedingungen zu ermöglichen. Eine solche weitere Wiederholungsmöglichkeit ist jedoch ungeeignet, um die von ihr behauptete Ungleichbehandlung gegenüber den Prüflingen, die nach dem sog. „Mannheimer Modell" an der Prüfung teilgenommen haben, auszugleichen.

Anmerkung: In diesem Punkt ist sicherlich eine andere Ansicht vertretbar. Dies deshalb, weil für die Klagebefugnis ein möglicher Anspruch genügt und dieser nur ausgeschlossen ist, wenn er unter keinen Umständen in Betracht kommt. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht völlig unvorstellbar, dass der Gesetzgeber, würde die Gleicheitswidrigkeit der Regelung des § 35b I, II JAPrO festgestellt werden, hierauf mit der Einführung einer generellen Abschichtungsmöglichkeit reagiert und diese auch rückwirkend zumindest den gescheiterten Kandidaten zugesteht.

2. Verletzung von Art. 3 I GG, weil verzerrter Prüfungsmaßstab

Eine Verletzung von Art. 3 I GG, die zu einem Anspruch auf eine Wiederholungsprüfung führen könnte, kann aber auch darin liegen, dass durch § 35b I, II JAPrO ein verzerrter Prüfungsmaßstab entsteht. Diese Verzerrung kann unter Umständen dadurch eintreten, dass die Kandidaten im Rahmen der Abschichtung die Möglichkeit haben, sich intensiver auf die anstehenden Prüfungsgebiete vorzubereiten und so bessere Prüfungsleistungen erbringen können, die wiederum aber die anderen Kandidaten in einem schlechteren Licht erscheinen lassen.

Prüfungsrechtlich ist allerdings anerkannt, dass sich ein Prüfling auf eine dem Grundsatz der Chancengleichheit widersprechende Begünstigung anderer Prüflinge nicht berufen kann, wenn sein eigenes Prüfungsverfahren korrekt verlaufen ist und seine eigenen Prüfungsleistungen ordnungsgemäß bewertet worden sind.

Anmerkung: Andernfalls könnte man seine eigenen Prüfungsergebnisse nicht nur dann anfechten, wenn einem Prüfer ein Bewertungsfehler zum Nachteil des jeweiligen Klägers unterlaufen ist, sondern auch dann, wenn ein Prüfer bei einem Mitprüfling einen Korrekturfehler zu dessen Gunsten gemacht hat. Dies würde ersichtlich zu weit führen, wenn man sich überlegt, dass in manchen Bundesländern über 1000 Mitprüflinge gleichzeitig das Examen absolvieren!

Allerdings gilt dieser Grundsatz nicht ausnahmslos. Vielmehr kann eine fehlerhafte Bewertung der Prüfungsleistungen der nicht bevorzugten Prüflinge in Betracht zu ziehen sein, wenn bessere Leistungen der bevorteilten Prüflinge Einfluss auf die von den Prüfern zugrunde gelegten durchschnittlichen Anforderungen gehabt haben. Dies wird in der Rechtsprechung etwa angenommen, wenn durch die Bevorzugung die Gefahr einer grundlegenden Verfälschung der vernünftigen und gerechten Relation der Bewertungen untereinander und damit auch einer schlechteren Bewertung der Leistungen der nicht bevorzugten Mitprüflinge besteht.

Ob dies der Fall ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab, wobei u.a. die Größe der Gruppe der Prüfungskandidaten insgesamt und die Zahl der bevorzugten Prüfungskandidaten von Bedeutung sind.

Anmerkung: An der möglichen Verzerrung der Anforderungen der Prüfer ändert sich auch nichts dadurch, dass das für die Notenfindung maßgebliche Bezugssystem der Prüfer auch durch Einschätzungen und Erfahrungen beeinflusst wird, die der jeweilige Prüfer im Laufe seiner gesamten Examenspraxis und nicht nur im Rahmen der konkreten Klausur gewonnen hat. Für die konkrete Bewertung kommt es gerade auf den Vergleich zu den anderen Prüflingen in der konkreten Klausur an!

Nach diesen Kriterien kann nach Ansicht des VGH hier offensichtlich ausgeschlossen werden, dass bessere Leistungen der durch die Abschichtungsmöglichkeit mutmaßlich bevorteilten Mannheimer Studierenden Einfluss auf die von den Prüfern der Kampagne Frühjahr 2012 zugrunde gelegten durchschnittlichen Anforderungen gehabt haben. Dies gilt bereits aus folgendem Grund: Nach dem vom Landesjustizprüfungsamt herausgegebenen Jahresbericht 2012 haben im Gesamtjahr zwar 48 Kandidaten im Rahmen der Abschichtung an den zivilrechtlichen Aufsichtsarbeiten teilgenommen. An der hier maßgeblichen Kampagne Frühjahr 2012 hat insoweit aber lediglich ein Kandidat von 690 teilgenommen. Schon deshalb kann hier eine Verzerrung des Prüfungsmaßstabs und damit eine rechtsverletzende Benachteiligung der Klägerin von vornherein ausgeschlossen werden.

Ergebnis

Im Ergebnis ist damit eine Verletzung des Art. 3 I GG, die zu einem Anspruch der Klägerin auf eine nochmalige Wiederholungsprüfung führen könnte, noch nicht einmal möglich.

Die Sachentscheidungsvoraussetzungen liegen somit mangels Klagebefugnis, § 42 II VwGO, nicht vor.

D) Kommentar

(mg). Eine überzeugende Entscheidung. Soweit die Klägerin eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung darin sieht, dass ihr die Abschichtungsmöglichkeit nicht zusteht, wäre es angebracht gewesen, vor dem Wiederholungstermin auf die Einräumung dieser Möglichkeit zu klagen bzw. die Verfassungswidrigkeit der JAPrO vor den Verfassungsgerichten zu rügen -- und nicht nach nicht bestandener Wiederholungsprüfung eine erneute Wiederholungsprüfung einzufordern, die nach § 21 JAPrO grundsätzlich ausgeschlossen ist.

Aussichtsreicher war insoweit der Ansatz einer Verzerrung des Prüfungsmaßstabs. Im konkreten Fall ist dieser aber dadurch ausgeschlossen, dass im Termin der Klägerin nur ein einziger „Abschichter" zu ihr in Konkurrenz getreten ist. Es ist aber abwegig zu glauben, dass eine einzige Leistung, und sei sie noch so herausragend, den grundsätzlichen Prüfungsmaßstab eines Korrektors beeinflusst.

Dieser Punkt unterscheidet den konkret vorliegenden Fall von der Problematik zum einen in anderen Terminen in Baden-Württemberg, zum anderen aber von der Problematik in Nordrhein-Westfalen. Nach § 12 JAG NRW ist dort überall die Abschichtung möglich, soweit man sich bis zum Abschluss des siebten Fachsemesters zum Examen meldet (s.o.). Dadurch treten überall „Abschichter", die sich nur auf das Zivilrecht vorbereiten müssen, in Konkurrenz zu Kandidaten, die sich umfassend auf alle Gebiete einstellen mussten. Hier ist es durchaus denkbar, dass infolge besserer Leistungen der Abschichter im Zivilrecht der allgemeine Anforderungsmaßstab der Prüfer steigt und damit die Benotung der anderen Kandidaten schlechter ausfällt. Dem könnte man freilich entgegenhalten, dass ein Kandidat, der sich bis zum Abschluss des siebten Semesters zum Examen anmelden muss, per se deutlich weniger Vorbereitungszeit hatte und dies durch die Abschichtung nur ausgeglichen wird.

E) Background

Die vorliegende Entscheidung enthält durchaus interessante Ausführungen zu Art. 3 I GG, die nicht auf das Prüfungsrecht beschränkt sind. Darüber hinaus sollte das Prüfungsrecht jeden Examenskandidaten in besonderem Maße interessieren. Immerhin handelt es sich um die Spielregeln, die über den Erfolg im Rahmen eines absoluten beruflichen Meilensteins entscheiden. Aus diesem Grund finden Sie im Weiteren noch einige aktuelle prüfungsrechtliche Entscheidungen in Kürze dargestellt:

Beantwortungsspielraum

Ein Dauerbrenner des Prüfungsrechts - der Beurteilungsspielraum der Prüfer -- ist Gegenstand der Entscheidung des OVG Münster, Beschluss vom 04.04.2014, 14 A 968/12, das zum einen die ständige Rechtsprechung hierzu bestätigt:

„Bei prüfungsspezifischen Wertungen verbleibt der Prüfungsbehörde allerdings ein Entscheidungsspielraum, dessen gerichtliche Überprüfung darauf beschränkt ist zu überprüfen, ob Verfahrensfehler oder Verstöße gegen anzuwendendes Recht vorliegen, ob die Prüfungsbehörde von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, gegen allgemeine Bewertungsgrundsätze verstoßen hat, sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen oder sonst willkürlich gehandelt hat."

Anmerkung: Dieser gerichtsfreie Beurteilungsspielraum ist der Grund dafür, warum Klagen auf eine bessere Bewertung nur eine sehr niedrige Erfolgsquote aufweisen. Es ist nicht erfolgversprechend, hier einfach nur vorzutragen, dass nach eigener Ansicht eine bessere Benotung angezeigt wäre.

Chancen bestehen nur, wenn den Korrektoren nachweisliche Korrekturfehler unterlaufen sind.

Das OVG Münster betont aber zugleich, dass dem Prüfling ein „Beantwortungsspielraum" zusteht:

„Soweit die Richtigkeit oder Angemessenheit von Lösungen wegen der Eigenart der Prüfungsfrage nicht eindeutig bestimmbar sind, die Beurteilung vielmehr unterschiedlichen Ansichten Raum lässt, gebührt zwar dem Prüfer ein Bewertungsspielraum. Andererseits muss aber auch dem Prüfling ein angemessener Antwortspielraum zugestanden werden. Eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten folgerichtig begründete Lösung darf nicht als falsch gewertet werden."

Anmerkung: Dieser Beantwortungsspielraum dient gleichsam der „Waffengleichheit" zwischen Prüfling und Prüfer. Der Prüfling muss nicht die Rechtsauffassung des Prüfers teilen, seine Auffassung muss nur vertretbar sein. Mit dem Beantwortungsspielraum trägt die Rechtsprechung der Erkenntnis Rechnung, dass es zu nahezu jeder Rechtsfrage getreu dem Grundsatz „zwei Juristen, drei Meinungen" immer auch eine Gegenauffassung gibt.

Der Beantwortungsspielraum hilft dem Prüfling aber nicht schon dann, wenn er „zufällig" ein Ergebnis vertritt, das in aktueller Rechtsprechung oder Lehre auch vertreten wird. Entscheidend ist, dass er dieses Ergebnis auch argumentativ herleiten kann.

zweite Wiederholungsprüfung

In einigen Bundesländern ist unter Umständen eine zweite Wiederholungsprüfung zulässig.

Anmerkung: Soweit einzelne Bundesländer diese Möglichkeit nicht vorsehen, liegt hierin keine Verletzung des Art. 3 I GG, da eine Gleichbehandlung immer nur durch denselben Hoheitsträger verlangt werden kann.

So sieht § 17 II JAG Niedersachen vor, dass das Justizministerium eine zweite Wiederholung des Zweiten Staatsexamens gestatten kann, wenn die erfolglosen Prüfungen bei dem niedersächsischen Landesjustizprüfungsamt abgelegt worden sind und eine außergewöhnliche Beeinträchtigung der Referendarin oder des Referendars in dem zweiten Prüfungsverfahren vorgelegen hat.

Eine außergewöhnliche Beeinträchtigung bejaht das OVG Lüneburg, Beschluss vom 23.04.2014, 2 PAG 115/14 unter folgenden Voraussetzungen:

„Der Gesetzgeber hat mit dem unbestimmten Rechtsbegriff der „außergewöhnlichen Beeinträchtigung" eine persönliche Situation des Prüflings gekennzeichnet, die über die mit der Situation und den Inhalten einer Prüfung verbundenen typischen Belastungen weit hinausgeht und der er sich nicht entziehen kann, weil ihr Eintritt unerwartet und nicht abwendbar erscheint. Eine derartige atypische individuelle Sonderlage ist etwa bei im Privatbereich wurzelnden unerwarteten Schicksalsschlägen gegeben, die aus dem Rahmen gewöhnlicher privater Konfliktsituationen deutlich herausfallen. Gründe, die die Rechtmäßigkeit bereits abgelegter Prüfungen betreffen und durch Rücktritt von der Prüfung oder deren Anfechtung hätten geltend gemacht werden können und müssen, bleiben bei der Entscheidung über die Zulassung zu einer zweiten Wiederholungsprüfung außer Betracht. Denn andernfalls würde die Unanfechtbarkeit der bereits getroffenen Prüfungsentscheidungen unterlaufen. Dies gilt insbesondere, wenn sich der Prüfling in Kenntnis seiner Leistungsbeeinträchtigung dem Prüfungsrisiko aussetzt".

verlorene Klausur

Einen Fall, der überraschenderweise gar nicht so selten vorkommt, hatte der VGH München, Beschluss vom 26.02.2014, VGH 7 ZB 14.28 zu entscheiden -- den Teilverlust einer Klausur: Der Prüfling oder sein Anwalt merken im Rahmen der Akteneinsicht, dass eine oder mehrere der durchnummerierten Seiten fehlen.

Nach Auffassung des VGH

rechtfertigt der Teilverlust einer Prüfungsarbeit keinen Rücktritt von der Prüfung und grds. auch keine Wiederholung der Klausur, wenn davon auszugehen ist, dass die Teile dem Korrektor noch vorlagen".

Hier wird also entscheidend sein, ob sich aus den Korrekturanmerkungen entnehmen lässt, ob die Korrektoren hier Ausführungen zur Kenntnis genommen haben oder nicht.

F) Zur Vertiefung

  • Zu Art. 3 I GG

Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 179 ff.

G) Wiederholungsfrage

  1. Was besagt das Stichwort vom „Beurteilungsspielraum" der Prüfer?

  1. Vgl. hierzu den Problembeitrag in diesem Heft!