Zähne zusammenbeißen -- auch gegen die Überzeugung!

VGH Kassel, Beschluss vom 03. Mai 2013, 8 A 772/13.Z

von Life and Law am 01.05.2014

+++ Politische Neutralität eines Bürgermeisters bei Kundgebungen +++ Bürgermeister als Versammlungsbehörde +++ Zulassung der Berufung +++ §§ 124, 124a VwGO, §§ 14, 15 VersammlG, § 4 II, III HGO, §§ 85 I S. 1 Nr. 4, S. 2, 89 I S. 1, II S. 1 HSOG, § 1 S. 1 Nr. 2 HSOG-DVO +++

Sachverhalt: Die rechte Partei X meldete ordnungsgemäß eine Kundgebung für den 03. August 2012 an. Der Oberbürgermeister der hessischen Stadt Y hatte vergeblich versucht, durch ein (offensichtlich rechtswidriges) Verbot die Demonstration zu verhindern. Ein von der Partei X betriebenes Eilverfahren hiergegen hatte Erfolg.

Die Stadt Y verbreitete daraufhin auf ihrer Internetseite eine Erklärung mit folgendem Wortlaut: „Oberbürgermeister A ruft zur Teilnahme an der Demonstration gegen die Kundgebung der Partei X in Y auf."

Gegen diesen Aufruf ging die Partei X nach Durchführung der Kundgebung gerichtlich vor. Das Verwaltungsgericht in Y stellte in seiner Entscheidung fest, dass die auf der Internetseite der Stadt Y verbreitete Erklärung ihres Oberbürgermeisters in Bezug auf die von der Partei X für den 03. August 2012 angemeldete Kundgebung rechtswidrig war und die X-Partei in Rechten verletzte. Der Oberbürgermeister habe gegen seine Neutralitätspflicht in der Funktion als Versammlungsbehörde verstoßen.

Das Verwaltungsgericht in Y ließ die Berufung zum VGH nicht zu. Das Urteil wurde der Stadt Y am 05. Februar 2013 zugestellt.

Die Stadt Y will nun gegen diese Entscheidung gerichtlich vorgehen. Sie ist der Auffassung, entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts hätten sowohl das von der Partei X gewählte Kundgebungsmotto als auch Vorverhalten ihrer führenden Funktionäre einen unfriedlichen und fremdenfeindlichen Verlauf der von ihrem Oberbürgermeister zunächst verbotenen und nach einem von der Partei X erfolgreich betriebenen Eilverfahren durchgeführten Kundgebung erwarten lassen.

Wie wären die Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Vorgehens? Es ist davon auszugehen, dass sich das VG Y im Bezirk des VGH K befindet. Auf § 4 II, III HGO, §§ 85 I S. 1 Nr. 4, S. 2, 89 I S. 1, II S. 1 HSOG, § 1 S. 1 Nr. 2 HSOG-DVO wird hingewiesen.

A) Sound

Bürgermeister (hessischer) Städte und Gemeinden sind mit Rücksicht auf ihre Funktion als Versammlungsbehörde und ihre daraus resultierende Neutralitätspflicht nicht befugt, anlässlich bei ihnen angemeldeter Versammlungen unter freiem Himmel oder Aufzüge öffentlich zur Teilnahme an Gegendemonstrationen aufzurufen.

B) Problemaufriss

Es kommt nicht selten vor, dass sich Bürgermeister an ihre „Menschlichkeit" erinnert fühlen und es als ihre selbsterklärte Pflicht sehen, die Bürger ihrer Städte und Gemeinden vor Gefahren unterschiedlichster Art zu schützen und Schaden von ihnen abzuwenden. So wird wieder und wieder der Versuch unternommen, eine rechte Partei daran zu hindern, Parteiveranstaltungen in eigentlich dafür vorgesehenen Einrichtungen der Gemeinde durchzuführen. Und wenn es aber nicht gelingt, eine von Rechten organisierte Demonstration unter freiem Himmel zu verhindern, so erklärt es sich ja von selbst, zumindest Partei zu ergreifen. Schließlich gilt es ja, die Bürger vor Schaden zu bewahren -- oder nicht?

C) Lösung

Das VG in Y hat die Berufung laut Sachverhalt nicht zugelassen, vgl. §§ 124 II Nr. 3 u. 4, 124a I VwGO.

Gegen diese Entscheidung des VG sieht das Gesetz keine Rechtsmittel vor. Es kann nicht zur Zulassung gezwungen werden.

hemmer-Methode: Die Zulassung durch das VG wird kaum einmal Gegenstand einer Klausur im Ersten Staatsexamen sein: Entweder hat das VG die Berufung zugelassen oder eben nicht. Lässt das VG die Berufung zu, ist die nächste Instanz daran gebunden, § 124a I S. 2 VwGO.1 Zu einer „Nichtzulassung" im Sinne einer ausdrücklichen Entscheidung im Tenor ist das VG allerdings nicht berechtigt, vgl. § 124a I S. 3 VwGO.

Anders die Klausurrelevanz im Zweiten Staatsexamen: Hier kann die Zulassung nach § 124a I VwGO im Rahmen der vollständigen Fertigung eines Urteils durchaus einmal abgefragt werden.

Soweit das VG die Berufung nicht zugelassen hat, muss die Stadt Y deshalb die Zulassung durch den VGH K beantragen.

I. Zulassung der Berufung

Der VGH müsste die Berufung zulassen, wenn ein Zulassungsantrag zulässig und begründet wäre.

1. Zulässigkeit eines Zulassungsantrags

Da das VG die Berufung gerade nicht zugelassen hat, ist ein Zulassungsantrag nach § 124a IV S. 1 VwGO statthaft.

a) Antragsberechtigung

Die Stadt Y ist als Beteiligter des Ausgangsverfahrens i.S.d. § 63 VwGO antragsberechtigt.

b) Antragsbefugnis - Beschwer

Die Gemeinde ist als Beklagte des Ausgangsverfahrens, die vom VG auf Unterlassung verurteilt wurde, auch formell beschwert, da das VG in seinem Urteil hinter dem Antrag der Gemeinde zurückblieb.

c) Antragsbefugnis - Beschwer

Der Zulassungsantrag müsste fristgerecht gestellt werden.

Nach § 124a IV S. 1 VwGO muss der Antrag auf Zulassung der Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Verwaltungsgericht gestellt werden.2

Das Urteil wurde der Stadt Y am 05. Februar 2013 zugestellt. Die Berechnung der Frist richtet sich nach § 57 II VwGO, § 222 I ZPO, §§ 187 I, 188 II BGB. Die Frist beginnt somit am 06. Februar und endet am 05. März 2013.

Der Antrag müsste also bis zum Ablauf des 05. März 2013 gestellt werden.

d) Form

Der Antrag müsste der vorgeschriebenen Form entsprechen.

Die Formanforderungen ergeben sich aus § 124a IV S. 2 - 4 VwGO. Der Antrag muss gem. § 124a IV S. 2 VwGO beim Verwaltungsgericht gestellt werden.3 Die Berufungszulassungsgründe müssen innerhalb der Frist des § 124a IV S. 4 VwGO abschließend dargelegt werden, d.h. dass die geltend gemachten Zulassungsgründe genau bezeichnet und erläutert werden müssen. Die Begründung ist an das VGH K zu richten, wenn sie nicht schon mit dem Antrag eingereicht wurden, § 124a IV S. 5 VwGO.

Für den Zulassungsantrag besteht gem. § 67 IV S. 2 VwGO Anwaltszwang, auch wenn der Antrag an das VG gestellt wird. Nach § 67 IV S. 4 VwGO kann die Gemeinde sich dabei außer durch einen Anwalt auch durch einen Angestellten bzw. Beamten mit Befähigung zum Richteramt vertreten lassen.

e) Zwischenergebnis

Der Antrag könnte noch zulässig gestellt werden.

2. Begründetheit des Zulassungsantrags

Der Antrag wäre auch begründet, wenn tatsächlich einer der Zulassungsgründe des § 124 II VwGO dargelegt ist und vorliegt, § 124a V S. 2 VwGO. In diesem Fall ist die Berufung durch Beschluss des VGH zuzulassen, § 124a V S. 1 VwGO.

Anmerkung: Dem Gericht steht bei seiner Entscheidung kein Ermessen oder Beurteilungsspielraum zu, sodass ggf. eine Zulassungspflicht besteht, wenn einer der Zulassungsgründe aus § 124 II VwGO dargelegt ist und vorliegt, vgl. § 124a V S. 2 VwGO.

Ein in der Praxis wichtiger Punkt ist dabei, dass anders als sonst keine „Zufallstreffer" möglich sind. Es genügt gerade nicht, dass ein Zulassungsgrund vorliegt, sondern er muss gerade in der Begründung des Zulassungsantrags auch dargelegt sein. Klausurrelevanz wird hierbei wohl nur § 124 II Nr. 1, 2 und eventuell Nr. 5 VwGO zukommen. Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache i.S.d. Nr. 3 dürfte ebenso wenig abgeprüft werden wie die Divergenz nach Nr. 4.

a) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils, § 124 II Nr. 1 VwGO

Es könnten ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des VG X bestehen.

Solche ernstliche Zweifel an der Richtigkeit bestehen dann, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden. Demgegenüber muss der Erfolg des Rechtsmittels nicht wahrscheinlicher sein als der Misserfolg.4

hemmer-Methode: Die Gegenansicht stellt darauf ob, ob nach summarischer Überprüfung gewichtige Gesichtspunkte dafür sprechen, dass der Rechtsstreit im Hinblick auf die Zulässigkeit oder Begründetheit der Klage wahrscheinlich anders als durch die Vorinstanz zu beurteilen ist.5 Die Zweifel müssen also am Ergebnis des Urteils und nicht nur an der Begründung bestehen.6

Folge des Ansatzes ist, dass die Erfolgsaussichten der Klage 1. Instanz inzident im Rahmen des § 124 II Nr. 1 VwGO zu prüfen wären.

Dies bedeutet eine extreme „Kopflastigkeit" der Klausur hinsichtlich des Aufbaus, da innerhalb der eigentlichen Begründetheit der Berufung meist nur noch ein „siehe oben" angebracht ist. Gerade Musterlösungen zum Bayerischen Examen favorisieren aber diesen Aufbau.

Die eigentliche Berufung darf im Zulassungsverfahren aber nicht vorweggenommen werden, da gegen eine Nichtzulassung keine weiteren Rechtsmittel bestehen, vgl. § 124a IV S. 4 VwGO, während gegen eine Abweisung der Berufung als unbegründet immer noch die Revision bzw. Nichtzulassungsbeschwerde möglich ist. Eine Vorwegnahme der Berufung im Zulassungsverfahren ist deshalb insbesondere im Hinblick auf Art. 19 IV GG bedenklich, sodass es für eine Zulassung nach § 124 II Nr. 1 VwGO genügen muss, wenn ein tragender Grund der Entscheidung in Frage gestellt ist.7

Hier beruht das angefochtene Urteil des VG darauf, dass dieses die Äußerungen des Bürgermeisters als rechtswidrig angesehen hat.

Äußerungsrecht des Bürgermeisters

Da durch die Äußerungen in die Rechte der X-Partei aus Art. 21, 8 I GG eingegriffen wird -- die Äußerungen zielen gerade darauf ab, die Kundgebung der X-Partei durch eine Gegendemonstration zu beeinträchtigen und beschränken damit jedenfalls indirekt die Versammlungsfreiheit der X-Partei sowie deren Recht auf Teilhabe an der politischen Willensbildung der Bevölkerung --, kommt es maßgeblich darauf an, ob dem Bürgermeister zur Rechtfertigung des Eingriffs ein Äußerungsrecht zusteht.

Äußerungsrecht aus Art. 5 I S. 1 GG

Ein solches Äußerungsrecht steht dem Bürgermeister jedenfalls nicht aus Art. 5 I S. 1 GG zu, da er in seiner Funktion als Bürgermeister und nicht als Privatperson handelte. Die Grundrechte sind aber gerade Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat und keine Rechte für den Staat. Grundrechtsberechtigter und --verpflichteter sollen grundsätzlich nicht zusammenfallen.

Äußerungsrecht aus versammlungsrechtlichen Befugnissen

Der Oberbürgermeister hatte hier in Bezug auf alle damals angemeldeten Versammlungen als allgemeine Ordnungsbehörde und damit als im Einzelfall weisungsgebundener Beamter die Aufgaben der Versammlungsbehörde wahrzunehmen, vgl. §§ 14, 15 VersammlG,8 § 4 II, III HGO, §§ 85 I S. 1 Nr. 4, S. 2, 89 I S. 1, II S. 1 HSOG, § 1 S. 1 Nr. 2 HSOG-DVO, sodass ihm ein Äußerungsrecht aus diesen Befugnissen zustehen könnte.

Insoweit könnte in der Äußerung eine „Minusmaßnahme" gegenüber einem Verbot nach § 15 I VersammlG liegen. Allerdings lagen laut Sachverhalt die Voraussetzungen für ein Versammlungsverbot überhaupt nicht vor, da das vor der Äußerung ausgesprochene Verbot der Versammlung offensichtlich rechtswidrig war und deshalb auch der Eilantrag der Partei erfolgreich war. Aus diesem Grund können die Äußerungen auch nicht auf § 15 I VersammlG gestützt werden.

Äußerungsrecht aus kommunalem Selbstverwaltungsrecht?

Ein Recht des Bürgermeisters zur Äußerung kann daher nur aus dem kommunalen Selbstverwaltungsrecht aus Art. 28 II GG folgen. Danach steht es den Gemeinden zu, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln.9

Hier ist bereits fraglich, ob Äußerungen zu einer politischen Partei tatsächlich zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft gehören, da solche Äußerungen gerade überörtliche Fragestellungen betreffen.

Neutralitätsgebot

Wenn ein Bürgermeister sich zu politischen Parteien äußert, muss er jedenfalls dem aus Art. 21 I GG resultierenden Neutralitätsgebot gerecht werden.

Staatlichen Stellen ist es wegen des Rechts politischer Parteien auf Chancengleichheit jedenfalls untersagt, eine nicht verbotene politische Partei in der Öffentlichkeit nachhaltig verfassungswidriger Zielsetzung und Betätigung zu verdächtigen, wenn ein solches Vorgehen bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass es auf sachfremden Erwägungen beruht.10

Im vorliegenden Fall war der Aufruf zur Teilnahme an der Gegendemonstration auf der Internetseite der Stadt Y veröffentlicht worden. Insbesondere war ausschließlich der Oberbürgermeister als Urheber des Aufrufs kenntlich gemacht.

Er hat damit in seiner Funktion als Bürgermeister eindeutig Stellung bezogen gegen die Partei X. In Ansehung seiner Stellung im rechtlichen Gefüge ist aber von ihm zu erwarten, dass er sich sensibel und möglichst neutral bei Ausfüllung seiner Amtspflichten verhält, u.a. im Hinblick auf den Minderheitenschutz, da er als direkt gewählter Bürgermeister die Mehrheit der Bürger hinter sich weiß.

Mit Rücksicht auf seine Amtspflichten in dieser Auftragsangelegenheit (siehe Normenkette oben) hätte der Oberbürgermeister sich mäßigen und jeglicher politischen Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit enthalten müssen, um keine Zweifel an seiner Unparteilichkeit als Versammlungsbehörde aufkommen zu lassen.11

Er hat somit gegen die ihm gerade als Versammlungsbehörde obliegende Neutralitätspflicht verstoßen.12

Anmerkung: Anders in einem Fall aus Berlin. Dort hatten der Bezirksverordnetenvorsteher und der Bezirksbürgermeister öffentlich im Internet zu einer Gegendemonstration aufgerufen.

Hierin sah das VG Berlin keinen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot. Die Beklagte und ihre Amtsträger haben die ihnen kraft Amtes gegebenen Einflussmöglichkeiten nicht in einer Weise genutzt, die mit ihren der Allgemeinheit verpflichteten Aufgaben unvereinbar wären. Diese haben nur als kommunale Amtsträger gehandelt, die hier keinem gesteigerten Neutralitätsgebot unterliegen, weil sie etwa gleichzeitig die Aufgaben der Versammlungsbehörde wahrzunehmen haben. Die staatliche Aufgabe der Versammlungsbehörde ist im Land Berlin dem Polizeipräsidenten zugewiesen. Ein besonderer Anlass zur Mäßigung, um keine Zweifel an der Unparteilichkeit als Versammlungsbehörde aufkommen zu lassen, bestand deshalb vorliegend nicht. Zwar handeln sowohl die Bezirksverordnetenversammlung und das Bezirksamt als auch der Polizeipräsident für den Beklagten, für Außenstehende sind sie jedoch in ihrem Handeln deutlich unterscheidbar und damit jeweils gesondert zu betrachten.13

Das VG Saarlouis sieht keine Verletzung des Neutralitätsgebots darin, dass ein Bürgermeister öffentlich die Forderung nach einem NPD-Verbot stellt, jedenfalls dann nicht, wenn die NPD bzw. ihre Untergliederungen in der Vergangenheit gemeindliche Einrichtungen der in Rede stehenden Stadt zur Durchführung von Parteiveranstaltungen genutzt haben und im Rahmen einer solchen Veranstaltung eine volksverhetzende Rede gehalten wurde.14

b) Zwischenergebnis

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils sind damit nicht begründet. Weitere Zulassungsgründe nach § 124 II VwGO sind nicht ersichtlich.

II. Endergebnis

Ein Antrag der Stadt Y auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, da kein Zulassungsgrund i.S.d. § 124 II VwGO gegeben ist.

Anmerkung: Die Entscheidung des Gerichts ergeht durch Beschluss. Dieser ist unanfechtbar, vgl. § 124a V S. 4 VwGO. Die Gemeinde kann damit allenfalls noch Verfassungsbeschwerde erheben. Eine Beschwerde zum BVerfG ist dabei nicht möglich, da Art. 93 I Nr. 4b GG eine solche Kommunalverfassungsbeschwerde nur bei Gesetzen zulässt. Deshalb kommt nur -- soweit vorgesehen -- eine Verfassungsbeschwerde zum Landesverfassungsgericht in Betracht.

Soweit man zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Zulassungsantrag erfolgreich sein wird, ist anschließend noch die Zulässigkeit und Begründetheit der eigentlichen Berufung zu prüfen. Da das Zulassungsverfahren in diesem Fall nach § 124a V S. 5 VwGO automatisch als Berufungsverfahren fortgesetzt wird, ist für die Zulässigkeit nur auf die fristgerechte Begründung nach § 124a VI VwGO zu achten. In der Begründetheit der Berufung prüft das Berufungsgericht nach § 128 VwGO die Klage vollumfänglich erneut auf ihre Erfolgsaussichten. Je nach Intensität der Erörterungen im Rahmen des § 124 II Nr. 1 VwGO, s.o., bedeutet dies aber nicht mehr als ein Verweis nach oben auf das Zulassungsverfahren.

D) Kommentar

(mg). Die Entscheidung betrifft eine Problematik, die immer wieder Gegenstand von Gerichtsentscheidungen, aber auch Klausuren ist: Wieweit darf sich die öffentliche Hand negativ über Private, insbesondere über Parteien oder über Religionsgemeinschaften, äußern?

In beiden Fällen ist äußerste Zurückhaltung geboten. Zwar müssen sich Parteien entsprechend ihrer Aufgabe, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, Art. 21 I GG, der öffentlichen Auseinandersetzung stellen und insoweit auch mit negativen Bewertungen und im Rahmen von Versammlungen mit Gegenkundgebungen „leben können". Gegner in dieser politischen Auseinandersetzung sollten aber gerade andere politische Parteien und nicht die öffentliche Hand sein, die gerade mit ihrer Amtsautorität gegen eine Partei vorgeht.

Im Originalfall berief sich die Stadt auch auf einen Beschluss des OVG Berlin-Brandenburg vom 14. September 2012.15 Dort hatte die Stadt Potsdam, das Bündnis „Potsdam bekennt Farbe" und andere Unterzeichner zum Protest gegen einen NPD-Aufmarsch aufgerufen. Der Aufruf auf der Internetseite der Stadt sowie seine Aufmachung und seine Formulierung ließen ihn für einen objektiven Betrachter aber nicht als eine amtliche Äußerung der Stadt erkennen. Es handele sich um einen gemeinsamen Aufruf im Rahmen der Aktion des Bündnisses „Potsdam bekennt Farbe". Eine Urheberschaft der Stadt ergebe sich hieraus nicht ohne weiteres.

Vorliegend war aber ausschließlich der Oberbürgermeister als Urheber des Aufrufs kenntlich gemacht. Dies ist mit Blick auf das Neutralitätsgebot ungleich problematischer (s.o.).

Auch eine Entscheidung des VG Stuttgart vom 13. April 201116 wurde vorgebracht. In der Entscheidung ging es um einen Aufruf von Gemeinderat und Stadtverwaltung gegen eine Demonstration unter dem als friedensstörend angesehenen Motto „Fremdarbeiterinvasion stoppen".

Vorliegend rief aber zum einen der Bürgermeister als Versammlungsbehörde zur Teilnahme an einer Gegendemonstration auf, zum anderen war die Versammlung unter dem Motto „Wir wollen nicht der Zahlmeister Europas sein -- Raus aus dem Euro" angemeldet, das sicher als nicht fremdenfeindlich und als nicht friedensstörend anzusehen ist.

E) Zur Vertiefung

  • Zur Berufung nach §§ 124 ff. VwGO

Hemmer/Wüst, Verwaltungsrecht III, Rn. 290 ff.

F) Wiederholungsfrage

  1. Was spricht gegen eine umfassende Prüfung der erstinstanzlichen Entscheidung i.R.d. § 124 II Nr. 1 VwGO?

  1. Dies gilt auch im Fall der rechtswidrigen Zulassung, vgl. BVerwG, BayVBl. 2005, 283 BayVGH, BayVBl. 2005, 276

  2. Die Frist läuft für jeden Beteiligten gesondert.

  3. Der Eingang des Zulassungsantrags beim OVG/VGH wirkt nicht fristwahrend.

  4. BVerfG, NJW 2010, 1062 = Life & Law 8/2010

  5. VGH Mannheim, NVwZ 1997, 1230; 1998, 865; Bader, NJW 1998, 409 (411) vgl. auch VGH Kassel, NVwZ 2000, 85

  6. OVG Münster, NVwZ 1998, 759

  7. BVerfG, NJW 2010, 1062 = Life & Law 8/2010 , Hemmer/Wüst, Verwaltungsrecht III, Rn. 297.

  8. In Hessen gilt noch das Versammlungsgesetz des Bundes, da das Land bisher noch nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, ein eigenes Versammlungsgesetz zu erlassen, vgl. Art. 125a I GG.

  9. Zu diesem Problemkreis BayVGH, NVwZ 1995, 502 sowie BayVerfGH, NVwZ 1996, 785 und 1998, 391

  10. BVerfG, Beschluss vom 20.02.2013, 2 BvE 11/12 = Life & Law 7/2013

  11. In der Originalentscheidung brachte die Stadt Y vor, wegen der direkten Wahl des Oberbürgermeisters bestehe für ihn als Gemeindeorgan im Aufgabenbereich des Versammlungswesens nur eine eingeschränkte Neutralitätspflicht. Dieses Vorbringen ist aber aus denselben Gründen abzulehnen. Als Bürgermeister ist er nicht nur seinen direkten Wählern gegenüber verpflichtet, sondern allen Bürgern der Stadt, weshalb von ihm zu Recht Unparteilichkeit in solchen Angelegenheiten verlangt werden kann.

  12. So auch VG Gera, Beschluss vom 06.07.2010 -- 2 E 465/10 : Ein Verstoß gegen das Neutralitätsgebot liegt u.a. vor, weil die Anmeldebehörde für die Versammlung gleichzeitig auch zur Gegendemonstration aufgerufen hat.

  13. Vgl. VG Berlin, Urteil vom 23.09.2013 -- VG 1 K 280.12

  14. VG Saarlouis, Beschluss vom 27.01.2014, 3 L 40/14

  15. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14.09.2012 -- OVG 1 S 127.12

  16. VG Stuttgart, Beschluss vom 13.04.2011 -- 7 K 602/11