Jeder hat das Recht auf Information -- auch auf turkmenisch!

BVerfG, Beschluss vom 31.03.2013, 1 BvR 1314/11

von Life and Law am 01.01.2014

+++ Urteilsverfassungsbeschwerde +++ Art. 5 I S. 1 HS 2 GG +++ Anbringen einer Parabolantenne an einem Mietshaus +++

Sachverhalt (vereinfacht und verkürzt): A ist ein in Deutschland lebender türkischer Staats-angehöriger. Er fühlt sich einer in der Türkei lebenden turkmenischen Minderheit zugehörig, die eigenen Traditionen und der turkmenischen Sprache verbunden geblieben ist.

Um ein nur über Satellit empfangbares TV-Programm, welches ganztätig in türkischer und turkmenischer Sprache ausgestrahlt wird und Berichte über die Situation in der turkmenischen Region sendet, zu empfangen, brachte A ohne die erforderliche Zustimmung seiner Vermieterin an der Gebäudefassade des Mietshauses eine Parabolantenne an. Nachdem A diese Antenne trotz Aufforderung durch die Vermieterin nicht beseitigte, erfolgte im Zuge von Renovierungsarbeiten an dem Haus die Entfernung der Parabolantenne. Auf Klage der Vermieterin wurde A vom Amtsgericht verurteilt, ein erneutes Anbringen der privaten Antenne an der Hausfassade zu unterlassen.

Das Amtgericht führt insoweit aus, es hänge von einer Abwägung zwischen dem Eigentumsrecht der Vermieterin und dem Recht der Mieter, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu informieren zu können, und anderen schützenswerten Interessen ab, ob der Mieter nach den Grundsätzen von Treu und Glauben zur Anbringung einer Parabolantenne berechtigt sei. Auf Seiten der Vermieterin müsse dabei sowohl die optische Beeinträchtigung durch die Antenne als auch die Substanzverletzung ihres Eigentums berücksichtigt werden. Dem entgegen steht das Informationsbedürfnis der Mieter, welchem aber bereits Rechnung getragen werde, wenn der Vermieter dem ausländischen Mieter ausreichend Zugang zu Programmen aus seinem Heimatland bereitstelle. Insoweit sei es den Mietern zuzumuten, mittels einer Set-Top-Box über die zentrale Satellitenanlage auf bis zu zehn türkischsprachige Sender zurückzugreifen, auch wenn dadurch monatliche Kosten entstehen. Auch die turkmenische Abstammung von A ändere hieran nichts, da der turkmenische Dialekt keine eigenständige Sprache sei, weshalb türkischsprachige Sender zur Informationsbeschaffung ausreichend seien. Darüber hinaus hätte A nie in Gebieten gewohnt, in denen der turkmenische Dialekt beheimatet ist, was das Interesse an turkmenischen Sendern relativiere.

A trägt im Berufungsverfahren vor, dass seine Familie zwar vor 100 Jahren aus dem Irak in die Türkei gezogen sei. Dies ändere aber nichts an der ethnischen Zugehörigkeit zum turkmenischen Volk. In seinem Heimatland gehöre er einer sprachlichen und kulturellen Minderheit an, sodass er nicht auf die Mehrheits- oder Amtssprache des Herkunftsstaates verwiesen werden könne. Nur durch die Anbringung einer Parabolantenne könne ein Sender empfangen werden, welcher sein politisches, kulturelles und historisches Informationsbedürfnis im Zusammenhang mit der turkmenischen Herkunft deckt. Gerade vor dem Hintergrund, dass es sich bei turkmenisch um eine eigenständige Sprache handele, seien die über die zentrale Satellitenanlage empfangbaren Sender in türkischer Sprache dazu nicht geeignet.

Trotz dieser Argumente wurde die Berufung vom Landgericht zurückgewiesen. Die vom Amtsgericht durchgeführte Abwägung sei selbst dann nicht zu beanstanden, wenn man davon ausgehe, dass es sich bei turkmenisch um eine eigenständige Sprache handele.

Nach Erschöpfung des Rechtsweges erhob A eine zulässige Verfassungsbeschwerde beim BVerfG.

Ist diese begründet? Bei der Bearbeitung ist davon auszugehen, dass turkmenisch eine eigene Sprache ist.

A) Sounds

1. Das Grundrecht der Informationsfreiheit gewährleistet das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert unterrich-ten zu können. Hörfunk- und Fernsehsendun-gen gehören zu diesen Informationsquellen. Einen Unterschied zwischen in- und aus-ländischen Informationsquellen macht das Grundgesetz nicht. Allgemein zugänglich sind daher auch alle ausländischen Rundfunk-programme, deren Empfang in der Bundes-republik Deutschland möglich ist.

2. Die Installation einer Parabolantenne ist vom Schutzbereich des Grundrechts auf Informationsfreiheit aus Art. 5 I S. 1 HS 2 GG umfasst. Dieses Grundrecht muss auch bei zivilrechtlichen Streitigkeiten beachtet werden.

3. Soweit der Empfang von Rundfunkprog-rammen von technischen Anlagen abhängt, erstreckt sich der Schutz der Informations-freiheit auch auf die Anschaffung und Nutzung solcher Anlagen.

4. Die Informationsfreiheit findet ihre Schranken unter anderem in den allgemeinen Gesetzen, zu denen auch miet- und eigentumsrecht-liche Bestimmungen des BGB gehören, die die Rechte und Pflichten von Mietern und Vermietern festlegen. Die Verfassung verlangt aber, dass bei deren Auslegung die betroffe-nen Grundrechte berücksichtigt werden.

B) Problemaufriss

Die Informationsbeschaffung aus der Heimat ist für ausländische Mitbürger von zentraler Bedeu-tung, gerade wenn sie sich mit ihrer Kultur und Herkunft noch eng verbunden sehen. Denn auch wenn sich ihr Lebensmittelpunkt mittlerweile nach Deutschland verlagert hat, ist es nur allzu verständlich, dass sie sich über politische, kul-turelle und historische Aspekte auf dem Laufen-den halten möchten.

Dies gestaltet sich jedoch oft schwierig, zumal das Recht auf Informationsbeschaffung Maß-nahmen notwendig machen kann, die in die Rechtssphäre anderer hineinragen. Konflikte, die nicht selten zu zivilrechtlichen Streitigkeiten führen, sind also vorprogrammiert.

Eine derartige Konstellation dient auch als Aufhänger für den vorliegenden Fall: Verleiht Art. 5 I S. 1 HS 2 GG das Recht, eine Parabo-lantenne anzubringen, um Rundfunkprogramme aus der Heimat zu empfangen, obwohl dadurch in Grundrechte anderer, namentlich die Eigen-tumsfreiheit aus Art. 14 I GG eingegriffen wird? Die Lösung dieser Frage ist schwierig und hängt stets entscheidend von den Umständen des Einzelfalles ab. Wie so oft müssen daher wider-streitende Grundrechtspositionen gegeneinander abgewogen werden, wobei beiden zu größt-möglicher Wirksamkeit verholfen werden soll. In solchen Fällen liegt es an den erkennenden Gerichten, die Vorgaben der Verfassung sorgfäl-tig in den Prozess der Entscheidungsfindung mit einzubeziehen, um sicherzustellen, dass Grund-rechte nicht verkannt werden.

C) Lösung

Die laut Sachverhalt zulässige Verfassungsbe-schwerde ist begründet, soweit A als Beschwerde-führer tatsächlich in einem seiner Grundrechte bzw. grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist.

Schema: Zulässigkeit einer Verfas­sungs­beschwerde, Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG

I. Jedermann (Beschwerdeberechtigter)

  1. Beschwerdeberechtigung / Beschwerdefähigkeit / Grundrechtsfähigkeit
  2. Verfahrensfähigkeit / Prozessfähigkeit / Grundrechtsmündigkeit
  3. Postulationsfähigkeit II. Beschwerdegegenstand Akt der öffentlichen Gewalt III. Beschwerdebefugnis
  4. Behauptung der Verletzung eines Grundrechts oder grundrechtsähnlichen Rechts
  5. Rechtsrelevanz des angegriffenen Aktes Betroffenheit des Beschwerdeführers (selbst, gegenwärtig, unmittelbar) IV. Rechtswegerschöpfung (§ 90 BVerfGG) & Subsidiarität V. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis

hemmer-Methode: Nutzen Sie vorstehendes Schema zur schnellen Wiederholung der Zulässigkeitsvoraussetzungen.1

I. Prüfungsmaßstab bei Urteilsverfassungsbeschwerde

Der Prüfungsumfang des BVerfG beschränkt sich bei einer Urteilsverfassungsbeschwerde darauf, ob das angefochtene Urteil grundrechtswidrig ist. Dies ist der Fall, wenn das dem Urteil zugrunde liegende Gesetz nicht verfassungskonform ist (unten II.) oder wenn der Richter das Gesetz im Einzelfall grundrechtswidrig angewandt hat (unten III.).

Dagegen ist es nicht Aufgabe des BVerfG, Gerichtsentscheidungen auf ihre einfachrecht-liche Richtigkeit hin zu überprüfen, da es keine Superrevisionsinstanz ist. Insoweit ist die ein-fachgesetzliche Rechtswidrigkeit eines Urteils im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde irrelevant. 2

Anmerkung: Ist das Urteil aus sonstigen Gründen rechtswidrig, also insbesondere weil den Richtern ein „einfacher", d.h. nicht grundrechtswidriger Sub-sumtionsfehler unterlaufen ist, muss das BVerfG dieses rechtswidrige Urteil also bestehen lassen.3

II. Verfassungsgemäßheit der angewendeten Vorschriften

Im vorliegenden Fall hat das Amtsgericht seine Entscheidung auf §§ 541, 1004, 242 BGB gestützt. An der Verfassungsgemäßheit dieser Normen besteht kein Zweifel. Insbesondere sind sie als allgemeine Gesetze i.S.d. Art. 5 II GG dazu geeignet, die Informationsfreiheit des Beschwerde-führers A zu beschränken.

Anmerkung: Auch wenn das BVerfG in seiner Entscheidung auf diese Frage gar nicht eingeht, sollten Sie den Punkt in der Examensklausur dennoch in der gebotenen Kürze ansprechen. Sie zeigen damit dem Korrektor, dass Sie mit der Grundstruktur der Verfassungsbeschwerde vertraut sind und heben sich gleichzeitig von anderen Kandidaten ab, was sich positiv in der Bewertung Ihrer Klausur niederschlagen wird.

III. Verfassungsgemäße Einzelfallanwendung

Zu prüfen ist sodann die verfassungsgemäße Einzelfallanwendung.

Dabei muss hier beachtet werden, dass es sich bei der angefochtenen Entscheidung um ein Zivilurteil handelt. Da die Grundrechte jedoch primär als Abwehrrechte gegen staatliches Handeln konzipiert sind, sind sie im Zivilrecht nicht unmittelbar anwendbar. In der Konsequenz bedeutet dies, dass eine Verletzung der Grund-rechte ausscheidet, wenn diese überhaupt nicht zum Prüfungsumfang des Fachgerichtes zählen.

1. Mittelbare Drittwirkung der Grundrechte

Die Grundrechte entfalten jedoch mittelbare Drittwirkung. Begründet werden kann dies mit der Schutzpflicht des Staates gegenüber den Grundrechtsträgern, die Grundrechte sind mithin als Ausprägung der objektiven Werteordnung zu sehen.

Somit sind bei der Auslegung zivilrechtlicher Normen die Grundrechte zu beachten. Insbeson-dere Generalklauseln und unbestimmte Rechts-begriffe stellen das Einfallstor der Grundrechte in das Zivilrecht dar, wo sie Einfluss auf die Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts nehmen.

Im vorliegenden Fall könnte das Amtsgericht bei der Anwendung der §§ 541, 1004, 242 BGB die Reichweite der Informationsfreiheit nicht genügend gewürdigt haben.

2. Schutzbereich der Informationsfreiheit

Zunächst müsste der Schutzbereich der Infor-mationsfreiheit eröffnet sein.

Nach Art. 5 I S. 1 HS 2 GG hat jeder das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu informieren. Zu allgemein zugänglichen Quellen sind insbesondere auch Hörfunk- und Fernseh-programme zu zählen. Da sich aus dem Wortlaut des Art. 5 I S. 1 HS 2 GG keine Differenzierung zwischen in- und ausländischen Informations-quellen entnehmen lässt, erstreckt sich die Infor-mationsfreiheit auch auf alle ausländischen Rund-funkprogramme, deren Empfang in Deutschland möglich ist.4 Legt man dies zu Grunde, erscheint es zwingend, dass auch das Anschaffen und Betreiben von technischen Anlagen wie etwa Parabolantennen, die zum Empfang des ent-sprechenden Programms erforderlich sind, in den Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 HS 2 GG fallen.5 Das Grundrecht der Informationsfreiheit liefe nämlich leer, wenn zwar die abstrakte Möglichkeit des Empfangs geschützt ist, nicht aber die konkrete technische Ausgestaltung.

Folglich ist die Installation einer Parabolantenne zum Zweck des Empfangs eines Rundfunk-programms, das in turkmenischer Sprache kultu-relle, politische und historische Informationen über die Turkmenen in der Türkei ausstrahlt, vom Schutzbereich der Informationsfreiheit umfasst.

Anmerkung: Bei Art. 5 I S. 1 HS 2 GG handelt es sich um ein sog. „Jedermann-Grundrecht". Somit kann sich der Beschwerdeführer A als türkischer Staatsangehöriger ohne weiteres auf die Informationsfreiheit berufen. Die deutsche Staatsbürgerschaft ist dabei, anders als beispiels-weise bei Art. 8 I GG, nicht Voraussetzung.

3. Eingriff in die Informationsfreiheit?

Da A durch die angegriffenen Urteile untersagt wird, sich mithilfe der Parabolantennen in turkme-nischer Sprache zu informieren, liegt, ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 HS 2 GG vor.

4. Rechtfertigung des Eingriffs

Der Eingriff in die Informationsfreiheit aus Art. 5 I S. 1 HS. 2 GG wäre aber gerechtfertigt, wenn diese Grundrechtsposition bei der Rechtsanwen-dung durch die Fachgerichte erkannt und aus-reichend gewürdigt wurde.

a) Zivilrechtliche Relevanz der Informationsfreiheit im konkreten Fall

Das Grundrecht der Informationsfreiheit muss grundsätzlich auch in einer zivilrechtlichen Streitigkeit um die Anbringung einer Parabolan-tenne beachtet werden. Der wertsetzende Gehalt der Grundrechte muss insbesondere auch auf der Rechtsanwendungsebene zum Tragen kommen.6

Allerdings muss stets beachtet werden, dass das Grundrecht der Informationsfreiheit nicht uneingeschränkt gewährleistet wird. Vielmehr findet es nach Art. 5 II GG seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen, zu denen miet- und eigentumsrechtliche Regelungen aus dem BGB gehören.

b) Eigentumsfreiheit vs. Informationsfreiheit

Das Amtsgericht hat im vorliegenden Fall seine Entscheidung auf §§ 541, 1004 und 242 BGB gestützt und A dazu verurteilt, es zu unter-lassen, erneut eine Parabolantenne an der Hausfassade anzubringen.

Im Rahmen der Anwendung und Auslegung dieser Normen muss einerseits dem Grundrecht der Informationsfreiheit Rechnung getragen wer-den, andererseits muss das Grundrecht der Vermieterin aus Art. 14 I S. 1 GG berücksichtigt werden. Der Vermieterin als Eigentümerin des Hauses wird insbesondere daran gelegen sein, dass ihr Wohnhaus nicht durch die Parabolan-tenne optisch verunstaltet wird. Es muss daher eine fallbezogene Abwägung durch die Gerichte durchgeführt werden, in der sämtliche Interessen der Beteiligten Berücksichtigung finden. Sind die gegensätzlichen Positionen durch Grundrechte geschützt, von denen keines dem anderen gene-rell vorgeht, hängt die Entscheidung davon ab, welche Beeinträchtigung im Rahmen des vom Gesetzgeber abstrakt vorgenommenen Inte-ressenausgleichs im konkreten Fall schwerer wiegt.7

c) Abwägungskriterien

In der Regel wird ein Überwiegen der Interessen des Vermieters aus Art. 14 I S. 1 GG angenom-men, wenn dieser dem Mieter bereits einen Kabelanschluss zur Verfügung stellt. In einer derartigen Konstellation muss der Vermieter keine Parabolantenne an seinem Haus dulden.8

Dennoch gilt auch hier: Keine Regel ohne Ausnahme! Eine derart pauschalisierende Lösung würde den besondern Umständen des vorlie-genden Falles nicht gerecht werden.

Gerade dauerhaft in Deutschland wohnende ausländische Staatsangehörige wie A haben ein gesteigertes Interesse daran, sich über das Geschehen in ihrem Heimatland zu informieren und die kulturelle und sprachliche Verbindung zu ihrer Herkunftsregion aufrecht zu erhalten. Inso-weit ist ein Verweis auf die über die zentrale Satellitenanlage oder den Kabelanschluss emp-fangbaren Sender nicht ausreichend, sofern die relevanten Programme nur mittels einer Parabo-lantenne empfangen werden können.

Aus diesem Grund ist das Interesse der Mieter am Empfang von heimischen Rundfunkprogram-men bei der Abwägung mit den Eigentümerinte-ressen zu berücksichtigen.9

Es muss jedoch auch beachtet werden, ob und in welchem Umfang der Mieter Programme aus seinem Heimatland ohne eigene Parabo-lantenne empfangen kann.10 Insoweit ist es ihm auch zuzumuten, gegen ein Entgelt auf zusätz-liche Sender, welche über die zentrale Satelliten-anlage oder den zentralen Kabelabschluss an-geboten werden, zurückzugreifen. Die entstehen-den Zusatzkosten dürfen dabei jedoch nicht so hoch sein, dass sie die nutzungswilligen Mieter von der Informationsbeschaffung abhalten. Steht auf diese Weise eine angemessene Zahl von ausländischen Sendern zur Verfügung, ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Interessenabwägung zu Lasten des Mieters ausfällt und er keine eigene Antenne anbringen und nutzen darf.11

d) Fehlgewichtung durch die Gerichte

Die entscheidenden Gerichte haben im vorlie-genden Fall zwar erkannt, dass die Informations-freiheit von A bei der Abwägung zu berücksich-tigen ist. Allerdings haben sie das spezifische Informationsinteresse des Beschwerdeführers, das darin besteht, Zugang zu Rundfunkprogram-men in seiner Sprache zu haben, nicht ausreichend gewürdigt und somit die Reichweite des Grund-rechts verkannt.

Allein die Möglichkeit, türkischsprachige Prog-ramme gegen ein Entgelt über die zentrale Satel-litenanlage zu empfangen, trägt dem Informa-tionsbedürfnis der Mieter nicht in ausreichendem Maß Rechnung. Denn entscheidend ist, wie schwer das Grundrecht der Informationsfreiheit im konkreten Einzelfall wiegt.12

Turkmenisch ist eine eigene Sprache

Eine ausreichende Berücksichtigung des Infor-mationsinteresses ist schon deshalb nicht gege-ben, weil das Gericht nicht hinreichend gewür-digt hat, dass es sich bei Turkmenisch um eine eigene Sprache und nicht lediglich um einen türkischen Dialekt handelt. Das Landgericht hat zwar im Rahmen der Berufung festgestellt, dass es sich bei Turkmenisch um eine eigene Sprache handele, im Übrigen aber einfach die Abwägung des Amtsgerichts ohne weitere Begründung übernommen. Daher wurde der Umstand, dass es sich bei dem Beschwerdeführer um einen Angehörigen einer turkmenischen Minderheit in der Türkei handelt, weder beachtet noch gewürdigt. Insoweit haben beide Gerichte gegen das Gebot der einzelfallbezogenen Abwägung verstoßen.

Somit ist es durchaus möglich, dass die Gerichte zu einem anderen, für A günstigeren Ergebnis gelangt wären, wenn sie das Grund-recht der Informationsfreiheit aus Art. 5 I S. 1 HS 2 GG richtig und konkret gewichtet hätten.

Dies gilt insbesondere dann, wenn der Lebens-alltag von A tatsächlich in dem Maße von der turkmenischen Sprache und der turkmenischen Kultur geprägt ist, wie es von ihm behauptet wird, obwohl er nie in dem turkmenischen Herkunftsgebiet seiner Vorfahren gewohnt hat.

Anmerkung: Es liegt am Beschwerdeführer, vor dem zuständigen Instanzgericht glaubhaft zu machen, dass die turkmenische Sprache und Kultur eine derart erhebliche Rolle in seiner Lebensgestaltung spielt. Nur wenn dies gelingt, kann dieser Punkt im Rahmen der Abwägung entsprechend berücksichtigt und gewichtet werden.

5. Zwischenergebnis

Im Ergebnis verletzen das Urteil des Amtsge-richts und der Beschluss des Landgerichts den Beschwerdeführer in seiner Informationsfreiheit aus Art. 5 I S. 1 HS 2 GG, da die Bedeutung der Informationsfreiheit bei der Rechtsanwendung nicht ausreichend gewürdigt wurde.

IV. Ergebnis

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

Anmerkung: Der Verfassungsbeschwerde ist somit stattzugeben und die Grundrechtsverletzung gemäß § 95 I S. 1 BVerfGG festzustellen. Die angegriffene Entscheidung wird gemäß § 95 II BVerfGG an das Amtsgericht zurückverwiesen. Dies bedeutet jedoch nicht automatisch, dass A das Zivilverfahren auch gewinnen wird. Das Amtsgericht muss nun eine Abwägung zwischen der Eigentumsfreiheit der Vermieterin und der Informationsfreiheit des Mieters vornehmen, wobei die konkreten Einzelfallumstände zu berücksich-tigen sind und das Ergebnis verfassungsrecht-lich nicht vorgegeben ist. Das BVerfG darf näm-lich diese Abwägung nicht selbst vornehmen, sondern lediglich Verfassungsverstöße feststellen.

D) Kommentar

(mg). Die Abwägung von Grundrechtspositionen ist ein Klassiker aus dem Bereich des Öffentlichen Rechts, jedoch keineswegs auf diesen beschränkt. Dies zeigt sich schon daran, dass dem vorlie-genden Fall ein zivilrechtliches Urteil zugrunde liegt. Auch dort sind die Grundrechte über die mittelbare Drittwirkung bei der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts zu beachten.

Insoweit ist die vom Amtsgericht vorgenommene eigentliche Abwägung fehlerhaft. Zwar hat es erkannt, dass die Informationsfreiheit der Besch-werdeführer aus Art. 5 I S. 1 HS 2 GG zu beachten ist, allerdings hat es die Reichweite dieses Grundrechts nicht genügend gewürdigt. So wurde schlichtweg ignoriert, dass sich der Beschwerdeführer einer turkmenischen Minder-heit zugehörig fühlt. Um die sprachliche und kulturelle Verbindung mit seiner Heimat aufrecht zu erhalten, sind „normale" türkischsprachige Sender wenig dienlich.

Insofern handelt es sich um eine überzeugende Entscheidung des BVerfG, denn es hat diesen Umstand erkannt und zutreffend bewertet.

E) Background

Die Thematik des Anbringens einer Parabolan-tenne und die damit in Zusammenhang stehenden Grundrechtspositionen aus Art. 14 I GG und Art. 5 I S. 1 GG beschäftigt das BVerfG nicht zum ersten Mal. So hat es beispielsweise schon in seiner Entscheidung vom 24.01.2005, 1 BvR 1953/00, ausgeführt, dass das Anbringen einer Parabolantenne zum Zwecke des Empfangs ausländischer Rundfunkprogramme von der Informationsfreiheit aus Art. 5 I S. 1 GG umfasst ist. Allerdings müsse der Vermieter dies nicht dulden, wenn er dem Mieter einen Kabelan-schluss zur Verfügung stellt. Nahezu die gleiche Argumentation findet sich in der Entscheidung vom 17.03.2005, 1 BvR 42/03. Demgemäß konnte das BVerfG in beiden Fällen keine Grund-rechtsverletzung feststellen. Dass dies im vorlie-genden Fall anders ist, stellt dennoch keinen Widerspruch dar. Vielmehr hat das BVerfG im Gegensatz zum Amtsgericht einen genaueren Blick auf die konkrete Situation geworfen: In den vorangegangenen Fällen war über den Kabelan-schluss eine ausreichende Zahl von ausländischen Sendern empfangbar. Diese reichten zur Informa-tionsbeschaffung für die Mieter aus, da sie keiner Minderheit angehörten. Insofern bestand kein gesteigertes Interesse an einem ganz bestimmten Sender, der nur über eine Parabolantenne zu empfangen ist, was in der Konsequenz dazu führte, dass die Eigentumsfreiheit der jeweiligen Vermieter überwog.

F) Zur Vertiefung

  • Zur Urteilsverfassungsbeschwerde Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 74 ff.
  • Zur Informationsfreiheit Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 204 f.

G) Wiederholungsfrage

  1. Was prüft das BVerfG im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde?

  1. Ausführlich Hemmer/Wüst, Staatsrecht, Rn. 4 ff.

  2. BVerfG, NJW 2001, 1125; NJW 2001, 1200

  3. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 1286; BVerfG, NJW 1998, 2810; BayVerfGH, BayVBl. 1999, 369; BayVBl. 2000, 369 Der einzige „Rettungsanker" kann in einem solchen Fall die Überprüfung der Entscheidung auf Willkür und damit einen Verstoß gegen Art. 3 I GG sein. Dazu bedarf es aber einer evidenten Rechtswidrigkeit, vgl. BVerfG, NJW 2000, 2449; BVerfG, NJW 2001, 1125; NJW 2001, 1200

  4. Vgl. BVerfGE 90, 27, 32

  5. Vgl. BverfGE 90, 27, 32

  6. Vgl. BverfGE 90, 27, 33

  7. Vgl. BverfGE 90, 27, 33

  8. Vgl. BverfGE 90, 27, 35 f.

  9. Vgl. BverfGE 90, 27, 36

  10. Vgl. BverfGE 90, 27, 38

  11. Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. Januar 2005 - 1 BvR 1953/00 -, NJW-RR 2005, 661, 662; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. März 2005 - 1 BvR 42/03 -

  12. Vgl. BverfGE 90, 27, 33 f.