Kunstfreiheit (Art. 5 III GG) / Grundrechte als Teilhaberechte

Grundfall (nicht nur) für Anfangssemester, Öffentliches Recht

von Life and Law am 01.01.2014

+++ Kunstfreiheit +++ Grundrechte als Teilhaberechte +++ Objektive Dimension der Grundrechte +++

Sachverhalt: Gemäldeliebhaber M unterstützt regionale Maler, indem er diesen Räumlichkeiten zur Ausstellung ihrer Werke zur Verfügung stellt, für diese Ausstellungen wirbt, und in seiner Freizeit persönlich in der Ausstellung tätig ist. Er tut dies nicht, um Gewinn zu erzielen, sondern um Künstler zu fördern. In einem Landesgesetz ist vorgesehen, dass privaten Museen sowie anderen privaten Einrichtungen im Kunst- und Kulturbereich finanzielle Zuschüsse gewährt werden. In den vergangenen Jahren hat M stets Zuschüsse nach diesem Gesetz erhalten. Nunmehr wird das Gesetz durch den Landtag gestrichen. Ein Antrag des M auf Gewährung der Zuschüsse wird abgelehnt. M ist der Ansicht, dass ihm eine Förderung gewährt werden müsse. Die Ausstellungen könnten niemals kostendeckend betrieben werden. Ohne Zuschüsse müsse er die Förderung der Künstler einstellen. Kaum eine Einrichtung im Kunst- und Kulturbereich arbeite kostendeckend, insbesondere auch nicht die staatlichen Einrichtungen.

Frage: Ist M in Grundrechten verletzt?

A) Sound

Kann der Einzelne einen Anspruch auf staatliche Leistungen haben, die ihm die Ausübung einer grundrechtlichen Freiheit erst ermöglichen?

B) Lösung

M könnte in seinen Grundrechten verletzt sein, indem ihm die weitere Förderung seiner Ausstellungen versagt wird.

Er könnte dadurch in seinem Grundrecht auf Kunstfreiheit gem. Art. 5 III GG verletzt sein.

1. Schutzbereich der Kunstfreiheit gem. Art. 5 III GG

Die Ausstellung der Werke regionaler Maler durch M müsste vom Schutzbereich der Kunstfreiheit umfasst sein.

a) Kunstbegriff

Für den Begriff der Kunst bestehen unterschiedliche Ansätze.

Nach dem formalen Kunstbegriff sind solche Werke Kunst, die bestimmten Werktypen wie Theater, Gesang, Dichtung, Malerei, Bildhauerei zugeordnet werden können.1

Nach dem materiellen Kunstbegriff ist Kunst die „freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden".2

Der offene Kunstbegriff sieht als kennzeichnend an, dass es „wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich ist, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiterreichende Bedeutung zu entnehmen".3

Sicher ist, dass die herkömmlichen Werktypen i.S.d. formalen Kunstbegriffs dem Art. 5 III GG unterfallen, Kunst jedoch nicht hierauf beschränkt ist. Welche Grenzen dem Kunstbegriff im Einzelnen zu ziehen sind, kann hier dahin stehen, da es vorliegend um Malerei geht und diese ein anerkannter Werktyp der Kunst ist.

hemmer-Methode: Lernen Sie nicht stur Definitionen auswendig. Es ist nicht erforderlich, dass Sie in der Klausur (anders als in der Hausarbeit) genau den Wortlaut der BVerfG-Entscheidungen wiedergeben. Sie müssen aber wissen, dass es diese drei verschiedenen Kunstbegriffe gibt, und was sie inhaltlich besagen.

b) Werkbereich und Wirkbereich

Von der Gewährleistung der Kunstfreiheit ist dabei dem Umfang nach die Herstellung des Kunstwerks erfasst, d.h. z.B. das Malen des Bildes. Dies wird als der Werkbereich der Kunst bezeichnet.

Geschützt ist jedoch ebenso, die Kunst einem Publikum zu zeigen. Denn Kunst wird üblicherweise zu dem Zweck gemacht, sie anderen Personen darzubieten (sog. Wirkbereich). Dazu zählt auch die Ausstellung von Kunstwerken.

c) Grundrechtsberechtigung des M aus Art. 5 III GG (personaler Schutzbereich)

Personell geschützt wird der Künstler selbst durch Art. 5 III GG, wenn er das Kunstwerk herstellt und darbietet.

Mit der Kunst ist jedoch i.d.R. auch deren Darstellung verbunden. In diesem Wirkbereich wird häufig nicht nur der Künstler selbst tätig, sondern auch dritte Personen, ohne deren Tätigkeit die künstlerische Darstellung nicht möglich wäre.

Zum effektiven Schutz der Kunstfreiheit sind daher auch diejenigen Personen Träger des Grundrechts, die eine „unentbehrliche Mittlerfunktion" zwischen dem Künstler und dem Publikum haben (h.M.). Dazu zählt derjenige, der an der Verbreitung eines Kunstwerks mitwirkt, oder auch nur dafür wirbt.4

Da M hier selbstständig die Ausstellung durchführt und auch für sie wirbt, ist er im Wirkbereich dieser Kunst tätig. Sein Verhalten, die Ausstellung der Kunstwerke, ist von Art. 5 III GG geschützt.

hemmer-Methode: Bloße „Dienstleister" sind aber nicht von Art. 5 III GG geschützt, wie z.B. derjenige, der solche Ausstellungs­räumlich­keiten nur vermietet, oder der Partyservice für eine Vernissage.

2. Eingriff

Eingriff ist jede staatliche Maßnahme, durch die dem Einzelnen ein grundrechtlich geschütztes Verhalten unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert wird.5

Die an den M ergangene Ablehnung, seine Ausstellungen weiterhin zu fördern, führt dazu, dass ihm das grundrechtlich geschützte Verhalten, die Fortführung der Ausstellung, zumindest wesentlich erschwert wird.

Fraglich ist jedoch, ob dies tatsächlich einen Eingriff darstellen kann. Denn diese Beeinträchtigung des M ergibt sich allein daraus, dass er nicht (mehr) gefördert wird. Sie ergibt sich also nicht aufgrund einer staatlichen Maßnahme, sondern aufgrund einer Untätigkeit des Staates.

hemmer-Methode: Es kann nicht stets einen Eingriff darstellen, wenn dem Einzelnen aus finan­ziellen Gründen ein bestimmtes Ver­halten unmöglich ist. So kann nicht jeder jeden Monat erster Klasse nach Australien fliegen. Dass der Staat keine kostenlosen Flüge anbietet und Flüge erster Klasse auch nicht subventioniert, sodass sie sich jeder leisten kann, stellt aber sicher keinen Eingriff dar.

Aufbaumäßig ist es auch möglich, hier zunächst einen Eingriff anzunehmen und die nachfolgenden Ausführungen i.R.d. ver­fassungs­rechtlichen Rechtfertigung zu machen. Möglich ist auch, hier von vornherein von der üblichen Prüfung (1. Schutzbereich, 2. Eingriff, 3. Rechtfertigung) abzuweichen, und direkt nach einem Anspruch aus Grundrechten zu fragen!

Ein Eingriff in die Kunstfreiheit kann nur in dem Unterlassen der Förderung gesehen werden, wenn aus Art. 5 III GG ein Anspruch auf Förderung bestehen könnte. Nur unter der Voraussetzung, dass der Staat zur Förderung Privater im Kunstbereich verpflichtet ist, kann die Nichtförderung überhaupt das Grundrecht auf Kunstfreiheit beeinträchtigen.

Es ist daher zu prüfen, ob aus Art. 5 III GG ein solcher Anspruch folgen kann. Dazu müsste das Grundrecht neben seiner „normalen" Funktion, den Einzelnen vor eingreifenden staatlichen Maßnahmen zu schützen (Grundrechte als Abwehrrechte), die weitere Funktion beinhalten, einen Anspruch auf staatliche Leistung oder ein sonstiges Tätigwerden zu geben (Grundrechte als Leistungs- und Teilhaberechte).

hemmer-Methode: Machen Sie sich die Frage klar, die sich hier stellt. Die Grundrechte sollen den Einzelnen vor staatlichen Eingriffen schützen. Sie sind Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat, und darauf gerichtet, dass ein staatliches Verhalten unterbleibt.6 Dies ist die klassische Grundrechtsfunktion.

Eine andere Frage ist es, ob aus Grundrechten auch Rechte des Einzelnen auf positives Tätigwerden des Staates folgen.

Primäre Funktion der Grundrechte ist die Abwehr staatlicher Eingriffe. Dies folgt schon aus der geschichtlichen Entwicklung der Grundrechte, die den Schutz des Einzelnen vor Eingriffsmaßnahmen zum Ziel hatte.

Einen Anspruch des Einzelnen auf Leistungen oder ein sonstiges Tätigwerden des Staates sieht das Grundgesetz nur an einigen Stellen vor. So hat gem. Art. 6 IV GG jede Mutter Anspruch auf Schutz und Fürsorge.

Art. 19 IV GG sieht den Anspruch auf Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt vor und damit das Recht, dass der Staat eine Gerichtsbarkeit bereitstellen muss. Ebenso verlangen die „Justizgrundrechte" Art. 101 I S. 2 GG und Art. 103 I GG entsprechende staatliche Vorkehrungen. Nicht zuletzt erlegt Art. 1 I S. 2 GG dem Staat die Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde auf.

Leistungsrechte im Zusammenhang mit anderen Grundrechten sind daher fraglich. Ansatzpunkt für ihre Begründung ist die Überlegung, dass grundrechtliche Freiheiten nicht nur durch staatliche Eingriffsmaßnahmen gefährdet sind. Die tatsächliche Ausübung grundrechtlicher Freiheiten setzt demgegenüber in der heutigen Gesellschaft häufig voraus, dass der Staat überhaupt erst die Bedingungen hierfür schafft und zur Verfügung stellt.

Dementsprechend hat das BVerfG7 in der „numerus-clausus-Entscheidung" für den Zugang zum Hochschulstudium entschieden, dass aus dem Grundrecht der Berufsfreiheit gem. Art. 12 I GG i.V.m. dem Gleichheitsgrundsatz gem. Art. 3 I GG und dem Sozialstaatsprinzip ein Recht auf Zulassung zum Hochschulstudium folgt. Es besteht ein Anspruch auf Zulassung bis zur Ausschöpfung der vorhandenen Kapazitäten.

Darüber hinaus wird in dieser Entscheidung erwogen, ob nicht nur ein Anspruch auf Zulassung bis zur Grenze der vorhandenen Kapazitäten, sondern darüber hinaus ein Anspruch auf Schaffung zusätzlicher Kapazitäten bestehen kann.8

Allerdings ist fraglich, ob dieser Ansatz auf andere Grundrechte übertragen werden kann. Zu beachten ist, dass es bei der genannten Entscheidung des BVerfG zunächst darum ging, ob der Einzelne einen Anspruch auf vorhandene staatliche Einrichtungen hat.

Zum anderen ist der Zugang zum Hochschulstudium durch die besondere Situation geprägt, dass das Hochschulwesen in Deutschland durch die staatlichen Einrichtungen dominiert ist. Unter diesen Umständen ist der Einzelne bei der Ausübung seines Grundrechts aus Art. 12 I GG darauf angewiesen, die staatliche Leistung „Hochschulausbildung" in Anspruch nehmen zu können.

Im Fall des M geht es jedoch darum, nicht nur vorhandene Einrichtungen und Leistungen zu „verteilen", sondern Leistungen überhaupt erst bereitzustellen.

hemmer-Methode: Unterscheiden Sie zwischen der Teilhabe an vorhandenen Einrichtungen und Leistungen („derivative Teilhaberechte"), und der Frage nach einem Anspruch auf deren erstmalige Bereitstellung („originäre Teilhaberechte"). Vgl. zu diesen Begrifflichkeiten Hemmer/Wüst, Grund­wissen Staatsrecht, Rn. 81 f.

Bei ersteren besteht grds. ein Anspruch, hierbei ist insbesondere auch Art. 3 I GG zu beachten. Einen Anspruch auf erstmalige Bereitstellung staatlicher Leistungen besteht jedoch grds. nicht.

Ein solcher Anspruch kann aber grundsätzlich nicht aus den Grundrechten abgeleitet werden. Etwas anderes gilt auch nicht bei dem hier betroffenen Grundrecht auf Kunstfreiheit.

Zwar ist es tatsächlich so, dass weite Bereiche der Kunst ohne Förderung aus dem staatlichen Bereich nicht existieren können. Allerdings lässt sich hieraus und aus der Tatsache, dass sowohl private als auch öffentliche Einrichtungen gefördert werden, jedenfalls nicht die Pflicht des Staates herleiten, jede Art von Kunst zu fördern.

Der Staat hat lediglich die Pflicht, ein „freiheitliches Kunstleben zu erhalten und zu fördern" (BVerfGE 81, 108, 116).

Auch bei einer Verletzung dieser Pflicht wäre jedoch fraglich, ob sich dann jemals ein konkreter Anspruch des Einzelnen auf eine bestimmte Förderung ergeben könnte.

Darüber hinaus besteht auch nicht die Pflicht, eine bisherige Förderung Privater weiterzuführen. Daher kann es keinen Anspruch auf Kunstförderung aus Art. 5 III GG geben.

Die Ablehnung der Förderung des M stellt daher keinen Eingriff in sein Grundrecht aus Art. 5 III GG dar.

hemmer-Methode: Der Schutzbereich des Art. 12 I GG ist nicht eröffnet, da laut Sachverhalt die Ausstellung nicht der Erhaltung der Lebensgrundlage des M dient und daher nicht sein Beruf ist.

3. Ergebnis

M ist nicht in Grundrechten verletzt.

Sound: Die Grundrechte haben die Funktion der Abwehrrechte gegen den Staat. Originäre Leistungs- und Teilhaberechte beinhalten sie nur in Ausnahmefällen.

hemmer-Methode: Der Bereich der Grundrechte als Leistungs- und Teilhaberechte ist ebenso groß wie unübersichtlich. Dazu tragen auch unterschiedliche und unklare Begrifflichkeiten bei. Die Leistungs- und Teilhaberechte werden z.T. auch mit dem Begriff „status positivus" umschrieben.9 Insgesamt können bei den Leistungs- und Teilhaberechten unterschieden werden:

  • derivative Leistungs- und Teilhaberechte
  • originäre Leistungs- und Teilhaberechte
  • Schutzgewährrechte
  • Grundrechte als Verfahrens- und Organisationsrechte

Insbesondere die Schutzpflichten sind von erhöhter Relevanz. So ist der Staat gem. Art. 2 II S. 1 GG nicht nur verpflichtet, bei Eingriffsmaßnahmen das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen, sondern er ist auch verpflichtet, durch die Rechtsordnung und die staatlichen Organe (Polizei, Justiz) dieses Grundrecht gegenüber Dritten zu schützen. Würde der Strafrahmen für Mord und Totschlag auf höchstens sechs Monate gesenkt, so wäre dies ein Verstoß gegen die aus Art. 2 II S. 1 GG folgende Schutzgewährpflicht! Aus Art. 2 II S. 1 GG folgt auch die Pflicht zum Schutz des ungeborenen Lebens, welcher der Staat mit den §§ 218 ff. StGB nachgekommen ist.

Ebenso gehört dazu, dass bei gefährlichen Industrieanlagen eine behördliche Kontrolle durch ein Genehmigungsverfahren stattfindet (z.B. BImSchG, AtomG, usw.). Die Schutzgewährrechte sind nicht auf die Grundrechte aus Art. 2 II S. 1 GG beschränkt, werden aber hieran besonders deutlich! Allerdings korrespondiert mit einer etwaigen Schutzpflicht des Staates in der Regel kein Anspruch auf eine bestimmte gesetzgeberische Tätigkeit10

C) Zur Vertiefung

  • Zur Kunst- und Wissenschaftsfreiheit

Hemmer/Wüst, Grundwissen Staatsrecht, Rn. 198 ff.

  • Zu den Grundrechtsfunktionen

Hemmer/Wüst, Grundwissen Staatsrecht, Rn. 74 ff.


  1. Hemmer/Wüst, Grundwissen Staatsrecht, Rn. 200.

  2. BVerfGE 30, 173, 189

  3. BVerfGE 67, 213, 226 f.

  4. Pieroth/Schlink, Rn. 614 f.

  5. Pieroth/Schlink, Rn. 240.

  6. Hemmer/Wüst, Grundwissen Staatsrecht, Rn. 77 f.

  7. BVerfGE 33, 303 ff.

  8. BVerfGE 33, 303, 333

  9. Vgl. Pieroth/Schlink, Rn. 60.

  10. BVerfG, Beschluss vom 23.01.2013 -- 2 BvR 1645/10 = Life&Law 7/2013