Das Ende einer Dienstfahrt, der verhaltensbedingten Kündigung

Grundfall (nicht nur) für Anfangssemester, Zivilrecht

von Life and Law am 01.08.2014

+++ Voraussetzungen der verhaltensbedingten ordentlichen Kündigung +++ Anwendbarkeit des KSchG +++ Berechnung der AN-Anzahl +++

Sachverhalt: Leonhard Lustig (L) arbeitet seit acht Monaten im Betrieb des Albert Anständig (A). Außer ihm arbeiten dort noch weitere sieben Vollzeit- und fünf Halbtagskräfte; die wöchentliche Arbeitszeit für Vollzeitkräfte beträgt 38 Stunden, die der Halbtagskräfte 19 Stunden. L ist bei A als Berufskraftfahrer angestellt.

Obwohl er sonst ein zuverlässiger Arbeitnehmer ist, erscheint er am 12. Oktober völlig angetrunken zum Dienst, setzt sich in seinen Lastwagen und beginnt seine Tour, die allerdings bereits nach zwanzig Metern an einer Laterne endet. L bleibt unverletzt, Wagen und Ladung sind jedoch schwer beschädigt; A erleidet alles in allem einen Schaden in Höhe von 20.000,- €.

A ist schwer enttäuscht von L, den er bisher sehr schätzte. Er hat das Vertrauen in diesen Mitarbeiter aufgrund dieses Vorfalls restlos verloren. Zunächst hatte er vor, L wegen des Vorfalls fristlos zu kündigen, kam aber aufgrund starker Arbeitsbelastung nicht dazu. Erst am 27. Oktober findet er Zeit, sich der Sache mit L zu widmen. Da sich A ein wenig im Arbeitsrecht auskennt, weiß er, dass eine fristlose Kündigung nicht mehr in Frage kommt. Er kündigt L daher mit Schreiben vom selben Tag, zugegangen am 01. November, zum 30. November.

Hätte eine Klage des L gegen diese Kündigung Aussicht auf Erfolg?

A) Sound

Ordentliche Kündigungen bedürfen grundsätzlich keines Kündigungsgrundes. Dieser Grundsatz wird allerdings durchbrochen in denjenigen Betrieben, in denen das Kündigungsschutzgesetz gem. § 23 I S. 2 u. 3 KSchG anwendbar ist. Im Falle der Anwendbarkeit sind Kündigungen nur unter den Voraussetzungen von § 1 KSchG möglich; es muss somit entweder ein verhaltens-, personen- oder dringender betriebsbedingter Kündigungsgrund vorliegen. Ist ein solcher Grund nicht gegeben, ist die Kündigung sozialwidrig und damit unwirksam.

B) Gliederung

1. Zulässigkeit

a) Rechtswegzuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen, § 2 I Nr. 3b ArbGG

b) Ordnungsgemäße Klageerhebung, § 46 II ArbGG, §§ 495, 253 ZPO

c) Örtliche Zuständigkeit, § 46 II ArbGG, §§ 12 ff. ZPO

d) Feststellungsinteresse, § 46 II ArbGG, §§ 495, 256 I ZPO (+)

2. Begründetheit

a) Zugang, Schriftform, §§ 130, 623, 126 BGB

b) Frist des § 622 BGB eingehalten? (+)

c) Präklusion, §§ 4, 7 KSchG (-)

d) Soziale Rechtfertigung, § 1 I, II KSchG

aa) Anwendbarkeit des KSchG

(1) Persönlich: § 1 I KSchG (+)

(2) Sachlich: § 23 I S. 2, 4 KSchG

10,5 Arbeitnehmer, Anwendbarkeit (+)

bb) Soziale Rechtfertigung Verhaltensbedingte Kündigung, § 1 II KSchG

(1) an sich geeigneter Kündigungsgrund

(a) Pflichtverletzung (+)

(b) Vertretenmüssen (+)

(2) Interessenabwägung zu Lasten des L

(a) Negativprognose -- Abmahnungserfordernis? (-)

(b) Ultima-Ratio?

(c) Interessenabwägung im engeren Sinne

3. Kündigung wirksam, Klage erfolglos

C) Lösung

Eine Klage des L hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet wäre. Zu erheben wäre eine punktuelle Kündigungsschutzklage gegen die Kündigung vom 27. Oktober.

1. Zulässigkeit

Damit die Klage zulässig wäre, müssten die allgemeinen und besonderen Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen.

a) Rechtswegzuständigkeit

Da die Klage auf Feststellung des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses gerichtet ist, ist die Rechtswegzuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen gem. § 2 I Nr. 3b ArbGG gegeben.

b) Ordnungsgemäße Klageerhebung

Die Klage müsste ordnungsgemäß erhoben werden und damit den Formerfordernissen der § 46 II ArbGG, §§ 495, 253 ZPO entsprechen, insbesondere also schriftlich abgefasst sein und die gem. § 253 II ZPO erforderlichen Angaben enthalten.

c) Örtliche Zuständigkeit

Die örtliche Zuständigkeit gem. § 46 II ArbGG, §§ 12 ff. ZPO bzw. § 48 Ia ArbGG wäre zu beachten.

d) Feststellungsinteresse

L müsste ein besonderes Feststellungsinteresse an der Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung haben, § 46 II ArbGG, §§ 495, 256 I ZPO.

Dieses Interesse ergibt sich daraus, dass nur die rechtzeitige Erhebung einer punktuellen Kündigungsschutzklage gem. § 4 S. 1 KSchG die Wirkung des § 7 KSchG verhindern kann.

2. Begründetheit

Die Kündigungsschutzklage des L wäre begründet, wenn die Kündigung vom 27. Oktober unwirksam wäre.

a) Zugang, Schriftform

Die Kündigung ging L in der gem. §§ 623, 126 BGB erforderlichen Schriftform am 01. November zu, § 130 I S. 1 BGB.

b) Einhaltung der Kündigungsfrist

Weiterhin müsste die Kündigungsfrist des § 622 BGB eingehalten worden sein. L arbeitet seit acht Monaten bei A. Die Frist bestimmt sich damit nach § 622 I BGB.

Fristbeginn der vierwöchigen Kündigungsfrist zum Fünfzehnten eines Monats oder zum Monatsende ist der 02. November, 00:00 Uhr, § 187 I BGB (vgl. oben), Fristende der Ablauf des 29. November, § 188 II BGB.

Die Kündigung zum 30. November ist damit fristgerecht.

Anmerkung: Da die falsche Berechnung der Kündigungsfrist durch den Arbeitgeber die ordentliche Kündigung nach zutreffender Ansicht des 2. und 6. Senats des BAG nicht insgesamt unwirksam macht, sondern lediglich den Zeitpunkt ihrer Wirksamkeit betrifft, kann der AN die Nichteinhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist auch außerhalb der Klagefrist des § 4 KSchG rügen (BAG, Life & Law 07/2006, 456 ff.).

Die andere Ansicht des 5. Senats des BAG (Life & Law 02/2011 92 ff.), überzeugt nicht.

Ziehen Sie diesen Prüfungspunkt also vor die Prüfung der §§ 4, 7 KSchG.

c) Präklusion

Die Kündigung müsste weiterhin noch in ihrer Wirksamkeit überprüfbar sein.

Dies wäre dann nicht mehr der Fall, wenn die Frist des § 4 KSchG verstrichen wäre, § 7 KSchG.

Die Kündigung ging L am 01. November zu.

Die Drei-Wochen-Frist des § 4 KSchG begann damit gem. § 187 I BGB am 02. November, 0.00 Uhr.

Sie endet gem. § 188 II BGB mit Ablauf des 22. November. Bis zu diesem Termin müsste eine Klage gegen die Kündigung somit erhoben worden sein, damit eine eventuelle Unwirksamkeit noch festgestellt werden könnte.

d) Soziale Rechtfertigung

Für den Fall, dass das Kündigungsschutzgesetz einschlägig ist, bedarf die Kündigung des L einer sozialen Rechtfertigung, § 1 I, II KSchG.

aa) Anwendbarkeit des KSchG

Die Kündigung des L ist am Maßstab des KSchG zu messen, wenn es sachlich auf den Betrieb des A anwendbar ist und L in den persönlichen Anwendungsbereich des Gesetzes fällt.

(1) Persönliche Anwendbarkeit

In persönlicher Hinsicht kommt das KSchG nur zur Anwendung, wenn der Arbeitnehmer länger als sechs Monate ohne Unterbrechung bei seinem Arbeitgeber beschäftigt ist, § 1 I KSchG. Dies ist laut Sachverhalt der Fall.

(2) Sachliche Anwendbarkeit

Sachlich findet das KSchG gem. § 23 I S. 2 und 3 KSchG Anwendung auf Arbeitnehmer, die in Betrieben mit mehr als zehn Arbeitnehmern arbeiten.

Laut Sachverhalt arbeiten einschließlich L acht Vollzeitkräfte und fünf Teilzeitkräfte mit neunzehn Stunden bei A. Gem. § 23 I S. 4 KSchG werden Teilzeitbeschäftigte mit nicht mehr als 20 Wochenarbeitsstunden als 0,5 Arbeitnehmer berücksichtigt. Damit arbeiten im Betrieb des A (8 + 2,5 = 10,5) mehr als zehn Arbeitnehmer, sodass das KSchG einschlägig ist.

Anmerkung: Beachten Sie: Wenn der Betrieb mehr als zehn AN hat, ist vollkommen irrelevant, ob diese vor oder nach dem 31.12.2003 eingestellt wurden! Der Kündigungsschutz gilt dann für alle AN.

Das KSchG ist damit insgesamt anwendbar.

bb) Wirksamkeit der verhaltensbedingten Kündigung

Die Kündigung des L müsste damit eine soziale Rechtfertigung finden. Vorliegend wurde L aufgrund der Trunkenheitsfahrt am 12. Oktober gekündigt. Der Grund für die Kündigung liegt damit in einem Verhalten des Arbeitnehmers, § 1 II S. 1 Var. 2 KSchG.

Eine verhaltensbedingte Kündigung ist sozial gerechtfertigt, wenn (1) ein Sachverhalt vorliegt, der an sich geeignet ist, einen Kündigungsgrund zu bilden und (2) eine umfassende Interessenabwägung zu Lasten des Arbeitnehmers ausfällt.

Anmerkung: Die Voraussetzungen der verhaltensbedingten ordentlichen Kündigung entsprechen damit grundsätzlich denen der außerordentlichen Kündigung gem. § 626 I BGB. Sie ist die „kleine Schwester" der außerordentlichen Kündigung, da die Gründe selbst nicht so schwer wiegen müssen, um die Kündigung zu rechtfertigen. Sie dürfen aber niemals i.R.d. § 626 I BGB von sozialer Rechtfertigung gem. § 1 II KSchG sprechen. Dies wäre ein schwerer Verständnisfehler, da § 1 II KSchG nur für die ordentliche Kündigung gilt, vgl. § 13 I S. 1 KSchG.

(1) Geeigneter Sachverhalt

Zunächst muss ein Sachverhalt vorliegen, der an sich geeignet ist, einen Kündigungsgrund zu bilden. Maßstab ist hierfür, ob ein ruhig und verständig urteilender Arbeitgeber bei Abwägung der wechselseitigen Interessen kündigen würde.

Anmerkung: Als Kündigungsgrund kommen grundsätzlich alle verschuldeten Pflichtverletzungen in Betracht, ggf. auch außerdienstliches Verhalten. Dieses allerdings nur, wenn es Einfluss auf das Arbeitsverhältnis hat, so z.B., wenn ein Kraftfahrer in seiner Freizeit betrunken mit dem Auto fährt.

(a) Pflichtverletzung

L erschien völlig angetrunken zur Arbeit und war also nicht arbeitsfähig. Insoweit hat er die Hauptpflicht aus dem Arbeitsverhältnis verletzt. Überdies hat er seinen Lkw schwer beschädigt und hat damit auch eine Nebenpflicht des Arbeitsverhältnisses verletzt, § 241 II BGB.

(b) Vertretenmüssen

Die Pflichtverletzungen hat L schließlich auch zu vertreten, da er sie zumindest fahrlässig beging, § 276 I, II BGB.

(2) Interessenabwägung

Eine umfassende Interessenabwägung müsste schließlich zu Gunsten des L ausfallen, damit die Kündigung unwirksam wäre.

(a) Negativprognose

Zunächst ist zu beachten, dass eine verhaltensbedingte Kündigung keinen Sanktionscharakter hat, sondern vielmehr künftige Vertragsverletzungen ausschließen will. Daher ist grundsätzlich eine Prognose zu stellen, ob vergleichbare Pflichtverletzungen in der Zukunft zu besorgen sind. Eine solche Prognose ist dann möglich, wenn ein pflichtwidriges Verhalten trotz Abmahnung wieder vorkommt. Eine vorherige Abmahnung ist nicht erfolgt. Somit könnte grundsätzlich keine Negativprognose zu Lasten des L getroffen werden. Allerdings ist anerkannt, dass das Erfordernis einer Negativprognose und einer vorhergehenden Abmahnung in Fällen besonders schwerer Pflichtverletzungen entfällt.

Eine solche schwerwiegende Pflichtverletzung liegt im vorliegenden Fall vor. L stieg in nicht fahrtüchtigem Zustand in den Lkw und fuhr los. Ihm musste klar sein, dass er hiermit eine Straftat beging und das Eigentum des Arbeitgebers gefährdete. Eine Negativprognose ist somit entbehrlich.

(b) Ultima-Ratio?

Weiterhin dürfte kein milderes Mittel als die Kündigung vorhanden sein. Versetzungsmöglichkeiten innerhalb des Betriebs sind nicht geschildert, überdies wären sie dem Arbeitgeber wohl auch nach der Schwere der Pflichtverletzung nicht zumutbar. Auch ist eine Abmahnung als milderes Mittel aus dem gleichen Grunde abzulehnen.

(c) Interessenabwägung im engeren Sinne

Gesichtspunkte, die zu Gunsten des L zu werten wären, sind vorliegend keine ersichtlich. Vielmehr ist die Pflichtverletzung des L so gravierend, dass sogar eine außerordentliche Kündigung in Betracht gekommen wäre. Die Weiterbeschäftigung ist A damit unzumutbar.

Anmerkung: Bei diesem letzten Punkt ist grundsätzlich noch einmal alles zu verwerten, was der Sachverhalt hergibt. So ist zum Beispiel nach sehr langer Betriebszugehörigkeit eine Kündigung eventuell unzulässig, während sie bei kurzer Betriebszugehörigkeit ggf. zulässig wäre. Auch zu berücksichtigen ist der Verschuldensgrad. Bei leichter Fahrlässigkeit wird diese Interessenabwägung eher zu Gunsten des Arbeitnehmers ausfallen als bei grober Fahrlässigkeit oder gar bei Vorsatz.

3. Ergebnis:

Die Kündigung des L ist daher wirksam. Eine Klage hätte demnach vor Gericht keinen Erfolg.

D) Zusammenfassung

  • Im Geltungsbereich des KSchG bedürfen Kündigungen einer sozialen Rechtfertigung, um wirksam zu sein. Gestützt werden können Kündigungen danach auf Gründe, die in der Person oder im Verhalten des Arbeitnehmers liegen oder durch dringende betriebliche Erfordernisse geboten sind.
  • Die verhaltensbedingte Kündigung ist die „kleine Schwester" der außerordentlichen Kündigung. Beide sind grundsätzlich gleichlaufend zu prüfen.
  • Geeignet, eine Kündigung zu begründen, sind Pflichtverletzungen, die einen ruhig und verständig abwägenden Arbeitgeber unter Berücksichtigung der wechselseitigen Interessen zu einer Kündigung veranlassen würden.

hemmer-Methode: Verhaltensbedingte Kündigung und außerordentliche Kündigung sind sich sehr ähnlich. Wenn einmal die eine begriffen wurde, wird auch die andere beherrscht -- und der Kopf bleibt für Wesentliches frei. Beachten Sie aber, dass Sie i.R.d. § 626 BGB nicht § 1 II KschG prüfen. Dies wäre ein schwerer Fehler, da § 1 II KschG nur die ordentliche Kündigung betrifft, vgl. auch § 13 I S.1 KSchG.

Machen Sie sich an dieser Stelle noch einmal den Aufbau klar: Die verhaltensbedingte Kündigung wird zweistufig geprüft. Zunächst muss eine Pflichtverletzung vorliegen, die an sich geeignet wäre, die Kündigung zu rechtfertigen. Schließlich ist im Einzelfall auf zweiter Stufe zu prüfen, ob eine Kündigung wirklich erforderlich ist. Hierbei ist eine Negativprognose für die Zukunft zu stellen, zu prüfen, ob kein milderes Mittel zur Vermeidung künftiger Pflichtverletzungen besteht und zuletzt die Gesamtumstände noch einmal abzuwägen, wenn nach alledem noch kein eindeutiges Ergebnis feststeht. Führen Sie sich vor Augen, dass das BAG als Leitbild den ruhigen und verständigen Arbeitgeber hat, der ggf. auch einmal Verhalten erträgt, wenn es durch andere Umstände aufgewogen wird.

E) Zur Vertiefung

  • Zur verhaltensbedingten Kündigung allgemein:

Hemmer/Wüst, Arbeitsrecht, Rn. 186 ff.

Hemmer/Wüst, Arbeitsrecht Karteikarten, Nr. 29 ff.

  • Zur Anwendbarkeit des KSchG:

Hemmer/Wüst, Arbeitsrecht, Rn. 167 ff.