Neue Hoffnung für die FDP! Auch 3 %-Hürde verfassungswidrig!

BVerfG, Urteil vom 26.02.2014, 2 BvE 2/13

von Life and Law am 01.06.2014

+++ Wahl des Europaparlaments +++ Wahlrecht und Wahlgrundsätze +++ 5 %-Sperrklausel +++ Wahlprüfungsbeschwerde +++

Sachverhalt (leicht abgewandelt): Nach dem durch den Rat der Europäischen Gemeinschaften1 erlassenen Direktwahlakt werden die Abgeordneten des Europäischen Parlaments direkt durch die Bevölkerung der Mitgliedstaaten gewählt. Der Direktwahlakt ordnet in seiner aktuellen Fassung zwar die Verhältniswahl an, im Übrigen wird die konkrete Ausgestaltung der Wahl aber den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen. Art. 3 des Direktwahlaktes ermächtigt die nationalen Gesetzgeber dabei, für die Sitzvergabe an einzelne Parteien Mindestschwellen festzulegen, die jedoch 5 % aller in einem Mitgliedstaat abgegebenen Stimmen nicht überschreiten dürfen.

In der Bundesrepublik wird die Wahl in Ausführung des Direktwahlaktes durch das EuWG geregelt. § 2 VII EuWG enthielt dabei bis 2011 folgende Regelung:

„Bei der Verteilung der Sitze auf die Wahlvorschläge werden nur Wahlvorschläge berücksichtigt, die mindestens fünf vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben."

Mit Urteil vom 09.11.2011, 2 BvC 4/10, BVerfGE 129, 300 = Life & Law 03/2012 erklärte das BVerfG dies für unvereinbar mit Art. 3 I, 21 I GG und daher für nichtig, weil unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen der mit der Sperrklausel verbundene schwerwiegende Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien nicht zu rechtfertigen sei.

Am 22.11.2012 verabschiedete das Europäische Parlament eine Empfehlung zu künftigen Wahlen, wonach „verlässliche Mehrheiten im Parlament für die Stabilität der Legislativverfahren der Union und das reibungslose Funktionieren ihrer Exekutive von entscheidender Bedeutung sein werden, und forderte die Mitgliedstaaten daher auf, in ihrem Wahlrecht gemäß Artikel 3 des Aktes zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung geeignete und angemessene Mindestschwellen für die Zuteilung der Sitze festzulegen, um dem in den Wahlen zum Ausdruck gekommenen Wählerwillen gebührend Rechnung zu tragen, bei gleichzeitiger Wahrung der Funktionalität des Parlaments".

Der Deutsche Bundestag beschloss nach einem ordnungsgemäßen Gesetzgebungsverfahren am 13.06.2013 folgende Neufassung des § 2 VII EuWG:

„Bei der Verteilung der Sitze auf die Wahlvorschläge werden nur Wahlvorschläge berücksichtigt, die mindestens drei Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben."

Gegen diese Neufassung legte der deutsche Staatsbürger B eine zulässige Verfassungsbeschwerde ein.

Ist die Verfassungsbeschwerde auch begründet?

A) Sounds

1. Der mit der Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht verbundene schwerwiegende Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien ist unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen nicht zu rechtfertigen.

2. Eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung kann sich ergeben, wenn sich die Verhältnisse wesentlich ändern. Der Gesetzgeber ist nicht daran gehindert, auch konkret absehbare künftige Entwicklungen bereits im Rahmen der ihm aufgegebenen Beobachtung und Bewertung der aktuellen Verhältnisse zu berücksichtigen; maßgebliches Gewicht kann diesen jedoch nur dann zukommen, wenn die weitere Entwicklung aufgrund hinreichend belastbarer tatsächlicher Anhaltspunkte schon gegenwärtig verlässlich zu prognostizieren ist.

B) Problemaufriss

Das Wahlrecht fristet in der juristischen Ausbildung meist nur ein Schattendasein, das seiner praktischen Bedeutung nicht annähernd gerecht wird. Wie wichtig das Wahlrecht und gerade die hier zum wiederholten Male im Streit stehende Sperrklausel in der Rechtswirklichkeit ist, zeigt allein ein Blick auf die letzte Bundestagswahl: Bei einer 3 %-Hürde wie in § 2 VII EuWG statt der in § 6 III BWahlG geregelt 5 %-Hürde würde Deutschland jetzt nicht von einer großen Koalition, sondern weiterhin von Schwarz-Gelb regiert.

Die Sperrklausel entscheidet aber nicht nur über die Zusammensetzung der jeweiligen Regierung, sie schließt vor allen Dingen eine immer größer werdende Anzahl von Wählern von der Vertretung im Bundestag aus. Waren es 1972 nur ein Prozent der Wähler, deren Stimme infolge der Sperrklausel erfolglos blieb, betraf dies bei der Bundestagswahl 2013 sechzehn Prozent der Wähler bzw. sieben Millionen Zweitstimmen! Allein diese Zahlen belegen, dass die Problematik der Sperrklausel nicht nur eine juristisch interessante Fragestellung, sondern auch eine für die gelebte Demokratie höchst aktuelle und brisante Problematik darstellt.

C) Lösung

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn B tatsächlich in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist.

Zulässigkeit einer Verfas­sungs­beschwerde, Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG

I. Beschwerdeberechtigung = Jedermann

  1. Grundrechtsfähigkeit; P.: jur. Personen, Art. 19 III GG

II. Ggf. Verfahrensfähigkeit / Prozessfähigkeit

/ Grundrechtsmündigkeit

III. Beschwerdegegenstand

Akt der öffentlichen Gewalt

IV\. Beschwerdebefugnis
  1. Behauptung der Verletzung eines Grundrechts oder

    grundrechtsähnlichen Rechts

  2. Rechtsrelevanz des angegriffenen Aktes Betroffenheit des Beschwerdeführers (selbst, gegenwärtig, unmittelbar) V. Rechtswegerschöpfung (§ 90 BVerfGG) & Subsidiarität VI. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis VII. Frist, § 93 BVerfGG, und Form, §§ 92, 23 BVerfGG

I. Verletzung des Art. 38 I S. 1 GG

Die Sperrklausel des § 2 VII EuWG könnte gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl aus Art. 38 I S. 1 GG verstoßen.

Art. 38 I GG gilt in seiner direkten Anwendung aber nur für Wahlen des Deutschen Bundestages. Für die Bewertung des Europawahlgesetzes muss daher auf allgemeine Regelungen Bezug genommen werden; ein direkter Rückgriff auf Art. 38 I GG ist verwehrt.

Anmerkung: Art. 38 I S. 1 GG wird hier dennoch nicht bedeutungslos sein, da in ihm Wahlgrundsätze verkörpert sind, die einem demokratischen und gleichheitsbasierten Wahlrecht immanent sind und deshalb auch für andere Wahlen als Bundestagswahlen zu gelten haben.

II. Verletzung des Art. 3 I GG

Insoweit könnte § 2 VII EuWG gegen Art. 3 I GG verstoßen.

1.Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung vom 09.11.2011

Eine solche Verletzung könnte sich ohne erneute Sachprüfung bereits aus der Bindung an die verfassungsgerichtliche Entscheidung vom 09.11.2011 ergeben.

Verbot inhaltsgleicher Gesetze

Insoweit ist vom BVerfG bislang nicht abschließend geklärt, wieweit in der Nichtigerklärung eines Gesetzes zugleich das Verbot liegt, inhaltsgleiche Gesetze erneut zu erlassen.2

kein Verbot aus § 31 II BVerfGG

Ein solches Verbot ergibt sich jedenfalls nicht aus § 31 II BVerfGG, wonach der Nichtigerklärung des Gesetzes ebenfalls Gesetzeswirkung zukommt. Das folgt bereits daraus, dass die gesetzgebende Gewalt im Unterschied zur vollziehenden und zur rechtsprechenden Gewalt in Art. 20 III GG nur an die verfassungsmäßige, nicht auch an die einfachgesetzliche Ordnung gebunden ist. Der Gesetzgeber ist selbstverständlich nicht an seine eigenen Gesetze gebunden, sondern darf diese ändern und aufheben. Die Bindungswirkung einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung nach § 31 II BVerfGG geht aber nicht weiter als die des aufgehobenen Gesetzes selbst.

Verbot aus § 31 I BVerfGG

Das Verbot, inhaltsgleiche Gesetze erneut zu erlassen, kann sich damit nur aus der Bindungswirkung nach § 31 I BVerfGG ergeben. Gegen ein solches Verbot spricht allerdings, dass es dem Gesetzgeber als dem vom Volk gewählten Souverän möglich sein muss, seine Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsverantwortung auch durch Verabschiedung einer inhaltsgleichen Neuregelung nachzukommen, wenn er sie für erforderlich bzw. angesichts einer Änderung der tatsächlichen bzw. rechtlichen Rahmenbedingungen für zulässig hält. Der Gesetzgeber muss sich dabei nach dem Grundsatz der Organtreue mit den Argumenten des BVerfG auseinandersetzen bzw. ist insoweit an diese gebunden, als er nicht ohne eine Änderung der Rahmenbedingungen ein inhaltsgleiches Gesetz erneut erlassen darf. Dies muss aber gerade im konkreten Einzelfall vom BVerfG überprüft werden, zumal auch nur auf diesem Weg das BVerfG seine eigene Rechtsprechung überdenken kann.

Letztlich kann diese Problematik hier offen gelassen werden. Der Bundestag hat gerade kein inhaltsgleiches Gesetz erlassen. Eine 3 %-Sperrklausel kann sich anders als eine 5 %-Sperrklausel auswirken und bedarf deshalb gesonderter sachlicher Würdigung. Der Gesetzgeber hat sich bei Erlass seiner Neuregelung auch gerade mit den Argumenten des BVerfG auseinandergesetzt und damit nicht gegen seine verfassungsrechtliche Pflicht zur Rücksichtnahme verstoßen.

Anmerkung: Das BVerfG kann aus diesem Grund offen lassen, welche rechtlichen Folgen es hätte, wenn der Gesetzgeber ein inhaltsgleiches Gesetz neu erlässt, ohne sich mit der vorhergehenden Entscheidung des BVerfG auseinanderzusetzen. Allein eine solche fehlende Beschäftigung mit einem früheren Urteil kann aber wohl nicht zur Nichtigkeit eines Gesetzes führen, das sich im Übrigen bei heutiger Betrachtung als verfassungsgemäß erweist.

2. Keine Bindungswirkung an europarechtliche Vorgaben

Bei der verfassungsrechtlichen Würdigung der Neufassung des § 2 VII EuWG besteht auch keinerlei Bindungswirkung an europarechtliche Vorgaben.

Art. 3 des Direktwahlaktes ermächtigt die nationalen Gesetzgeber, Sperrklauseln einzuführen, die jedoch 5 % aller in einem Mitgliedstaat abgegebenen Stimmen nicht überschreiten dürfen, er begründet aber keine entsprechende Verpflichtung und lässt daher die Reichweite der innerstaatlichen Überprüfung der Vereinbarkeit einer solchen Regelung mit den durch das Grundgesetz verbürgten Wahlgrundsätzen unberührt.

Anmerkung: Da das Unionsrecht nur eine Obergrenze, nicht aber eine verpflichtende Sperrklausel normiert, kommt auch eine Vorlage nach Art. 367 AEUV nicht in Betracht.

3. Wahlrechtliche Vorgaben des Art. 3 I GG

Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl, der sich für die Wahl der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus Art. 3 I GG in seiner Ausprägung als Gebot formaler Wahlgleichheit ergibt, sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger und ist eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung.

Er gebietet, dass alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können und ist im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen. Aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben.

Bei der Verhältniswahl verlangt der Grundsatz der Wahlgleichheit darüber hinaus, dass jeder Wähler mit seiner Stimme auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben muss. Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind. Zur Zählwertgleichheit tritt im Verhältniswahlrecht die Erfolgswertgleichheit hinzu.

Anmerkung: Das Bundesverfassungsgericht argumentiert im Weiteren auch mit Art. 21 I GG. Der aus Art. 21 I, 3 I GG abzuleitende Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verlangt, dass jeder Partei die gleichen Möglichkeiten im Wahlverfahren und damit die gleiche Chance bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Da vorliegend über eine Verfassungsbeschwerde des Bürgers B zu entscheiden ist, ist allerdings nicht ganz klar, wieweit dieser sich auf Art. 21 GG berufen können soll.

a) Ungleichbehandlung

Während der Zählwert aller Wählerstimmen von der 3 %-Sperrklausel unberührt bleibt, werden die Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswerts aber ungleich behandelt, je nachdem, ob die Stimme für eine Partei abgegeben wurde, die 3 % der Stimmen oder mehr auf sich vereinigen konnte, oder für eine Partei, die an der 3 %-Sperrklausel gescheitert ist. Diejenigen Wählerstimmen, welche für Parteien abgegeben worden sind, die mindestens 3 % der Stimmen erhalten haben, haben unmittelbaren Einfluss auf die Sitzverteilung nach dem Verhältnisausgleich. Dagegen bleiben diejenigen Wählerstimmen, die für Parteien abgegeben worden sind, die an der Sperrklausel gescheitert sind, ohne Erfolg.

Die 3 %-Prozent-Sperrklausel greift zwar weniger intensiv in die Wahlrechtsgleichheit und in die Chancengleichheit der Parteien ein als die frühere 5 %-Prozent-Sperrklausel. Daraus folgt jedoch nicht, dass der auch mit der 3 %-Prozent-Sperrklausel verbundene Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit vernachlässigbar wäre und keiner Rechtfertigung bedürfte. Ein Sitz im Europäischen Parlament kann bereits mit etwa einem Prozent der abgegebenen Stimmen errungen werden, sodass die Sperrklausel praktische Wirksamkeit entfaltet.

Die 3 %-Sperrklausel in § 2 VII EuWG bewirkt demnach eine Ungleichgewichtung der Wählerstimmen und bedarf damit einer Rechtfertigung.

Anmerkung: Im Rahmen des Art. 3 I GG spricht man üblicherweise nicht von der „Rechtfertigung eines Eingriffs". Stattdessen wird zunächst geprüft, ob eine (1) Ungleichbehandlung vorliegt, und wenn dem so ist, ob diese Differenzierung dann (2) durch Vorliegen eines sachlichen Grundes legitimiert ist.3 Bei besonderen Gleichheitsrechten spricht das BVerfG hingegen ausdrücklich von „Eingriff" und „Rechtfertigung". (Vermutlich) Da hier letztlich ein spezielles Gleichheitsrecht, die Wahlgleichheit, in Gestalt des Art. 3 I GG geprüft wird, verwendet das BVerfG z.T. Formulierungen, die i.R.d. Art. 3 I GG unüblich sind.

b) Sachlicher Grund als Rechtfertigung

Zwischen Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien besteht ein enger Zusammenhang. Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Einschränkungen folgt den gleichen Maßstäben.

Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit unterliegt ebenso wie der Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien keinem absoluten Differenzierungsverbot. Allerdings folgt aus dem formalen Charakter dieser Grundsätze, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibt. Bei der Prüfung, ob eine Differenzierung innerhalb der Wahlrechtsgleichheit gerechtfertigt ist, ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen. Differenzierungen bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten, „zwingenden" Grundes. Das bedeutet nicht, dass die Differenzierung als von Verfassungs wegen notwendig dargestellt werden muss. Differenzierungen im Wahlrecht können vielmehr auch durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann.

Hierzu zählen insbesondere die mit der Wahl verfolgten Ziele. Dazu gehört die Sicherung des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes und damit zusammenhängend die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung. Eine große Zahl kleiner Parteien und Wählervereinigungen in einer Volksvertretung kann zu ernsthaften Beeinträchtigungen ihrer Handlungsfähigkeit führen. Eine Wahl hat aber nicht nur das Ziel, überhaupt eine Volksvertretung zu schaffen, sondern sie soll auch ein funktionierendes Vertretungsorgan hervorbringen. Was der Sicherung der Funktionsfähigkeit dient und dafür erforderlich ist, kann indes nicht für alle zu wählenden Volksvertretungen einheitlich beantwortet werden. Dies beurteilt sich vielmehr nach den konkreten Funktionen des zu wählenden Organs.

Differenzierende Regelungen müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich daher auch danach, mit welcher Intensität in das - gleiche - Wahlrecht eingegriffen wird. Ebenso können gefestigte Rechtsüberzeugungen und die Rechtspraxis Beachtung finden. Der Gesetzgeber hat sich bei seiner Einschätzung und Bewertung allerdings nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit zu orientieren. Gegen die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien wird verstoßen, wenn der Gesetzgeber mit der Regelung ein Ziel verfolgt hat, das er bei der Ausgestaltung des Wahlrechts nicht verfolgen darf, oder wenn die Regelung nicht geeignet und erforderlich ist, um die mit der jeweiligen Wahl verfolgten Ziele zu erreichen.

Für Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht bedeutet dies, dass die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien nicht ein für alle Mal abstrakt beurteilt werden kann. Eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel darf daher nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden. Vielmehr kann sich eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung ergeben, wenn sich die Verhältnisse wesentlich ändern. Findet der Wahlgesetzgeber in diesem Sinne veränderte Umstände vor, so muss er ihnen Rechnung tragen. Maßgeblich für die Frage der weiteren Beibehaltung, Abschaffung oder Wiedereinführung einer Sperrklausel sind allein die aktuellen Verhältnisse.

Anmerkung: Hier lässt das BVerfG dem Gesetzgeber ein „Törchen" offen. Sollte der Gesetzgeber in einigen Jahren die Frage der Sperrklausel neu prüfen und sich bis dahin bspw. Funktion oder Arbeitsweise des EU-Parlaments geändert haben, kann er selbstverständlich über eine Wiedereinführung der Sperrklausel nachdenken.

Vor diesem Hintergrund kann jedenfalls die allgemeine und abstrakte Behauptung, durch den Wegfall der 3 %-Sperrklausel werde der Einzug kleinerer Parteien und Wählergemeinschaften in das EU-Parlament erleichtert und dadurch die Willensbildung in diesem Organen erschwert, einen Eingriff in die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit nicht rechtfertigen. Die bloße „Erleichterung" oder „Vereinfachung" der Beschlussfassung im EU-Parlament genügt nicht als Rechtfertigung für einen Eingriff in das Recht der gleichen Wahl. Nur die mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane kann die 3 %-Sperrklausel rechtfertigen.

Beurteilung anhand der konkreten Aufgaben des EP und der Verhältnisse im EP

Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass das EU-Parlament in seinen Funktionen nicht mit dem Deutschen Bundestag vergleichbar ist. Während im Deutschen Bundestag eine stabile Mehrheit im Bundestag für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufenden Unterstützung nötig ist, kann im EU-Parlament auch mit ständig wechselnden Mehrheiten gearbeitet werden:

Der Kommissionspräsident wird zwar auf Vorschlag des Europäischen Rates durch das Europäische Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder gewählt (Art. 17 VII UA 1 S. 2 EUV). Auch muss sich das Gesamtkollegium der Kommission einem Zustimmungsvotum des Parlaments stellen, bevor es vom Europäischen Rat ernannt wird (vgl. Art. 17 VII UA 3 EUV). Allerdings sind die Kommission und ihr Präsident, solange das Parlament ihnen nicht mit der erforderlichen hohen Stimmenzahl nach Art. 234 II AEUV das Vertrauen entzieht, bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht auf seine weitere Zustimmung angewiesen. Auch ist die unionale Gesetzgebung nach dem Primärrecht so konzipiert, dass sie nicht von bestimmten Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Parlament abhängt.

Anmerkung: Zwar wird von verschiedenen Politikern immer wieder gefordert, die Befugnisse des Parlaments sowohl im Rahmen der „Regierungsbildung" als auch der Gesetzgebung weiter auszubauen. Entsprechende Änderungen der Verträge sind zur Zeit aber noch nicht einmal in Planung und insoweit im Rahmen der Entscheidung auch nicht zu berücksichtigen.

Tatsächliche Verhältnisse im EP

Außer diesen nur eingeschränkten Aufgaben des Parlaments, sind auch die tatsächlichen Verhältnisse im Parlament zu berücksichtigen: Im Europäischen Parlament sind gegenwärtig mehr als 160 Parteien vertreten. Unter ihnen sind viele, die nur über einen oder zwei Sitze verfügen. Dass zahlreiche kleine Parteien Abgeordnete entsenden, ist im Unionsrecht angelegt. Die im Europäischen Parlament gebildeten Fraktionen verfügen über eine erhebliche Integrationskraft, sie bilden die zentralen Arbeitseinheiten des Europäischen Parlaments. Die Arbeit im Europäischen Parlament zeichnet sich durch wechselnde Mehrheiten, aber auch durch eine Zusammenarbeit der beiden großen Fraktionen aus.

weiterhin wechselnde Mehrheiten möglich

Aus Sicht des BVerfG ist nicht absehbar, dass sich hieran in naher Zukunft etwas ändern wird, und zwar auch dann nicht, wenn durch den vollständigen Wegfall der Sperrklausel noch mehr Parteien in das Europäische Parlament einziehen werden. Das BVerfG geht davon aus, dass ein Großteil dieser Parteien von den Fraktionen des Parlaments aufgenommen werden wird.

c) Ergebnis

Da eine Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht damit gegenwärtig - und zwar mit Blick sowohl auf die bestehenden Verhältnisse als auch auf hinreichend sicher prognostizierbare Entwicklungen - bereits nicht erforderlich ist, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments sicherzustellen, es also an der Rechtfertigung bereits dem Grunde nach fehlt, kommt es auf Fragen der Angemessenheit der 3 %-Prozent-Klausel nicht an.

Die Regelung des § 2 VIII EuWG verletzt Art. 3 I GG des Beschwerdeführers und wird deshalb für nichtig erklärt, § 95 III BVerfGG.

D) Kommentar

(mg). Eine Entscheidung, die vor allen Dingen absehbar war. Der Bundestag hätte angesichts der Entscheidung vom 09.11.2011 damit rechnen müssen, dass sich das BVerfG nicht mit einer Absenkung von 5 % auf 3 % begnügen wird.

Zugleich eine Entscheidung, die Kritik von allen Seiten erfährt: Europapolitiker sehen das EU-Parlament nicht hinreichend gewürdigt, da das BVerfG mehrfach betont, dass dieses eben nicht mit dem Bundestag und dessen Funktionen vergleichbar sei. Aus Sicht des BVerfG ist das Parlament offenbar ein nicht so bedeutender Mitspieler auf der europäischen Bühne -- eine Einschätzung, die das Ego mancher EU-Parlamentarier verletzen mag, die rechtlich aber sicher nicht ganz von der Hand zu weisen ist.

Die Abgeordneten des Bundestags wiederum sehen ihren politischen Spielraum als zu stark beschnitten an und werfen dem BVerfG vor, selbst Politik zu betreiben. In diese Richtung geht auch die Kritik des Verfassungsrichters Müller in seiner abweichenden Stellungnahme: „Soweit der Senat eine mit „einiger Wahrscheinlichkeit" zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane fordert, verbleibt ein erheblicher Entscheidungsspielraum. Die Bewertung dieses Korridors zwischen der rein theoretischen Möglichkeit und dem sicheren Eintritt einer Funktionsbeeinträchtigung ist dem Gesetzgeber vorbehalten. Stützt er seine Entscheidung auf nachvollziehbare tatsächliche Umstände und leitet daraus in vertretbarer Weise eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Vertretungsorgans ab, handelt er in Wahrnehmung seines Auftrages zur Ausgestaltung des Wahlrechts. Behält das Gericht sich demgegenüber vor, zu bestimmen, ab welchem Grad der Wahrscheinlichkeit von einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit eines Vertretungsorgans auszugehen ist, ist angesichts der unvermeidlichen Unsicherheiten derartiger Prognosen eine Beschränkung auf die bloße Kontrolle der gesetzgeberischen Entscheidung nicht mehr gewährleistet. Es ist aber nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts, die vertretbare Entscheidung des Gesetzgebers durch eine eigene vertretbare Entscheidung zu ersetzen."

Bedeutung für das BWahlG?

Die vorliegende Entscheidung „befeuert" auch die Diskussion, ob die 5 %-Sperrklausel im Rahmen der Bundestagswahl, § 6 III BWahlG, noch haltbar ist oder nicht. Befürworter der Sperrklausel fordern zu deren Absicherung sogar eine Änderung des Art. 38 GG.

Diese Reaktion erscheint übertrieben, da das BVerfG in seiner aktuellen Entscheidung immer wieder die Unterschiede zwischen EU-Parlament und Bundestag betont.

Neben den deutlichen Unterschieden in den Funktionen beider Parlamente existiert ein weiterer wichtiger Grund für die Beibehaltung der Sperrklausel im Rahmen einer Bundestagswahl: Sollte diese Sperrklausel wegfallen, bestünde die Gefahr, dass im Falle eintretender Funktionsbeeinträchtigungen das Parlament aufgrund seiner veränderten strukturellen Zusammensetzung nicht mehr in der Lage wäre, die gesetzlichen Regelungen, konkret das BWahlG, für die nächste Wahl zu ändern, weil die erforderliche Mehrheit nicht mehr zustande käme. Diese Situation kann im Europäischen Parlament nicht eintreten, solange zur Regelung des Wahlrechts nicht das Europäische Parlament selbst, sondern der Deutsche Bundestag berufen ist.

Sicherlich kann man darüber diskutieren, ob im Deutschen Bundestag tatsächlich eine 5 %-Klausel erforderlich ist oder ob nicht auch eine 3 %-Klausel bspw. ausreichend wäre. Diese Frage der Geeignetheit einer gesetzlichen Regelung sollte aber tatsächlich dem Beurteilungsspielraum des Parlaments überlassen und nicht vom BVerfG beantwortet werden!

E) Zur Vertiefung

  • Zur Wahl des Bundestages

Hemmer/Wüst, Staatshaftungsrecht II, Rn. 241 ff.

  • Zum Europäischen Parlament

Hemmer/Wüst, Europarecht, Rn. 128 ff.

  • Zum Wahlrecht

Minkoff/Grieger, „Probleme des Staatsorganisationsrechts -- Das Wahlsystem", Life & Law 2012, 214 ff. und 297 ff.

G) Wiederholungsfragen

  1. Wie unterscheiden sich Mehrheitswahl und Verhältniswahl?
  2. Was bedeutet gleicher Zählwert, was bedeutet gleicher Erfolgswert?

  1. Heute der Rat der Europäischen Union. Nicht zu verwechseln ist der Rat (der EU) mit dem Europäischen Rat und dem Europarat, vgl. hierzu Hemmer/Wüst, Europarecht, Rn. 142 ff.

  2. Für ein entsprechendes Verbot BVerfGE 1, 14 ff, gegen ein solches Verbot BVerfGE 77, 84 ff.

  3. Vgl. zur „neuen Formel" Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 177.