Überprüfung von behördlichen Ermessensentscheidungen in der Klausur

von RA Michael Grieger, RRef. Jan Seidel und Johannes Hofmann

von Life and Law am 01.10.2014

+++ Vor- und Nachteile von Ermessensnormen +++ Prüfungsmaßstab behördlicher Ermessensentscheidungen +++ Ermessensfehler +++

Anmerkung: Der nachfolgende Beitrag richtet sich zum einen an alle „Neueinsteiger" in das Verwaltungsrecht und stellt ihnen die Grundzüge des wichtigen Themas „Kontrolle der Ermessensausübung durch die Behörde" vor. Für Fortgeschrittene ist es die Gelegenheit, dieses Thema komprimiert zu wiederholen!

Die bestehenden formellen und materiellen Gesetze werden in der Regel vom administrativen Teil der Exekutiven, der öffentlichen Verwaltung, ausgeführt. Die Legislative kann dabei an die Verwirklichung der tatbestandlichen Voraussetzungen entweder nur eine oder eine Vielzahl möglicher Rechtsfolgen knüpfen. Die Verwaltung ist also entweder auf eine Handlungsmöglichkeit beschränkt oder es stehen ihr mehrere Handlungsalternativen zur Auswahl.

I. Allgemeines

Kann die Behörde bei Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes zwischen verschiedenen Handlungsalternativen unterscheiden, weil das Gesetz mehrere mögliche Rechtsfolgen vorsieht, so steht ihr ein Entscheidungsspielraum zu.

Der Vorteil von Gesetzen mit behördlichem Entscheidungsspielraum liegt zum einen darin, dass der Gesetzgeber beim Gesetzgebungsverfahren nicht an alle Eventualitäten denken muss. Es dient der Eindämmung der Gesetzesflut, wenn nicht jeder konkrete Einzelfall gesetzlich geregelt werden muss. Zum anderen kann die Administrative einzelfallbezogen flexibel handeln, was die Praktikabilität und Effektivität des Verwaltungshandelns enorm steigert.

Die Einräumung von Ermessen hat aber den Nachteil, dass der Bevölkerung ein Stück Rechtssicherheit verloren geht. Der Bürger kann anhand des Gesetzestextes nicht mehr erkennen, welche konkrete Entscheidung die Verwaltung bei Verwirklichung des Tatbestandes treffen wird. Es stellt sich das Problem der Bestimmtheit von Gesetzen, die der Verwaltung einen Ermessensspielraum gewähren. Auch diese Gesetze müssen dem aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 III GG, folgenden Bestimmtheitsgrundsatz genügen. Deshalb unterliegen administrative Ermessensentscheidungen nach § 114 S. 1 VwGO der gerichtlichen Kontrolle. Dabei ist zu beachten, dass die gerichtliche Nachprüfbarkeit einer solchen Ermessensentscheidung nur in einem begrenzten Rahmen möglich ist. So ist die Kontrollbefugnis der Verwaltungsgerichte nach § 114 S. 1 VwGO darauf beschränkt, zu überprüfen, ob die Behörde ihr Ermessen gem. § 40 VwVfG entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten hat.

Anmerkung: § 40 VwVfG wendet sich an die Behörde und gibt dieser vor, wie sie das Ermessen auszuüben hat. § 114 S. 1 VwGO hingegen regelt, wieweit das Gericht die Ermessensentscheidung der Behörde kontrollieren darf. Da Sie in der Klausur regelmäßig gerichtliche Entscheidungen gutachterlich vorbereiten, ist für Sie § 114 S. 1 VwGO die entscheidende Norm!

Eine weitergehende Kontrolle hätte lediglich zur Folge, dass das Gericht über einen Sachverhalt zu urteilen hätte, dessen Hintergründe ihm gar nicht bekannt sind. Zudem würde es zur Vermischung der Gewalten kommen, da die Judikative letztlich eine Entscheidung der Exekutiven vornehmen würde. Im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung, Art. 20 II GG, gilt es, dies zu verhindern.

Insofern steht es dem Gericht nicht zu, im Rahmen der Überprüfung einer behördlichen Ermessensentscheidung eigene Zweckmäßigkeitserwägungen anzustellen. Das zuständige Verwaltungsgericht überprüft die Ermessensentscheidung der Administrativen lediglich hinsichtlich seiner Rechtmäßigkeit.

Anders verhält es sich nur im Rahmen des Vorverfahrens nach §§ 68 ff. VwGO. Dort ist die Widerspruchsbehörde bei der Überprüfung eines Verwaltungsaktes nicht bloß auf die Rechtmäßigkeitsprüfung beschränkt. Bestandteil des Vorverfahrens ist nach § 68 I S. 1 VwGO auch eine Zweckmäßigkeitskontrolle.

II. Abgrenzung

Die Legislative hat neben der Einräumung des Ermessensspielraums die Möglichkeit, durch weitere Gestaltungsalternativen die Flexibilität des Verwaltungshandelns zu fördern. Von diesen sind die Vorschriften abzugrenzen, welche den Behörden einen Ermessensspielraum einräumen.

1. Unbestimmte Rechtsbegriffe

So sind Ermessensnormen streng von solchen Normen zu unterscheiden, in denen auf Tatbestandsebene unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet werden.

Unbestimmte Rechtsbegriffe unterliegen grundsätzlich einer vollen gerichtlichen Kontrolle, ohne dass der Behörde ein Beurteilungsspielraum zukommt. Ein eingeschränkt überprüfbarer Spielraum für die Verwaltung bereits auf Tatbestandsseite würde den Rechtsschutz des Einzelnen derartig einschränken, dass Art. 19 IV S. 1 GG verletzt wäre. Nur ausnahmsweise hat die Rechtsprechung Fallgruppen anerkannt, in denen der Verwaltung ein Beurteilungsspielraum zusteht.1 Vor allem im Rahmen dieser unbestimmten Rechtsbegriffe, die der Behörde einen Beurteilungsspielraum einräumen, stellen sich ganz ähnliche Probleme wie beim Ermessensspielraum. Insofern ist die gerichtliche Überprüfbarkeit zwar ebenfalls darauf beschränkt zu überprüfen, ob sich die behördliche Entscheidung im Rahmen des rechtlich Vertretbaren befindet. Jedoch stehen unbestimmte Rechtsbegriffe unabhängig von der Gewährung eines Beurteilungsspielraums auf der Tatbestandsseite der Norm. Ein Ermessensspielraum wird der Verwaltung hingegen ausschließlich auf der Rechtsfolgenseite einer Norm eingeräumt.

hemmer-Methode: Ein häufiger Fehler in Klausuren besteht darin, dass die eingeschränkte Überprüfbarkeit beim Vorliegen eines Beurteilungsspielraums mit der begrenzten Überprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen verwechselt wird. Denken Sie stets daran: Unbestimmte Rechtsbegriffe befinden sich auf der Tatbestandsseite der Norm. Probleme in diesem Zusammenhang sind im Gutachten wegen des Bestimmtheitsgrundsatzes nach Art. 20 III GG meist unter dem Punkt „Rechtmäßigkeit/Wirksamkeit der Rechtsgrundlage" zu prüfen. Die Überprüfung des Ermessens stellt hingegen auf Rechtsfolgenseite die Prüfung der rechtmäßigen Anwendung der Norm dar.

Ermessenserwägungen sind folglich überhaupt nur möglich, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm erfüllt sind.

hemmer-Methode: Selbstverständlich ist es möglich, dass eine Norm auf Tatbestandsseite unbestimmte Rechtsbegriffe enthält und als Rechtsfolge eine Ermessensausübung anordnet. Man spricht dann von sog. Mischtatbeständen. Grundsätzlich weisen diese Normen keine Besonderheiten auf: Sowohl die Tatbestands- als auch die Rechtsfolgenseite ist nach ihren Regeln zu beurteilen. Problematisch ist jedoch der Fall, dass bereits auf Tatbestandsseite sämtliche rechtserheblichen Umstände heranzuziehen und zu prüfen sind. Im Rahmen der Ermessensüberprüfung müssten dann dieselben Erwägungen erneut angestellt werden. Für diesen Fall soll dann nur noch eine einzige rechtsfehlerfreie Ermessensentscheidung möglich sein. Der Ermessensschwund auf Null macht aus der Kann-Vorschrift eine Muss-Vorschrift.2 Ein Beispiel hierfür ist § 35 II BauGB.3 Soweit das Vorhaben im Einzelfall keine öffentlichen Belange beeinträchtigt, kann es nicht nur, sondern muss es genehmigt werden.

2. Planungsentscheidungen

Zudem sind von Ermessensentscheidungen Planungsentscheidungen, bei denen eine Abwägung stattfindet, abzugrenzen.

Anmerkung: Im Rahmen von Planungsentscheidungen wie bspw. der Aufstellung des Bebauungsplans unterscheidet das Gesetz oft nicht zwischen Tatbestand und Rechtsfolge, so dass die Begriffe „unbestimmter Rechtsbegriff" und „Ermessen" schon aus diesem Grund nicht richtig „passen".

Die Abwägung im Rahmen von Planungsentscheidungen gleicht den anzustellenden Erwägungen bei Ermessensentscheidungen. Jedoch hängt eine Ermessensentscheidung davon ab, ob die Ermessensvorschrift tatbestandlich erfüllt ist. Die Planungsentscheidung hingegen ist von der Planrechtfertigung unter dem Einfluss des Art. 14 I GG abhängig, muss also vernünftigerweise geboten sein, weil die Planung Rechte Dritter berühren kann.4

Unterschiede bestehen weiterhin darin, dass Planungsentscheidungen in der Regel deutlich komplexer sind und die Erreichung eines bestimmten Zwecks im Vordergrund steht. Voraussetzungen und Rechtsfolgen lassen sich dabei kaum voneinander trennen.

Die Regelungen zur Überprüfung von Ermessensentscheidungen, die im Folgenden dargestellt werden, können jedoch entsprechend auch auf die Kontrolle von Planungsentscheidungen übertragen werden.

III. Prüfung von Ermessensentscheidungen im Gutachten

Im Rahmen der Überprüfung einer behördlichen Ermessensentscheidung im Gutachten sind zunächst die Sachentscheidungsvoraussetzungen nach dem herkömmlichen Verfahren zu prüfen. Insofern ergeben sich keine Besonderheiten.

Die Begründetheitsprüfung ist -- je nach Bundesland -- mit der Feststellung der Passivlegitimation gem. § 78 VwGO zu beginnen.

Da es sich bei dem fraglichen Verwaltungshandeln um Eingriffsverwaltung handelt, gelten die Grundsätze vom Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes nach Art. 20 II, III GG uneingeschränkt. Deshalb ist im Anschluss daran eine taugliche Rechtsgrundlage, auf welcher der angefochtene oder abgelehnte Verwaltungsakt beruht, zu nennen.

In einem weiteren Schritt ist zu überprüfen, ob die formellen Voraussetzungen eingehalten wurden. Für die Verwaltung bestehen dabei grundsätzlich keine Gestaltungsspielräume, sodass die Prüfung entsprechend aller anderen Verwaltungsentscheidungen erfolgt.

1. Materielle Rechtmäßigkeit

Bevor die eigentliche Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeit erfolgt, kann es ausnahmsweise angezeigt sein, kurz dazu Stellung zu nehmen, auf welchen Zeitpunkt es für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ankommt.

hemmer-Methode: Welcher Zeitpunkt zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage der maßgebliche ist, richtet sich grundsätzlich nach dem materiellen Recht und ist ggf. durch Auslegung zu ermitteln. In einer verwaltungsprozessrechtlichen Klausur können Sie sich gleichwohl, jedenfalls gedanklich, mit folgender Faustregel weiterhelfen:

  • Bei der Anfechtungsklage ist der maßgebliche Zeitpunkt derjenige der letzten Behördenentscheidung, also entweder der Erlass des Verwaltungsakts oder im Falle eines durchgeführten Vorverfahrens der Erlass des Widerspruchbescheids, vgl. § 79 I Nr. 1 VwGO.5
  • Bei der Verpflichtungsklage kommt es hingegen regelmäßig auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung an.6

Zu den Ausnahmen dieser Regel vgl. für die Anfechtungsklage Hemmer/Wüst, Verwaltungsrecht I, Rn. 389 ff., für die Verpflichtungsklage Hemmer/Wüst, Verwaltungsrecht II, Rn. 83 ff.

Sollte der Sachverhalt hierzu keine Probleme aufweisen, kann unmittelbar mit der Überprüfung der materiellen Rechtmäßigkeit begonnen werden. Diese hat in zwei Schritten zu erfolgen. Zunächst wird der Tatbestand der Rechtsgrundlage subsumiert, bevor die Auswirkungen auf Rechtsfolgenseite beleuchtet werden.

a) Tatbestand

Sind die gesetzlichen Voraussetzungen des Tatbestandes schon nicht erfüllt, ist für ein behördliches Ermessen kein Raum. Handelt die Behörde dennoch, so verhält sie sich schon aus diesem Grund rechtswidrig. Insoweit erfolgt eine uneingeschränkte Kontrolle des behördlichen Handelns (s.o.).

b) Rechtsfolgenseite

Auf der Rechtsfolgenseite liegt der Schwerpunkt der gutachterlichen Überprüfung einer behördlichen Ermessensentscheidung.

aa) Vorliegen einer Ermessensentscheidung

Zunächst sollte kurz festgestellt werden, dass die Ermächtigungsgrundlage keine gebundene Entscheidung der Verwaltung nach sich zieht, sondern dass es sich um eine Ermessensvorschrift handelt.

gebundene Verwaltung

Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit, Rechtsnormen zu erlassen, welche beim Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen eine verpflichtende Rechtsfolge nach sich ziehen. Da die Behörde verpflichtet ist, nur eine ganz bestimmte Rechtsfolge zu setzen, spricht man insoweit von gebundener Verwaltung. Entsprechende Normen erkennt man anhand des Wortlauts durch Formulierungen wie „muss", „ist" oder „hat", z.B. § 12 I BeamtStG.

nichtgebundene Verwaltung

Der Gesetzgeber kann im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens jedoch nicht alle denkbaren Fallkonstellationen erfassen und konkret regeln. Um dennoch allen unterschiedlichen Sachverhalten gerecht zu werden, besteht die Notwendigkeit, gesetzliche Normen anhand der individuellen Gegebenheiten einzelfallbezogen beurteilen zu können (siehe oben).

Der Gesetzgeber kann der Verwaltung daher die Möglichkeit geben, ihr Verhalten nach eigenen Zweckmäßigkeitserwägungen individuell auszurichten. Man spricht in diesem Zusammenhang von nichtgebundener Verwaltung. Der Administrative wird, wenn die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, die Wahl zwischen verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten gegeben, welche sie nach pflichtgemäßem Ermessen auszuüben hat. Entsprechende Normen erkennt man anhand von Formulierungen wie „ist berechtigt", „kann" oder „darf", sowie wenn nach dem Wortlaut mehrere Handlungsmöglichkeiten eingeräumt sind oder der Behörde ausdrücklich ein Ermessen eingeräumt ist.

Entscheidungsermessen

Hierbei kann der Gesetzgeber der Verwaltung bereits einen Handlungsspielraum für die Entscheidung einräumen, „ob" sie eine bestimmte Maßnahme wahrnimmt oder nicht, z.B. § 15 III GastG. Der Behörde kommt demnach ein Entschließungsermessen zu. Es gilt insoweit das Opportunitätsprinzip.

Auswahlermessen

Darüber hinaus kann der Verwaltung auch die Möglichkeit eingeräumt werden, autonom zu bestimmen, „wie" sie im konkreten Einzelfall tätig wird, z.B. § 5 I GastG. Die Behörde kann dabei entscheiden, welches Mittel sie wählt und gegen wen sie es richtet. Man spricht insoweit von Auswahlermessen.

Soll-Entscheidungen

Handelt es sich um eine Vorschrift, welche an die Erfüllung ihres Tatbestandes die Rechtsfolge bindet, dass ein bestimmtes Ereignis eintreten „soll", so liegt lediglich ein eingeschränktes Ermessen vor, z.B. § 12 II BeamtStG. Hierbei ist zu beachten, dass die Behörde im Regelfall an die Rechtsfolge gebunden ist. Nur in atypischen Fällen darf die Behörde hiervon abweichen, ist dann aber verpflichtet, ihre Handlung nach § 39 I S. 3 VwVfG besonders zu begründen.7

intendiertes Ermessen

Des Weiteren hat das BVerwG die Fälle des sogenannten intendierten Ermessens entwickelt.8 Ein solches liegt dann vor, wenn dem Gesetz zu entnehmen ist, wie das Ermessen auszuüben ist und welche Rechtsfolge für den Normalfall gewollt ist, z.B. § 49 II VwVfG. Folgt die Behörde dieser gesetzlichen Intention, braucht sie keine Ermessensentscheidungen anzustellen und in der nach § 39 I S. 1 VwVfG erforderlichen Begründung auch keine Ermessenserwägungen mitzuteilen. Anders ist dies nur, wenn die Behörde aufgrund besonderer Umstände von der Intention des Gesetzgebers abweichen möchte.9

bb) Überprüfung auf Ermessensfehler

Nachdem kurz festgestellt wurde, dass vorliegend ein nichtgebundenes Verwaltungshandeln in Frage steht, ist dieses auf Ermessensfehler hin zu überprüfen. Nichtgebundene Entscheidungen der Verwaltung sind nach § 114 S. 1 VwGO dann ermessensfehlerhaft, wenn im Rahmen der Entscheidungsfindung die gesetzliche untere oder obere Grenze des Ermessens nicht eingehalten wurde oder der gesetzgeberische Zweck der Ermächtigungsgrundlage nicht beachtet wurde.

Im Rahmen der Überprüfung einer behördlichen Ermessensentscheidung auf Fehler haben sich insgesamt drei verschiedene Arten von Ermessensfehlern herauskristallisiert:

  • Ermessensnichtgebrauch
  • Ermessensüberschreitung
  • Ermessensfehlgebrauch.

In der Klausur bietet es sich an, das Verwaltungshandeln immer in dieser Reihenfolge auf Ermessensfehler zu untersuchen, da sich die einzelnen Ermessensfehler teilweise gegenseitig ausschließen. Denn hat die Behörde von ihrem Ermessen schon gar keinen Gebrauch gemacht, so ist es denknotwendig ausgeschlossen, dass ihr gleichzeitig der Fehler einer Ermessensüberschreitung oder eines Ermessensfehlgebrauchs unterlaufen sind.

(1) Ermessensnichtgebrauch bzw. -ausfall

Die Verwaltung muss im Rahmen ihrer Entscheidung den ihr zugewiesenen Ermessensspielraum bewusst wahrnehmen. Hat die Behörde das Bestehen eines Ermessensspielraumes gar nicht erkannt oder hält sie diesen fälschlicherweise für beschränkt, liegt ein sogenannter Ermessensnichtgebrauch vor.

Anmerkung: Der Ermessensnichtgebrauch wird in § 114 S. 1 VwGO nicht als eigene Fehlergruppe genannt. Aus diesem Grund können Sie diesen Fehler auch als Unterfall des Ermessensfehlgebrauchs behandeln.

Der Fehler der Behörde kann zum einen darin liegen, dass sie im konkreten Fall schon die Erfüllung des Tatbestands einer Norm verkennt. Dementsprechend hat sie ihre Entscheidung ermessensfehlerhaft ohne Beachtung dieser Norm getroffen.

Zum anderen kann die Behörde sich hinsichtlich der Rechtsfolge irrigerweise für gebunden halten, obwohl sie die tatbestandlichen Voraussetzungen zutreffend bewertet hat. Die Behörde glaubt folglich irrtümlich, sie habe keine andere Wahl, als entsprechend zu handeln.

Das Vorliegen eines Ermessensnichtgebrauchs kann anhand von Formulierungen wie „Die Behörde war der Ansicht, handeln zu müssen" oder „Die Behörde sieht sich gezwungen, den Verwaltungsakt zu erlassen" erkannt werden. Weiterhin stellt der Erlass eines Verwaltungsaktes ohne Begründung im Sinne des § 39 I S. 3 VwVfG einen Anhaltspunkt dafür dar, dass die Behörde das ihr zustehende Ermessen pflichtwidrig nicht ausgeübt und den Verwaltungsakt unreflektiert erlassen hat.

Ermessensreduktion auf Null

Der (vermeintliche) Ermessensnichtgebrauch ist allerdings dann kein Ermessensfehler, wenn das Ermessen der Behörde auf Null reduziert war (hierzu mehr unten unter 2a).

Sonderfall: Ermessensfehler bei behördeninternen Weisungen

Einen Sonderfall stellt die Konstellation dar, dass eine Behörde einen Verwaltungsakt erlässt und in der Begründung mitteilt, dass sie aufgrund einer Weisung der übergeordneten Aufsichtsbehörde nicht anders entscheiden konnte.

In einem solchen Fall muss im Gutachten auf die Frage eingegangen werden, ob in diesem Vorgehen ein Ermessensnichtgebrauch zu sehen ist. Schließlich legt die Behörde selbst dar, dass sie von dem ihr grundsätzlich zu Verfügung stehenden Ermessen keinen Gebrauch gemacht hat.

Dies allein kann aber noch nicht zu einem Ermessensausfall führen.10 Mit den Anforderungen an eine sachgerechte Ermessensausübung kann und soll nicht die bestehende Verwaltungshierarchie außer Kraft gesetzt werden. Übergeordnete Behörden dürfen im Rahmen ihrer verwaltungsinternen Weisungsrechte auch in konkreten Einzelfällen die Ermessensausübung durch untergeordnete Stellen bestimmen. Würde jede Weisung zu einem Ermessensausfall und damit zu einem rechtswidrigen Verwaltungsakt führen, wäre das Weisungsrecht der übergeordneten Behörde jeglicher Wirksamkeit beraubt. Das Weisungsrecht ist gerade bei Ermessensentscheidungen von Bedeutung. Wenn die Behörde schon kraft Gesetzes gebunden ist, macht eine Weisung keinen Sinn mehr. Andererseits darf eine Weisung aber auch nicht dazu führen, dass gar keine Ermessensausübung mehr stattfindet. Der Bürger als Adressat einer belastenden Behördenentscheidung hat einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie und verhältnismäßige Behördenentscheidung.

Dieses Spannungsfeld zwischen der Handlungspflicht der angewiesenen Behörde im Innenverhältnis einerseits und einer fehlerfreien Ermessensausübung im Außenverhältnis andererseits ist deshalb derart zu lösen, dass bereits die Weisung auf einer sachgerechten Ermessensausübung beruhen muss.

Ermessensentscheidung und Erlass des Verwaltungsakts fallen damit letztlich auseinander.

Anmerkung: Im Gutachten ergeben sich, nachdem Sie die beschriebene Problematik dargestellt haben, keine weiteren Besonderheiten: Sie prüfen die Weisung der übergeordneten Behörde nach den oben genannten Grundsätzen der Ermessensfehlerlehre. Kommen Sie hierbei zu dem Ergebnis, dass die Weisung ermessensfehlerhaft war, so ist der Verwaltungsakt der Erlassbehörde rechtswidrig. Diese muss sich den Ermessensfehler der Weisungsbehörde zurechnen lassen.

In Konsequenz hierzu muss die Erlassbehörde allerdings nicht nur die Weisung der vorgesetzten Behörde erwähnen, sondern auch deren Beweggründe wiedergeben. Nach § 39 I S. 3 VwVfG soll die Begründung die ermessensleitenden Gesichtspunkte erkennen lassen. Hintergrund ist, dass

  • wie schon erwähnt - andernfalls der Bürger einen Ermessensfehlgebrauch überhaupt nicht feststellen und kontrollieren könnte.

(2) Ermessensüberschreitung

Wurde im vorangegangenen Prüfungsschritt kein Ermessensnichtgebrauch festgestellt, so ist daran anschließend zu überlegen, ob eine Ermessensüberschreitung i.S.d. § 114 S. 1 Alt. 1 VwGO vorliegt. Wie anhand von § 40 VwVfG zu erkennen ist, hat der Gesetzgeber der Verwaltung mit dem Erlass von Ermessensvorschriften keinen im Belieben der Behörden stehenden Gestaltungsspielraum gegeben. So muss die Verwaltungsentscheidung unter anderem im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolge bleiben.

Trifft die Behörde eine Entscheidung, die außerhalb des gesetzlich abgesteckten Rechtsfolgerahmens liegt, so liegt eine Ermessensüberschreitung vor. Beispielsweise wäre dies der Fall, wenn die Behörde eine Gebühr von 1000,- € verhängt, obwohl nach der einschlägigen Norm nur eine Gebühr zwischen 50,- € und 850,- € erhoben werden darf. Der von der Behörde erlassene Verwaltungsakt beinhaltet dann eine Rechtsfolge, die von der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage gar nicht gedeckt ist.

Anmerkung: Kurz formuliert liegt eine Ermessensüberschreitung dann vor, wenn die Rechtsfolge des Verwaltungsaktes nicht von der Rechtsfolge des Gesetzes gedeckt ist.

Als Fall der Ermessensüberschreitung wird häufig auch die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme geprüft.11 Allerdings ergibt sich die Unverhältnismäßigkeit in der Regel nicht schon allein aus der angeordneten Rechtsfolge, sondern erst daraus, dass die Gründe der Behörde für diese Rechtsfolge nicht genügen. Aus diesem Grund erscheint es zutreffender, die Unverhältnismäßigkeit als Ermessensfehlgebrauch zu prüfen.

(3) Ermessensfehlgebrauch

Ein Ermessensfehler liegt nach § 114 S. 1 Alt. 2 VwGO weiter dann vor, wenn die Behörde von der Ermächtigung in einer mit dem Zweck dieser Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.

Ein Ermessensfehlgebrauch ist demnach dadurch gekennzeichnet, dass die Art und Weise, wie eine Behörde zu ihrer Entscheidung kam, fehlerhaft war. Hier ist nicht die Rechtsfolge des Verwaltungsaktes als solche, sondern die Motivation der Behörde fehlerhaft.

Dabei handelt es sich jedoch um einen inneren Verfahrensgang der Verwaltung, in den Außenstehende nicht unmittelbar Einblick haben. Um eventuelle Ermessensfehler im Rahmen behördeninterner Abläufe feststellen zu können, sollen § 39 I S. 2 und 3 VwVfG Außenstehenden Einblick gewähren.

Klausurtaktik: Für die Klausur bedeutet dies, dass dieser Ermessensfehler nur dann erkennbar ist, wenn die Begründung der Behörde im Sachverhalt mitgeteilt wurde. Wird der Inhalt der Begründung mitgeteilt, ist dies somit ein Hinweis auf einen möglichen Ermessensfehlgebrauch.

Im Rahmen des Ermessensfehlgebrauchs lässt sich zwischen drei unterschiedlichen Verfahrensdefiziten differenzieren, wobei die Übergänge fließend sind.

Zweckverfehlung

Ein Ermessensfehlgebrauch in Form einer Zweckverfehlung liegt dann vor, wenn die Behörde sich bei ihrer Ermessensentscheidung nicht ausschließlich vom Zweck der Ermessensnorm, sondern von sachfremden Erwägungen, z.B. persönlichen Motiven, leiten lässt.

Heranziehungsdefizit/-überhang

Ein Heranziehungsdefizit liegt dann vor, wenn die Behörde nicht alle entscheidungsrelevanten Tatsachen und Gesichtspunkte ermittelt und als Entscheidungsmaterial einbezogen hat.

hemmer-Methode: In diesem Zusammenhang sei auf eine interessante Entscheidung des BVerwG hingewiesen.12 Es ging um die Frage, ob die Administrative im Rahmen der Ermessensausübung auch zukünftige Änderungen der Rechtslage zu berücksichtigen hat. Wäre dies der Fall und die Behörde unterließe eine solche Berücksichtigung, läge ein Ermessensfehler in Form eines Ermessensdefizits vor. Das BVerwG hat die Frage im konkreten Fall jedoch verneint. Begründung: Nach Art. 20 III GG (Rechtsstaatsgebot) und nach dem verfassungsrechtlichen Demokratiegebot, Art. 20 I, III GG, sind die Behörden an das geltende Recht gebunden. Das Demokratiegebot lässt es nicht zu, die Beachtung der vom Parlament beschlossenen Gesetze zur Disposition der Verwaltung zu stellen. Geplante Rechtsänderungen muss die Verwaltung daher nicht schon im Entwurfsstadium berücksichtigen. Das gilt insbesondere dann, wenn eine neue Regelung noch nicht vom Parlament beschlossen wurde und deshalb noch nicht absehbar ist, ob, wann und mit welchem Inhalt sie in Kraft treten wird.

Eine Grenze für die Vorberücksichtigung zukünftiger Rechtsänderungen ist jedenfalls dann erreicht, wo sie zu einer Konterkarierung und Missachtung der aktuell geltenden Rechtslage führen würde.

Umgekehrt spricht man von einem Heranziehungsüberhang, wenn Gesichtspunkte berücksichtigt wurden, die im Kontext der Befugnis nicht heranzuziehen waren. Negativ formuliert, darf die Verwaltung sich bei ihrer Entscheidungsfindung nicht von sachfremden Erwägungen geleitet haben lassen.

Anmerkung: Vor allem zwischen der Zweckverfehlung und dem Heranziehungsüberhang ist es damit häufig kaum möglich, eine klare Grenze zu ziehen. Daher sollten Sie sich in einer Klausur eine zu breite Diskussion hinsichtlich der richtigen Einordnung sparen. Diese kostet Zeit und führt letztlich nicht zu einem eindeutigen Ergebnis. Eine schnelle Einordnung und eine eigene, saubere Begründung, warum es sich Ihrer Meinung nach vorliegend um diesen konkreten Ermessensfehler handelt, sind an dieser Stelle vollkommen ausreichend.

Disproportionalität

Hat die Behörde das Für und Wider nicht ordnungsgemäß gegeneinander abgewogen oder bestimmte tatsächlich einzustellende Belange völlig unvertretbar gewichtet, dann ist im Rahmen des Ermessensfehlgebrauchs eine Ermessensdisproportionalität anzunehmen.

Die wichtigste Fallgruppe der Disproportionalität ist die Unverhältnismäßigkeit des Verwaltungsaktes. Die Behörde muss die betroffenen Grundrechte der Beteiligten einstellen und vertretbar mit den widerstreitenden öffentlichen Interessen abwägen.

c) Verletzung in subjektiven Rechten

Nach der Prüfung des Tatbestandes und der Rechtsfolge ist nach § 113 I S. 1 VwGO abschließend die Verletzung des Klägers in seinen subjektiven Rechten zu prüfen.

Probleme bereitet dies nur im Rahmen der Drittanfechtung. Insoweit ist wichtig, dass es keinen allgemeinen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung gibt. Ein Dritter kann sich auf einen Ermessensfehler der Behörde nur berufen, wenn es sich um eine drittschützende Norm handelt.

2. Prozessuale Folge von Ermessensfehlern

Im Ergebnis der Klausur ist festzustellen, welche prozessualen Folgen sich aus dem Vorliegen eines Ermessensfehlers im Rahmen der behördlichen Entscheidung und der damit verbundenen Verletzung subjektiver Rechte des Klägers ergeben. Die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend davon abhängig, welche Klage im Gutachten zu prüfen war.

a) Anfechtungsklage, § 42 I Alt. 1 VwGO

Wurde gegen einen ermessensfehlerhaften Verwaltungsakt, der eine für den Kläger belastende Ermessensentscheidung darstellt, Anfechtungsklage nach § 42 I Alt. 1 VwGO erhoben, so ist dieser rechtswidrig und damit grundsätzlich aufzuheben.

Ermessensreduzierung auf Null

Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Behörde im streitgegenständlichen Fall nur eine einzige rechtmäßige Entscheidung treffen konnte, obwohl eigentlich mehrere Handlungsalternativen ins Ermessen der Behörde gestellt waren. Der Behörde kommt dann keine Wahlmöglichkeit hinsichtlich der zu setzenden Rechtsfolge mehr zu. Aus der Ermessensentscheidung wird dann eine gebundene Entscheidung. Das Ermessen der Behörde war damit auf Null reduziert. Der entsprechende Ermessensfehler ist im vorliegenden Fall dann unbeachtlich, sodass der erlassene Verwaltungsakt nicht aufgehoben werden wird.

Das Ermessen der Behörde kann auch durch ihre gängige Verwaltungspraxis bei vergleichbaren Sachverhalten auf Null reduziert sein. Wenn diese bisher an bestimmte Sachverhalte regelmäßig die gleiche Rechtsfolge geknüpft hat, kann sie nicht ohne stichhaltige Begründung hiervon abweichen. Insofern führt der Gleichheitssatz des Art. 3 I GG zu einer Selbstbindung der Verwaltung. Sinn dieser Selbstbindung der Verwaltung ist die allgemeine Rechtssicherheit. Die Adressaten einer Maßnahme können im Rahmen von behördlichen Ermessensentscheidungen grundsätzlich nicht wissen, welche Rechtsfolge die Behörde an den Tatbestand knüpft. Wenigstens sollen sie sich aber darauf verlassen können, dass die Behörde den von ihnen vorgebrachten Sachverhalt so behandeln wird wie vergangene vergleichbare Fälle. Die Selbstbindung der Verwaltung darf im Ergebnis jedoch nicht dazu führen, dass die Behörde gezwungen ist, Ungleiches gleich oder wesentlich Gleiches ungleich zu behandeln. Dann muss ihr die Möglichkeit zukommen von ihrer gängigen Verwaltungspraxis abweichen zu können.

Des Weiteren ist zu beachten, dass sich der Kläger nur auf die Selbstbindung der Verwaltung berufen kann, wenn das frühere behördliche Verhalten gegenüber Dritten rechtmäßig war. Es gilt insofern der Grundsatz: „Keine Gleichheit im Unrecht". Ein Anspruch des Bürgers auf Fehlerwiederholung der Behörde besteht naturgemäß nicht, da die Verwaltung gem. Art. 20 III GG an Recht und Gesetz gebunden ist.

Anmerkung: Die Selbstbindung der Verwaltung und die hieraus resultierende Ermessensreduktion hat ihre Bedeutung mehr im Rahmen der Verpflichtungsklage, wenn der Kläger nicht nur eine ermessensfehlerfreie Entscheidung, sondern den Erlass eines eigentlich im Ermessen der Behörde stehenden Verwaltungsaktes begehrt.

b) Verpflichtungsklage, § 42 I Alt. 2 VwGO

Hat der Kläger von der Behörde den Erlass eines Verwaltungsaktes verlangt und wurde dieses Verlangen abgelehnt, kann der Kläger eine Verpflichtungsklage in Form einer Versagungsgegenklage nach § 42 I Alt. 2 Var. 1 VwGO erheben.

aa) Verbescheidungsurteil, § 113 V S. 2 VwGO

War die Entscheidung der Behörde, den Verwaltungsakt abzulehnen ermessensfehlerhaft, so darf das Gericht die Behörde allerdings dennoch nicht ohne weiteres zum Erlass des beantragten Verwaltungsaktes verpflichten. Es ist zu beachten, dass der Behörde immer noch ein Ermessensspielraum zusteht und der Erlass des begehrten Verwaltungsaktes möglicherweise auch in rechtmäßiger Art und Weise abgelehnt werden kann.

Insofern darf das Gericht der Behörde nicht die Ermessensentscheidung abnehmen. Das Gericht kann die Behörde daher lediglich dazu verurteilen, über den Erlass des begehrten Verwaltungsaktes erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts, d.h. ermessensfehlerfrei, zu entscheiden. Es ergeht demgemäß ein Verbescheidungsurteil nach § 113 V S. 2 VwGO.

bb) Vornahmeurteil, § 113 V S. 1 VwGO

Etwas anderes gilt aber dann, wenn das Gericht eine Reduzierung des behördlichen Ermessens auf Null festgestellt hat. Die Sache ist dann spruchreif. In diesem Fall hat der Kläger einen Anspruch auf den Erlass des begehrten Verwaltungsaktes und nicht nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Behörde (s.o.). Das Gericht kann die Behörde in diesem Fall direkt dazu verurteilen, den Erlass des Verwaltungsaktes vorzunehmen. Man spricht insoweit von einem Vornahmeurteil nach § 113 V S. 1 VwGO.

3. Sonderproblem: Zulässigkeit des Nachschiebens von Gründen

Ein weiteres Problem, das sich im Gutachten im Rahmen der Ermessensprüfung stellen kann, ist die Zulässigkeit des Nachschiebens von Gründen. Hierbei geht es um die Frage, inwieweit es der Verwaltung gestattet ist, ihre Begründung zu einem Ermessensverwaltungsakt inhaltlich mit neuen Ermessenserwägungen „aufzubessern" und welche Auswirkungen dies auf den Prozess hat.

Anmerkung: Das Nachschieben von Gründen ist eigentlich ein Problem der materiellen Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird dieses Sonderproblem jedoch losgelöst vom grds. Klausuraufbau behandelt.

a) Abgrenzung

Zunächst ist es notwendig, das Nachschieben von Gründen von zwei anderen Problemkreisen abzugrenzen, nämlich zum einen von der Problematik des Nachholens einer Begründung gem. § 45 I Nr. 2 VwVfG, zum anderen von der Frage des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage.

aa) Nachholen der Begründung gem. § 45 I Nr. 2 VwVfG

Der Regelung des § 45 I Nr. 2 VwVfG liegt die Konstellation zu Grunde, dass es die Behörde bei Erlass eines Verwaltungsaktes gänzlich unterlassen hat, diesen mit einer nach § 39 I VwVfG notwendigen Begründung zu versehen. Dies hätte grundsätzlich die formelle Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes zur Folge. § 45 I Nr. 2, II VwVfG gibt der Administrativen allerdings die Möglichkeit, diesen formellen Fehler bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zu heilen.

Probleme in diesem Bereich sind im Gutachten daher bei der Form im Rahmen der formellen Rechtmäßigkeit zu verorten.

Der Problematik des Nachschiebens von Gründen liegt hingegen die Situation zu Grunde, dass die Behörde den Bescheid mit einer den Anforderungen des § 39 I VwVfG genügenden, formell rechtmäßigen Begründung versehen hat, diese Begründung aber im Zeitpunkt des Erlasses inhaltlich unzureichend und damit materiell rechtswidrig weil ermessensfehlerhaft ist. Hier stellt sich nun die Problematik des Nachschiebens von Gründen, also die Frage, ob die Behörde den derzeit rechtswidrigen Verwaltungsakt im verwaltungsgerichtlichen Verfahren durch eine Nachbesserung ihrer Ermessenserwägungen noch rechtmäßig werden lassen kann, ihn sozusagen „retten" kann.

Im Gutachten sollten Sie diese Problematik am Ende der materiellen Rechtmäßigkeitsprüfung verorten. Zunächst müssten Sie die materielle Rechtmäßigkeit ohne Berücksichtigung der nachgeschobenen Gründe prüfen und zu dem Ergebnis kommen, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig ist. Im Anschluss hieran erfolgt dann eine Prüfung unter Berücksichtigung der ergänzend vorgebrachten Ermessenserwägungen. Kommt man hier nun zu dem Ergebnis, dass der Verwaltungsakt unter Berücksichtigung dieser weiteren Erwägungen rechtmäßig ist, müssten die Zulässigkeit und die prozessualen Folgen des Nachschiebens von Gründen diskutiert werden.

bb) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage

Nicht zu verwechseln ist das Nachschieben von Gründen weiterhin mit der bereits oben angesprochenen Frage, welcher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der maßgebliche ist. Diese ist, sofern problematisch, am Anfang der materiellen Rechtmäßigkeitsprüfung darzustellen. Erst wenn festgestellt wurde, dass der Verwaltungsakt im maßgeblichen Zeitpunkt materiell rechtswidrig war, stellt sich das Problem des Nachschiebens von Gründen.

b) Nachschieben von Gründen bei gebundenen Entscheidungen

Unproblematisch ist es der Verwaltung möglich, bei gebundenen Entscheidungen nach Erlass des Verwaltungsaktes im Rahmen eines Verwaltungsprozesses nachträglich Tatsachen vorzutragen. Dies folgt zum einen aus dem Untersuchungsgrundsatz des § 86 I VwGO, wonach das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und zu berücksichtigen hat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Tatsachen durch das Gericht selbst ermittelt werden oder aber ob sie durch die Verwaltung in das Verfahren eingebracht werden.

c) Nachschieben von Gründen bei Ermessensentscheidungen

Umstritten ist hingegen die Frage, ob im Rahmen von Ermessensentscheidungen ein Nachschieben von Gründen zulässig ist.

aa) Die Regelung des § 114 S. 2 VwGO

Gem. § 114 S. 2 VwGO ist es der Behörde gestattet, ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsakts auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu „ergänzen". Insoweit besteht allerdings Einigkeit, dass hierdurch nicht geregelt wird, ob das Nachschieben von Ermessenserwägungen zulässig ist. Dies bestimmt sich nach dem materiellen Recht und dem Verwaltungsverfahrensrecht.13 § 114 S. 2 VwGO betrifft nur deren Geltendmachung im Prozess. Ihr Zweck ist es klarzustellen, dass ein materiell- und verwaltungsverfahrensrechtlich zulässiges Nachholen von Ermessenserwägungen nicht an prozessualen Hindernissen scheitert.14

hemmer-Methode: Gedanklich kann daher in § 114 S. 2 VwGO der zweite Halbsatz hinzugefügt werden: (...), sofern dies materiell-rechtlich und verfahrensrechtlich zulässig ist.

bb) Zulässigkeitsvoraussetzungen nach materiellem Recht und nach Verfahrensrecht

Nach der Rspr. des BVerwG15 sowie der h.M.16 ist ein Nachschieben von Ermessenserwägungen zulässig, wenn folgende drei Voraussetzungen vorliegen:

  • Die nachgeschobenen Gründe müssen bereits bei Erlass des Verwaltungsakts vorgelegen haben,
  • der Verwaltungsakt darf sich durch die nachgeschobenen Gründe nicht seinem Wesen nach verändert haben und
  • der Betroffene darf nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt werden.

cc) Prozessuale Folgen des Nachschiebens von Gründen

Weiterhin besteht Einigkeit zwischen Rspr. und Literatur über die prozessualen Folgen für den Fall, dass die o.g. Voraussetzungen für ein zulässiges Nachschieben von Gründen nicht vorliegen.

Lagen z.B. im Erlasszeitpunkt die neu vorgetragenen Ermessenserwägungen noch nicht vor oder aber der Bescheid beruht nunmehr auf einem gänzlich neuen Sachverhalt und es liegt damit eine Wesensänderung vor, so handelt es sich nicht um ein zulässiges Nachschieben von Gründen. In diesem Fall erlässt die Behörde vielmehr einen gänzlich neuen Verwaltungsakt, welcher nicht Streitgegenstand des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ist. Durch Auslegung muss in einem solchen Fall ermittelt werden, ob die Behörde den streitgegenständlichen Verwaltungsakt gem. § 48 VwVfG, möglicherweise konkludent, zurückgenommen hat. Ist dies der Fall, so liegt es in der Hand des Klägers, ob er die Klage nach § 161 II VwGO für erledigt erklärt oder aber den neuen Verwaltungsakt nach § 91 VwGO zum Streitgegenstand der Klage machen will.17 § 114 S. 2 VwGO erfasst diesen Fall prozessual überhaupt nicht, da es sich nicht um eine „Ergänzung" von Ermessenserwägungen handelt, welche materiell-rechtlich bzw. verfahrensrechtlich zulässig ist.

Uneinigkeit besteht allerdings hinsichtlich der prozessualen Folgen dann, wenn es sich nach den o.g. Voraussetzungen um ein zulässiges Nachschieben von Ermessenserwägungen handelt.

(1) Ansicht in der Literatur

Eine Ansicht in der Literatur18 geht davon aus, dass in jedem Nachschieben, gleich ob zulässig oder unzulässig, ein Neuerlass eines Verwaltungsaktes zu sehen ist.

Im Falle eines unzulässigen Nachschiebens von Gründen stelle sich die Problematik des § 114 S. 2 VwGO gar nicht. Da dem Kläger in einem solchen Fall nicht der rechtsstaatlich bedenkliche Verzicht auf das Vorverfahren aufgezwungen werden dürfe, bleibe es bei der bereits aufgezeigten Möglichkeit einer Klageänderung gem. § 91 VwGO.

Doch auch für den Fall, dass das Nachschieben von Gründen in verfahrensrechtlich zulässiger Weise erfolgte, geht diese Ansicht von einem Neuerlass eines Verwaltungsaktes aus. § 114 S. 2 VwGO komme in diesem Fall lediglich die Bedeutung einer gesetzlich statuierten Klageänderung zu.19 Begründet wird dies damit, dass eine Heilung des ursprünglich ermessensfehlerhaften und damit verwaltungsverfahrensrechtlich mangelhaften Bescheids aus systematischen wie auch aus kompetenzrechtlichen Gründen nicht durch die prozessrechtliche Vorschrift des § 114 S. 2 VwGO geschehen könne.20 Eine solche Heilung bliebe dem VwVfG vorbehalten. Hierin läge der gravierende Unterschied zu §§ 39 I, 45 I Nr. 2, II VwVfG, welche für die gänzlich unterlassene Begründung eine Heilungsmöglichkeit vorsähen.

(2) Ansicht der BVerwG

Das BVerwG geht hingegen davon aus, dass ein nach Verfahrensrecht zulässiges Nachschieben von Gründen auch im Verwaltungsprozess wegen § 114 S. 2 VwGO in der Form Berücksichtigung finden müsse, dass der ursprünglich ermessensfehlerhafte Verwaltungsakt geheilt wird und unter Berücksichtigung der im Prozess nachgeschobenen Erwägungen nunmehr ermessensfehlerfrei ist.21

Begründet wird diese Ansicht mit der Prozessökonomie, welcher § 114 S. 2 VwGO ausweislich der Gesetzesbegründung22 zu dienen bestimmt ist. Danach sollte es der Behörde ausdrücklich ermöglicht werden, dass eine defizitäre Ermessensentscheidung aus verfahrensökonomischen Gründen durch nachgeschobene Erwägungen der Behörde nachgebessert und geheilt werden kann.

Anmerkung: Angesichts des Wortlauts des § 114 S. 2 VwGO ist der Ansatz des BVerwG überzeugender.

Allerdings folgt auch das BVerwG dem Lösungsansatz der Gegenseite, wenn kein nach § 114 S. 2 VwGO zulässiges Ergänzen der Erwägungen vorliegt, sondern die Erwägungen völlig ausgetauscht oder erstmalig vorgebracht werden.

IV. Zusammenfassung

Ermessensnormen dienen der Verwaltung dazu, flexibel und einzelfallgerecht eine Entscheidung treffen zu können. Gleichwohl muss wegen Art. 20 III GG jedenfalls eine eingeschränkte gerichtliche Überprüfbarkeit gegeben sein. Zwar kann das Gericht nach § 114 S. 1 VwGO keine Zweckmäßigkeitskontrolle durchführen, jedoch ist es ihm gestattet, das Handeln der Verwaltung auf Ermessensausfall, auf Ermessensüber- bzw. unterschreitung und auf Ermessensfehlgebrauch hin zu überprüfen. Kommt das Gericht im Rahmen einer Anfechtungsklage zu dem Ergebnis, dass ein Ermessensfehler vorliegt, so hebt es den Verwaltungsakt gem. § 113 I S. 1 VwGO auf, es sei denn, das Ermessen war auf Null reduziert. Im Rahmen einer Verpflichtungsklage ergeht in aller Regel ein Verbescheidungsurteil gem. § 113 V S. 2 VwGO, ein Vornahmeurteil erlässt das Gericht nur, wenn die Sache gem. § 113 V S. 1 VwGO spruchreif ist, was wiederum eine Ermessensreduktion auf Null voraussetzt.

In der Klausur ist vor allem darauf zu achten, dass die Ermessensprüfung und die Problematik unbestimmter Rechtsbegriffe auf Tatbestandsseite der Norm nicht miteinander verwechselt werden.

Eines der schwierigsten Probleme in einer verwaltungsrechtlichen Klausur dürfte die Problematik rund um das Nachschieben von Gründen sein. Hier werden von Ihnen in einer Klausur keine bahnbrechenden Erkenntnisgewinne erwartet, zumal es sich hierbei um eines der umstrittensten Probleme im Verwaltungsrecht handelt. Wichtig ist hier vor allem, dass Ihnen keine Verwechslung zum einen bei Frage rund um den maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage, zum anderen bei der Thematik zur Nachholung der Begründung i.S.v. §§ 39 I, 45 I Nr. 2, II VwGO unterläuft. Weiterhin ist eine Darstellung wichtig, die einen roten Faden erkennen lässt und im Falle eines Streitentscheids eine mit den oben dargestellten Argumenten versehene Begründung.


  1. Das BVerfG hat dafür das Schlagwort der „Funktionsgrenzen der Rechtsprechung" geprägt (BVerfGE 84, 34, [50]. Hierunter fallen etwa Prüfungsentscheidungen und Beurteilung von Eigenschaften einer Person, Entscheidungen pluralistisch zusammengesetzter Gremien und Prognoseentscheidungen; vgl. näher Hemmer/Wüst, Verwaltungsrecht I, Rn. 342 ff.

  2. Maurer, § 7 Rn. 49; Seewald, Jura 1980, 175 (181)

  3. So in st. Rspr. etwa BVerwGE 18, 247 (259) a.A. Jäde/Dirnberger/Weiss, § 35 BauGB, Rn. 287.

  4. BVerwGE 56, 110 (118)

  5. So etwa Kopp/Schenke, § 113 VwGO, Rn. 31, m.w.N.

  6. H.M. bei Kopp/Schenke, § 113 VwGO, Rn. 217.

  7. Kopp/Ramsauer, § 39 VwVfG, Rn. 29.

  8. BVerwG, NJW 1998, 2233

  9. BVerwGE 91, 90

  10. Vgl. hierzu BayVGH, Urteil vom 25.05.2004 - 22 B 01.2468, BayVBl. 2005, 50 = Life & Law 2005, 340.

  11. Kopp/Ramsauer, § 40 VwVfG, Rn. 65.

  12. BVerwG, Urteil vom 20.06.2013 - 8 C 48/12, zu finden in jurisbyhemmer.

  13. So übereinstimmend BVerwGE 141, 253, Urteil vom 20.06.2013 - 8 C 48/12 , sowie Schenke, DVBl. 2014, 584 ff.

  14. BVerwG, Urteil vom 20.06.2013 - 8 C 48/12

  15. Vgl. z.B. BVerwGE 22, 215 ff. sowie BVerwGE 105, 55 ff.

  16. H.M. bei Kopp/Schenke, § 113 VwGO, Rn. 64.

  17. BVerwG, DVBl. 1990, 1350; Kopp/Schenke, § 113 VwGO, Rn. 68.

  18. So Schenke, DVBl. 2014, 584 (585).

  19. Vgl. Kopp/Schenke, § 113 VwGO, Rn. 72 m.w.N.

  20. Kopp/Schenke, § 113 VwGO, Rn. 61.

  21. Vgl. etwa BVerwGE 141, 253 ff.

  22. Vgl. BT-Dr. 13/1433, S. 13.