Rechtsprechungsübersicht Öffentliches Recht (6)

OVG Lüneburg, Beschluss vom 08.11.2013 -- 11 OB 263/13

von Life and Law am 01.02.2014

+++ Verwaltungsrechtsweg, § 40 I VwGO +++ doppelfunktionale Maßnahme der Polizei +++

Sachverhalt (vereinfacht): Am 2. Juni 2013 fanden in Hamburg die rechtsgerichtete Versammlung „Tag der deutschen Zukunft" sowie Gegenveranstaltungen statt. A befand sich im Anschluss daran zusammen mit 40 anderen linken Versammlungsteilnehmern auf der Rückreise von einer Gegenveranstaltung. Als sich die Gruppe hierbei auf dem Bahnsteig des Bahnhofs Uelzen aufhielt, erschienen Beamte der Bundespolizei und führten an den Anwesenden -- einschließlich der A -- eine Feststellung der Personalien sowie eine erkennungsdienstliche Behandlung in Form des individuellen Abfilmens der Personen durch. Hierbei teilten die Beamten der Gruppe über Megaphon mehrfach mit, dass durch die Maßnahmen der oder die Täter eines Flaschenwurfs und weiterer Straftaten in Hamburg festgestellt und zudem vor dem Hintergrund der Gefahr des erneuten Aufeinandertreffens der linken und rechten Versammlungsteilnehmer und weiterer zu erwartender Straftaten diese verhindert werden sollten. Darüber hinaus erteilten die Beamten den Anwesenden befristete Platzverweise für den Bahnhof Uelzen, um im Bahnhof eine Nachsuche nach möglicherweise dort verbliebenen rechtsradikalen Versammlungsteilnehmern vornehmen zu können. Die von A zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Personalienaufnahme und des Abfilmens erhobene Klage verwies das angerufene Verwaltungsgericht wegen fehlender Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs an das Amtsgericht.

Geschah dies zu Recht? Auf § 163b StPO sowie § 23 BPolG wird hingewiesen.

Lösung: Zu untersuchen ist, ob im vorliegenden Fall der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist. Der Verwaltungsrechtsweg ist gegeben, wenn eine aufdrängende Sonderzuweisung den Rechtsstreit zur Verwaltungsgerichtsbarkeit zuweist oder die Voraussetzungen des § 40 I S. 1 VwGO erfüllt sind.

I. Aufdrängende Sonderzuweisung

Eine aufdrängende Sonderzuweisung ist für den vorliegenden Fall nicht ersichtlich.

II. Generalklausel, § 40 I S. 1 VwGO

Nach § 40 I S. 1 VwGO ist der Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind.

1. Öffentlich-rechtliche Streitigkeit

Es müsste sich bei der Klage der A zunächst um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit handeln. Ob eine Streitigkeit öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Natur ist, richtet sich nach den streitentscheidenden Normen. Diese sind nach der modifizierten Subjektstheorie öffentlich-rechtlicher Natur, wenn durch sie zumindest auf der einen Seite ausschließlich ein Hoheitsträger als solcher berechtigt oder verpflichtet wird. Vorliegend kommen als Rechtsgrundlage für die Maßnahmen der Bundespolizei-Beamten sowohl § 163b StPO als auch § 23 I Nr. 1 BPolG in Betracht. Beide Normen erteilen ausschließlich der Polizei, also einem Hoheitsträger, die Befugnis zur Vornahme der genannten Maßnahmen und stellen daher Normen des Öffentlichen Rechts dar. Mithin liegt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vor.

2. Nichtverfassungsrechtliche Streitigkeit

Die Streitigkeit müsste darüber hinaus nichtverfassungsrechtlicher Art sein. Eine Streitigkeit ist insbesondere verfassungsrechtlicher Art in diesem Sinne, wenn eine sog. „doppelte Verfassungsunmittelbarkeit" gegeben ist, wenn also zwei unmittelbar am Verfassungsleben Beteiligte über Rechte und Pflichten streiten, die unmittelbar in der Verfassung geregelt sind. Vorliegend sind weder A noch der beklagte Rechtsträger am Verfassungsleben beteiligt.

3. Keine abdrängende Sonderzuweisung

Schließlich dürfte keine abdrängende Sonderzuweisung einschlägig sein, der Rechtsstreit dürfte also nicht durch Bundesgesetz ausdrücklich einem anderen Gericht zugewiesen sein. Insofern kommt vorliegend die Zuweisung zu den ordentlichen Gerichten nach § 23 I S. 1 EGGVG in Betracht; bei den von A beanstandeten Maßnahmen könnte es sich um solche der Justizbehörden auf dem Gebiet der Strafrechtspflege handeln. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Polizei grundsätzlich mit zwei verschiedenen Zielrichtungen vorgehen kann. Wird sie zur Gefahrenabwehr (präventiv) tätig, so ist für eine Überprüfung der entsprechenden Maßnahme der Verwaltungsrechtsweg gegeben. Handelt es sich dagegen um (repressive) Strafverfolgungsmaßnahmen der Polizei, die sich als Justizverwaltungsakte darstellen, so sind für deren Überprüfung nach § 23 I EGGVG bzw. § 98 II S. 2 StPO analog die Strafgerichte zuständig.

Vorliegend könnten die streitgegenständlichen Maßnahmen der Bundespolizei sowohl auf § 163b StPO basieren und damit der Strafverfolgung gedient haben, als auch nach § 23 I BPolG mit präventivem Charakter im Rahmen der Gefahrenabwehr erfolgt sein. Die Maßnahmen lassen sich nicht ohne weiteres einem dieser Bereiche zuordnen; es handelt sich daher um sogenannte doppelfunktionale Maßnahmen der Polizei. Bei einer solchen ist der Rechtsweg danach zu bestimmen, ob der Grund oder das Ziel des polizeilichen Einschreitens und gegebenenfalls dessen Schwerpunkt der Gefahrenabwehr oder der Strafverfolgung dienten. Maßgeblich ist insoweit, wie sich der konkrete Sachverhalt einem verständigen Bürger in der Lage des Betroffenen bei natürlicher Betrachtungsweise darstellt. Dabei muss der Sachverhalt im Allgemeinen einheitlich betrachtet werden, es sei denn, dass einzelne Teile des Geschehensablaufs objektiv abtrennbar sind. Hat die Polizei die Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft oder das Amtsgericht weitergeleitet oder auf Anweisung der Staatsanwaltschaft gehandelt, so kann an der strafprozessualen Natur ihres Einschreitens kein vernünftiger Zweifel bestehen. Auch ist eine Maßnahme, die nach dem Gesamteindruck darauf gerichtet ist, eine strafbare Handlung zu erforschen oder sonst zu verfolgen, der Kontrolle der ordentlichen Gerichte nach §§ 23 ff. EGGVG nicht etwa deshalb entzogen, weil durch die polizeilichen Ermittlungen möglicherweise zugleich auch künftigen Verletzungen der öffentlichen Sicherheit vorgebeugt wurde.

Im vorliegenden Fall lässt sich nach diesen Kriterien nicht eindeutig bestimmen, ob die Bundespolizei repressiv oder präventiv tätig geworden ist. Die durchgeführten Maßnahmen dienten beiden Zielen, nämlich einerseits der Verfolgung der bei den Demonstrationen in Hamburg begangenen Straftaten, andererseits aber auch der Abwehr der Gefahr, dass die rechten und linken Versammlungsteilnehmer erneut aufeinandertreffen und weitere Straftaten begangen werden könnten. Aus der Sicht von A war bei verständiger Würdigung des Sachverhalts auch nicht eindeutig erkennbar, in welchem dieser Bereiche der Schwerpunkt des polizeilichen Handelns lag. Es liegen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass die vor Ort anwesenden Polizeibeamten gegenüber A den Eindruck vermittelt haben, die Durchführung der polizeilich angeordneten Maßnahmen diene allein oder vorrangig Zwecken der Strafverfolgung. Auch wurde gegen A im Nachgang kein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet. Des Weiteren lässt sich nicht feststellen, dass aus objektiver Sicht nach Abfahrt der rechten Versammlungsteilnehmer ein präventiv-polizeilicher Zweck der Maßnahme nicht mehr in Betracht kommen konnte. In diesem Zusammenhang ist das Augenmerk auf die Platzverweise zu richten, die an A und die anderen erteilt wurden, um die Nachsuche nach rechtsradikalen Demonstranten zu ermöglichen. Die von A beanstandete Identitätsfeststellung diente unter anderem zur Gewährleistung der Einhaltung dieser Platzverweise und stand somit (auch) in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Maßnahme zur Gefahrenabwehr. Es lässt sich daher jedenfalls nicht feststellen, dass aus Sicht der A eindeutig die Strafverfolgung als Zweck der Maßnahmen im Vordergrund stand.

In einem solchen Fall, in dem der Grund für das polizeiliche Einschreiten bzw. dessen Schwerpunkt nach objektiver Betrachtung für den Betroffenen nicht zweifelsfrei zu erkennen ist, und in dem für die polizeiliche Maßnahme (zumindest auch) eine präventiv-polizeiliche Rechtsgrundlage in Betracht kommt, darf aber dem Betroffenen nicht der Weg zu den Verwaltungsgerichten verwehrt werden. Vorliegend ist daher die abdrängende Sonderzuweisung des § 23 I S. 1 EGGVG nicht einschlägig.

III. Ergebnis

Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet. Das Verwaltungsgericht hat den Rechtsstreit zu Unrecht an das Amtsgericht verwiesen. Es hat diesen nach § 17 II S. 1 GVG unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden, wobei sich die Prüfung auch auf rechtliche Gesichtspunkte bezieht, für die an sich ein anderer Rechtsweg gegeben wäre.

hemmer-Methode: Solange repressive Zwecke nicht eindeutig im Vordergrund standen, ist damit grds. der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Dies überzeugt, da so der Kläger dann in Grenzfällen von den verfahrensrechtlichen Vorteilen eines Verwaltungsprozesses (etwa: Untersuchungsgrundsatz, vgl. § 86 I VwGO) profitieren kann. Allerdings sollte nicht allzu schnell ein solcher Grenzfall angenommen werden.