Rechtsprechungsübersicht Öffentliches Recht (7)

BVerfG, Beschluss vom 06.12.2013 -- 2 BvQ 55/13

von Life and Law am 01.01.2014

+++ Koalitionsvereinbarung +++ Mitgliederentscheid +++ Freies Mandat +++

Sachverhalt: Nach der Bundestagswahl 2014 trat die SPD mit der Union in Koalitionsverhandlungen ein. Dies geschah von Anfang an unter dem Vorbehalt, dass das Ergebnis dieser Verhandlungen noch durch einen Mitgliederentscheid innerhalb der SPD bestätigt werden muss. Gegen diesen Mitgliederentscheid beantragte der wahlberechtigte B eine einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG.

Ist dieser Antrag erfolgreich?

Lösung:

Nach § 32 I BVerfGG kann das BVerfG im Streitfall - auch schon vor Anhängigkeit eines Verfahrens zur Hauptsache - einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat jedoch keinen Erfolg, wenn der Antrag in der Hauptsache unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre.

In der Hauptsache wäre hier eine Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 I Nr. 4a GG zu erheben. Diese ist nach Ansicht des BVerfG aber bereits unzulässig, da der Koalitionsvertrag und der diesen vorbereitende Mitgliederentscheid keinen Akt öffentlicher Gewalt darstellen:

Nach Art. 21 I S. 1 GG wirken die Parteien zwar bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Sie erfüllen damit eine ihnen nach dem Grundgesetz obliegende und von ihm verbürgte öffentliche Aufgabe, vgl. § 1 I ParteiG. Mit der Durchführung einer Abstimmung über einen Koalitionsvertrag unter ihren Mitgliedern in Erfüllung dieser öffentlichen Aufgabe übt die SPD jedoch nicht zugleich auch öffentliche Gewalt im Sinne von Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG aus. Öffentliche Gewalt ist vornehmlich der Staat in seiner Einheit, repräsentiert durch irgendein Organ. Jedenfalls der Abschluss einer Koalitionsvereinbarung zwischen - im Übrigen grundrechtsberechtigten - politischen Parteien und die dem vorangehende oder nachfolgende parteiinterne Willensbildung wirken nicht unmittelbar und dergestalt in die staatliche Sphäre hinein, dass sie als - auch in einem weit verstandenen Sinn - staatliches Handeln qualifiziert werden könnten. Wenn aber schon der Koalitionsvertrag selbst nicht als Akt öffentlicher Gewalt zu bewerten ist, muss das umso mehr für den vorbereitenden Akt eines Mitgliederentscheides gelten.

Darüber hinaus sieht das BVerfG auch keinen Eingriff in das freie Mandat des Abgeordneten, da nicht zu erkennen ist, wie der Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag einen auch nur faktischen Zwang ausüben soll, der über die übliche, verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Koalitionsdisziplin hinausgeht.

Die politische Einbindung des Abgeordneten in Partei und Fraktion in Bund und Ländern ist verfassungsrechtlich erlaubt und gewollt: Das Grundgesetz weist den Parteien eine besondere Rolle im Prozess der politischen Willensbildung zu, weil ohne die Formung des politischen Prozesses durch geeignete freie Organisationen eine stabile Demokratie in großen Gemeinschaften nicht gelingen kann. Die von Abgeordneten - in Ausübung des freien Mandats - gebildeten Fraktionen sind im Zeichen der Entwicklung zur Parteiendemokratie notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens und maßgebliche Faktoren der politischen Willensbildung.

Im organisatorischen Zusammenschluss geht die Freiheit und Gleichheit des Abgeordneten jedoch nicht verloren. Sie bleibt innerhalb der Fraktion bei Abstimmungen und bei einzelnen Abweichungen von der Fraktionsdisziplin erhalten. Eine Verletzung des Art. 38 I GG liegt erst dann vor, wenn sich der Abgeordnete nicht mehr freiwillig der Fraktionsdisziplin unterwirft, sondern wenn er hierzu gezwungen wird. Es ist nicht ersichtlich, wie der Abgeordnete im Bundestag bspw. bei der Kanzlerwahl gezwungen sein soll, sich an den Mitgliederentscheid zu halten. Er kann weiterhin frei abstimmen.

hemmer-Methode: Die Entscheidung des BVerfG ist zwingend. Jedes andere Ergebnis wäre absurd gewesen. Warum soll ein Koalitionsvertrag, der durch einen Mitgliederentscheid bestätigt wird, im Hinblick auf Art. 38 I S. 2 GG fragwürdiger sein als einer, der nur durch das Parteipräsidium oder eine Parteikonferenz abgesegnet wird? Warum soll ein Mehr an innerparteilicher Demokratie hier zu einer Verletzung des Art. 38 I GG führen? Es bleibt dem einzelnen Abgeordneten unbenommen, bspw. in der geheimen Wahl des Bundeskanzlers von dem Mitgliederentscheid abzuweichen.

Ein weiterer Vorwurf in Richtung der SPD war, dass durch den Mitgliederentscheid die Mitglieder der SPD zweimal an der demokratischen Willensbildung teilhaben, während der normale Wähler auf seine beiden „Kreuze" am Wahltag beschränkt ist. Aber auch hierin liegt kein Eingriff in Art. 38 I S. 1 GG. Es kommt nicht zu einer Verdoppelung des Stimmgewichts des SPD-Mitglieds. Dieses kann nur an einer innerparteilichen Willensbildung teilhaben, was aber in der Natur seiner Parteimitgliedschaft liegt. Dies könnte jeder andere Wähler auch, der das Engagement aufbringt und einer Partei beitritt. Dieses Recht steht auch jedem Mitglied einer anderen Partei zu, die bspw. im Vorfeld einer Wahl auf Parteiversammlungen Spitzenkandidaten aufstellt. Während der „normale" Wähler nur noch diesen Kandidaten (indirekt) wählen kann, kann das Parteimitglied auch an der Auswahl des Kandidaten mitwirken. Hierin liegt aber kein staatlicher Eingriff in das Stimmgewicht des Einzelnen unmittelbar bei der Bundestagswahl.