Nichtraucherschutz in JVA -- erst nicht möglich und dann doch ...

BVerfG, Beschluss vom 20.03.2013, 2 BvR 67/11 = NJW 2013, 1943

von Life and Law am 01.10.2013

+++ Verfassungsbeschwerde +++ Rechtsschutzbedürfnis bei Erledigung +++ Körperliche Unversehrtheit, Art. 2 II S. 1 GG +++ Effektivität des Rechtsschutzes, Art. 19 IV GG +++

Sachverhalt (abgewandelt): A war Strafgefangener in der JVA in der Stadt Werl. Wegen anhaltender Probleme mit den dortigen Mitgefangenen wurde er auf eigenen Wunsch in die JVA nach Aachen verlegt. Nachdem er in Werl einen Einzelhaftraum bewohnt hatte, wurde er am 13.04.2010 in Aachen in einem Raum mit drei Mitgefangenen untergebracht, von denen einer starker Raucher war.

Einen Tag später stellte A bei der Gefängnisleitung einen Antrag, ihn in eine Einzelzelle zu verlegen. Er berief sich auf den „lückenlosen Nichtraucherschutz in öffentlichen Gebäuden in NRW und der ganzen Bundesrepublik", der nicht zuletzt „verfassungsrechtlich zwingend" sei. Die JVA lehnte seinen Antrag mit Bescheid vom selben Tag ab. A sei auf eigenen Wunsch nach Aachen verlegt worden. Er sei im Vorfeld der Verlegung darauf aufmerksam gemacht worden, dass eine Einzelunterbringung nicht zeitnah umgesetzt werden könne. Es sei daher widersprüchlich, dass er sich nun gegen die Unterbringung in einem Mehrpersonenzimmer wende. Die Zuweisung eines Einzelhaftraums würde auch tatsächlich frühestens erst in einigen Monaten möglich sein.

Mit Schreiben vom 16.04.2010 stellte A einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 109 I StVollzG. Durch die gemeinsame Unterbringung mit einem Raucher sei er schädlichem Passivrauchen ausgesetzt. Hiermit habe er sich zu keinem Zeitpunkt einverstanden erklärt. Das zuständige Landgericht gab der JVA Aachen mit Schreiben vom 10.05.2010 Gelegenheit, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Mit Schreiben vom 14.05.2010 nahm die JVA dahingehend Stellung, dass in der Sache Erledigung eingetreten sei. Der Beschwerdeführer sei seit dem 12.05.2010 allein untergebracht.

A findet es „verdächtig", dass die JVA nach Erhalt des gerichtlichen Schreibens sofort reagiert habe, obwohl ihm noch wenige Wochen zuvor eröffnet worden war, dass die Zuweisung eines Einzelhaftraums geraume Zeit in Anspruch nehmen würde. Vor allem möchte er aber gerichtlich anerkannt wissen, dass die aufgezwungene Situation des Passivrauchens rechtswidrig war. Er stellt daher den Fortsetzungsfeststellungsantrag gemäß § 115 III StVollZG. Sein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme ergebe sich schon daraus, dass die gemeinschaftliche Unterbringung mit einem Raucher in sein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit eingreife und es dafür keine gesetzliche Grundlage gebe.

Das Landgericht verwarf indes mit Beschluss vom 21.09.2010 den Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Ein Feststellungsinteresse bestehe weder aus dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr noch aus dem Aspekt der Vorbereitung von anderen Prozessen zur Durchsetzung von Amtshaftungs- und Schadensersatzansprüchen. Im Übrigen habe sich die Unterbringung mit dem rauchenden Mithäftling für A nicht nachteilig ausgewirkt. A habe jedenfalls nicht dargelegt, welche konkreten Folgen sich für ihn mit Blick auf seine Grundrechte ergeben haben sollen.

Das Oberlandesgericht verwarf mit Beschluss vom 23.11.2010 die Rechtsbeschwerde des A als unzulässig und verwies auf die Begründung des Landgerichts. A ist dennoch der Meinung, dass er in seinem Grundrecht aus Art. 2 II S. 1 GG verletzt worden ist. Auch der „Weigerung der Gerichte, diesen Verstoß ernsthaft zu prüfen", misst er „verfassungsrechtliche Relevanz" bei. A legt daher im Dezember 2010 form- und fristgemäß Verfassungsbeschwerde beim BVerfG ein.

Hat die Verfassungsbeschwerde des A Aussicht auf Erfolg?

A) Sounds

1. Die zwangsweise Unterbringung eines nichtrauchenden Gefangenen mit einem rauchenden Mithäftling greift in das Grundrecht des Nichtrauchers auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 II S. 1 GG ein. Für einen derartigen Eingriff fehlt es schon an einer gesetzlichen Grundlage.

2. Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht bei gewichtigen Grundrechtseingriffen trotz Erledigung insbesondere dann fort, wenn der Betroffene eine Entscheidung vor Erledigung nicht erlangen konnte, weil sich die unmittelbare Belastung durch den Hoheitsakt auf eine kurze Zeitspanne beschränkte.

3. Die sachwidrige Ablehnung der Zulässigkeit einer Klage kann in diesen Fällen eine Verletzung des Gebots effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 IV GG bedeuten.

B) Problemaufriss

Die von Verfechtern und Gegnern eines strikteren Nichtraucherschutzes geführten Diskussionen kumulierten in den letzten Jahren in verschiedenen gesetzlichen Verschärfungen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen den Regelungen auf Bundesebene und auf Ebene der Länder.1 Das Gesetz zum Schutz vor den Gefahren des Passivrauchens vom 20.07.20072 sieht Rauchverbote für Einrichtungen des Bundes und den öffentlichen Personenverkehr vor. Gleichzeitig kam es im Jahr 2007 in allen Bundesländern zur Verabschiedung von Gesetzen zum Nichtraucherschutz. Diese betreffen zum einen öffentliche Gebäude, die in den Kompetenzbereich der Länder fallen. Zum anderen erstrecken sich die Rauchverbote auch auf Gaststätten und Diskotheken, was auf erheblichen Widerspruch bei den betroffenen Gewerbetreibenden und ihren Berufsverbänden stieß, welche die Verletzung des Grundrechts aus Art. 12 GG monierten. Einen Grundrechtsverstoß vermochte das BVerfG allerdings nicht festzustellen und erklärte Rauchverbote für grundsätzlich zulässig.3

Inwieweit bei Gefängnissen als öffentlichen Gebäuden der Nichtraucherschutz der Häftlinge zu beachten ist, wird in der zu besprechenden Entscheidung neben Fragen des Rechtsschutzbedürfnisses bei Erledigung von Hoheitsakten behandelt.

C) Lösung

Die nach Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG an das BVerfG gerichtete Verfassungsbeschwerde des A hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

I. Zulässigkeit

Schema: Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG

1. Beschwerdeberechtigung

Jedermann, § 90 I BVerfGG

a) Beschwerdeberechtigung / Beschwerdefähigkeit / Grundrechtsfähigkeit

b) Verfahrensfähigkeit / Prozessfähigkeit / Grundrechtsmündigkeit

c) Postulationsfähigkeit / Prozessführungsbefugnis

2. Beschwerdegegenstand

Jeder Akt der öffentlichen Gewalt

3. Beschwerdebefugnis

a) Behauptung der Verletzung eines Grundrechts oder grundrechtsähnlichen Rechts

b) Betroffenheit des Beschwerdeführers (selbst, gegenwärtig, unmittelbar)

4. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis

5. Rechtswegerschöpfung

§ 90 II BVerfGG

6. Grundsatz der Subsidiarität

7. Form, §§ 23, 92 BVerfGG

8. Frist, § 93 BVerfGG

1. Beschwerdeberechtigung

Die Beschwerdeberechtigung steht jedermann zu, soweit er Träger von Grundrechten ist im Sinne des § 90 I BVerfGG. A ist als natürliche Person beschwerdeberechtigt.

Anmerkung: Die übrigen Unterpunkte der Beschwerdeberechtigung brauchen Sie bei erwachsenen natürlichen Personen nicht weiter problematisieren.

2. Beschwerdegegenstand

Prüfungsgegenstand ist gemäß § 90 I BVerfGG jeder Akt öffentlicher Gewalt. Der Begriff der öffentlichen Gewalt ist hier weit auszulegen und erfasst jedes Handeln der öffentlichen Gewalt, also Akte der Exekutive, Legislative und auch der Judikative. Die angegriffenen Gerichtsurteile sind also tauglicher Beschwerdegegenstand.

Anmerkung: Da insoweit nicht nur das erstinstanzliche Urteil Verfahrensgegenstand ist, sondern auch alle dieses bestätigenden gerichtlichen Entscheidungen, kann man von einem „einheitlichen Beschwerdegegenstand" sprechen.4 Dieser umfasst auch den ursprünglichen Verwaltungsakt, wie hier die Entscheidung der JVA, den A zunächst nicht in einen Einzelhaftraum zu verlegen.

3. Beschwerdebefugnis

Die Beschwerdebefugnis erfordert, dass A geltend machen können muss, in zumindest einem seiner Grundrechte selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen zu sein.

a) Behauptung der Rechtsverletzung

A kann die Verletzung des Grundrechts der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 II S. 1 GG und des effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 IV GG behaupten.

b) Betroffenheit des Beschwerdeführers

Da sich die Urteile und die ablehnende Entscheidung der JVA an A richten, ist er selbst und unmittelbar betroffen.

Fraglich ist aber die Gegenwärtigkeit der Betroffenheit, da A dem Passivrauchen nach der Verlegung in eine Einzelzelle nicht mehr ausgesetzt ist. Es ist nicht ausreichend, dass die Betroffenheit lediglich einmal in der Vergangenheit vorgelegen hat. Vielmehr muss die angegriffene Maßnahme zum Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde Gültigkeit aufweisen. Hier entfaltet zwar die Entscheidung der JVA vom April 2010 keine Wirkung mehr. Durch die Gerichtsurteile, die die Entscheidung inhaltlich bestätigen, wird A aber zumindest beschwert, weil sie ihm als Unterlegenen des gerichtlichen Verfahrens die Kosten auferlegen.

4. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis

Das Erfordernis der gegenwärtigen Betroffenheit ist im Übrigen nur eine besondere Ausprägung der Zulässigkeitsvoraussetzung eines Rechtsschutzbedürfnisses. Dieses muss grundsätzlich noch im Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG vorliegen und entfällt mit der Erledigung des mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Begehrens.

a) Rechtsschutzbedürfnis nach Erledigung

Unter engen Voraussetzungen kann das Rechtsschutzbedürfnis allerdings auch nach Erledigung bestehen bleiben, unter anderem wenn gewichtige Grundrechtseingriffe geltend gemacht werden und die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt eine Zeitspanne betrifft, in welcher der Betroffene eine Entscheidung des BVerfG nicht herbeiführen konnte.5

hemmer-Methode: Denken Sie vernetzt: Die Fallgruppen des Rechtsschutzbedürfnisses bei einer Verfassungsbeschwerde trotz Erledigung ähneln denjenigen für das Feststellungsinteresse bei der Fortsetzungsfeststellungsklage im Verwaltungsrecht, soweit an eine Wiederholungsgefahr, einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff und sich typischerweise kurzfristig erledigende Verwaltungsakte angeknüpft wird. Zusätzlich spielen im Rahmen des § 113 I S. 4 VwGO ein mögliches Rehabilitationsinteresse und die Vorbereitung eines Amtshaftungsprozesses eine Rolle.6

b) Kontrolle gezielter Erledigungsmaßnahmen

A behauptet die Grundrechtsverletzung insbesondere aus Art. 2 II S. 1 GG für einen Zeitraum, in dem eine Entscheidung des BVerfG gar nicht hätte herbeigeführt werden können.

Eine Kontrolle der Maßnahme war durch die Reaktion der JVA unmöglich geworden, nachdem diese unmittelbar nach Erhalt der Aufforderung des Gerichts zur Stellungnahme den A in eine Einzelzelle verlegte, obwohl sie dies noch kurz zuvor als logistisch unmöglich ablehnte. Es drängt sich der Verdacht auf, dass zur Vermeidung weitergehender gerichtlicher Kontrolle diese Erledigungsmaßnahme gezielt eingesetzt worden sein könnte. Einer derartigen „Strategie der Mängelverwaltung" darf aber nicht zum Erfolg verholfen, sondern muss durch effektiven Rechtsschutz begegnet werden.

Anmerkung: Die vorstehenden Ausführungen des BVerfG zur besonderen Situation in Haftanstalten und dem Rechtsschutzbedürfnis von Gefangenen fügen sich in seine bisherige Rechtsprechung ein. So hat das Gericht entschieden, dass auch nach Beendigung einer Freiheitsentziehung das Rechtsschutzinteresse zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme nicht entfällt, da es anderenfalls an der Möglichkeit fehlen würde, kurzzeitige Freiheitsentziehungen überhaupt gerichtlich überprüfen lassen zu können.7

5. Rechtswegerschöpfung

Nach § 90 II BVerfGG ist vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde der Rechtsweg zu beschreiten. Diesem Erfordernis hat A hier Genüge getan.

6. Grundsatz der Subsidiarität

Über das Gebot der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinaus fordert das BVerfG, dass der Beschwerdeführer auch sonstige prozessuale Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken. Dahingehende Handlungsoptionen standen A nicht zur Verfügung.

7. Form

Die gemäß §§ 23, 92 BVerfGG erforderliche Form hat A sachverhaltsgemäß gewahrt.

8. Frist

Auch die Monatsfrist gemäß § 93 I BVerfGG wurde von A eingehalten.

Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

II. Begründetheit

Die Verfassungsbeschwerde des A ist begründet, soweit er tatsächlich in seinen Grundrechten aus Art. 2 II S. 1 GG bzw. Art. 19 IV GG verletzt ist.

1. Körperliche Unversehrtheit, Art. 2 II S. 1 GG

Zu prüfen ist zunächst die von A behauptete Verletzung seines Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 II S. 1 GG.

a) Schutzbereich

Körperliche Unversehrtheit bedeutet neben Gesundheit im biologisch-physischen Sinne auch psychisch-seelisches Wohlbefinden.8

b) Eingriff

Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass mit Passivrauchen schwerwiegende gesundheitliche Risiken verbunden sind.9 Wenn der nichtrauchende Häftling dem also nicht ausdrücklich zustimmt, greift die gemeinschaftliche Unterbringung mit einem rauchenden Mitgefangenen in sein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ein. Der nichtrauchende Gefangene muss hierbei nicht nachweisen, zu welchem Zeitpunkt und in welchem Umfang der Mitgefangene geraucht habe und inwiefern ihn dies gesundheitlich beeinträchtige.

hemmer-Methode: Ausdruck dessen ist in NRW, wo der vorliegende Fall spielt, einfachgesetzlich § 3 IV S. 2 NRSchG. Nach dieser Vorschrift ist das Rauchen in einem Haftraum nicht zulässig, wenn dort mindestens ein Nichtraucher untergebracht ist. Da das BVerfG keine Superrevisionsinstanz ist und ausschließlich Verfassungsrecht prüft, spielt die Norm aber für die Falllösung keine Rolle und wird auch im Urteil des BVerfG nur am Rande erwähnt. Die weitergehende Kodifizierung des Nichtraucherschutzes ist indes folgerichtige Konsequenz der Schutzfunktion der Grundrechte.10 Aus Art. 2 II GG kann eine Schutzpflicht des Staates folgen, die eine Risikovorsorge gegen Gesundheitsgefährdungen umfasst.11 Die Verfassung begründet insoweit eine Pflicht des Staates, die es ihm gebietet, sich schützend und fördernd vor das Leben jedes Einzelnen zu stellen und hierzu auch entsprechende Gesetze zu erlassen.12

aa) Keine ausreichenden Schutzvorkehrungen

Ein Eingriff könnte aber ausgeschlossen sein, wenn die JVA geeignete Vorrichtungen trifft, um das gesetzliche Verbot durchzusetzen, wie etwa Rauchmelder, die von Beschwerden der betroffenen Nichtraucher unabhängig sind. Dass die JVA sich dahingehend bemüht, hat sie aber nicht vorgetragen.

Anmerkung: Der Gefangene hat Anspruch auf Schutz vor Gefährdung und erheblicher Belästigung durch das Rauchen von Mitgefangenen und Aufsichtspersonal.13 Dem Gefängnisinsassen ist dabei keineswegs zuzumuten, auf die Hilfe des Anstaltspersonals gegen den rauchenden Zellengenossen selbst hinzuwirken.

bb) Einverständnis

Fraglich ist, wie es sich auswirkt, dass A auf eigenen Wunsch in die JVA Aachen verlegt wurde und ihm im Vorfeld erläutert worden war, dass eine Einzelunterbringung nicht zeitnah umgesetzt werden könne. Hierin könnte ein den Eingriff ausschließendes Einverständnis zu sehen sein. Wenngleich ein derartiger Grundrechtsverzicht mit Blick auf seine fehlende Verankerung in Art. 2 II GG schon problematisch erscheint, wäre er jedenfalls nur unter engen Voraussetzungen anzunehmen. Ein Verzicht ist danach nur denkbar, soweit er freiwillig, konkret und für den Verzichtenden überschaubar erklärt wird. Ein völliger Verzicht auf ein Grundrecht ist nicht möglich, sondern höchstens auf den Grundrechtsschutz für eine einzelne Handlungsweise.14

Mit dem angegriffenen Hoheitsakt hat sich A vorliegend aber nicht im Vorhinein einverstanden gezeigt. Soweit man hier zwar ein Einverständnis in die gemeinschaftliche Unterbringung annehmen könnte, umfasst diese nicht die Unterbringung mit einem Raucher.

c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Das Recht auf körperliche Unversehrtheit kann gemäß Art. 2 II S. 3 GG aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Für den Eingriff der gemeinschaftlichen Unterbringung eines Nichtrauchers mit einem Raucher fehlt aber schon eine gesetzliche Grundlage, sodass eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung ausscheidet.

hemmer-Methode: Daher kann dahinstehen, ob man dem Gefangenen grundrechtskonform gewisse Dienstpflichten auferlegen könnte, Tabakrauch in seinem Haftraum zu dulden. Zu einer Abwägung kommt man gar nicht erst.

Zwischenergebnis: Durch die unfreiwillige Unterbringung in einem Haftraum mit einem Raucher wurde A in seinem Grundrecht aus Art. 2 II S. 1 GG verletzt.

Anmerkung: Eine Verletzung der Menschenwürde gemäß Art. 1 I GG, wie sie der Beschwerdeführer im Originalfall darüber hinaus vorgetragen hatte, prüfte das BVerfG nach Feststellung einer Verletzung von Art. 2 II S. 1 GG nicht mehr.

2. Effektiver Rechtsschutz, Art. 19 IV GG

Darüber hinaus kommt die Verletzung des Gebots effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 IV GG in Frage.

a) Schutzbereich

Für den Bürger ergibt sich aus diesem Gebot ein substanzieller Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle von Hoheitsakten.15 Die Realisierung dieses Anspruchs darf nicht in einer Weise erschwert werden, die sich aus Sachgründen nicht rechtfertigen lässt.16 Zwar ist es zulässig, dass die Rechtsschutzgewährung von einem bestehenden Rechtsschutzinteresse abhängig gemacht wird.17 Ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung kann aber trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels fortbestehen, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist.18 Dies ist unter anderem der Fall, wenn ein gewichtiger Grundrechtseingriff in Rede steht, gegen den seiner Art nach gerichtlicher Rechtsschutz nicht vor Erledigungseintritt erlangt werden kann.19 Würde man Rechtsschutz in diesen Fällen ablehnen, entstünden Rechtsschutzlücken.20

b) Eingriff

Fraglich ist, ob die Gerichte bei der Ablehnung des Feststellungsinteresses das Gebot des effektiven Rechtsschutzes und die dargelegten Anforderungen ausreichend berücksichtigt haben. Konkret geht es um die verfassungskonforme Auslegung des Merkmals „berechtigtes Interesse" für einen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Maßnahme auf dem Gebiet des Strafvollzuges gemäß § 115 III StVollzG.

aa) Verdacht der gezielten Erledigung

Zunächst hatte die JVA den Antrag des A auf Zuweisung eines Einzelhaftraums mit der Begründung fehlender Kapazitäten abgelehnt. Noch im April 2010 wurde A eröffnet, dass für einen Einzelhaftraum mehrere Monate Wartezeit bestünden. Nachdem der Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 109 I StVollzG gestellt worden und dies der JVA durch die Aufforderung zur Stellungnahme bekannt geworden war, reagierte sie jedoch sofort und sah sich bereits im Mai 2010 in der Lage, dem A einen Einzelhaftraum zuzuweisen. Der Verdacht lag also nahe, dass die Erledigung gezielt zur Vermeidung einer ungünstigen gerichtlichen Entscheidung herbeigeführt wurde.

bb) Sachverhaltsaufklärungspflicht der Gerichte

Die Gerichte hätten sich mit dieser sich aufgrund der Indizien aufdrängenden Frage befassen müssen. Hierzu hätten sie etwa ermitteln können, ob sich Fälle, in denen Gefangene aus der betreffenden JVA hinreichend eine rechtswidrige Unterbringung darlegen, regelmäßig vor Ergehen einer gerichtlichen Entscheidung erledigen.

Abgehoben wurde in den Abweisungsbegründungen aber lediglich auf die offensichtlich nicht einschlägigen Fallgruppen der Wiederholungsgefahr und der Vorbereitung von anderen Prozessen zur Durchsetzung von Amtshaftungs- und Schadensersatzansprüchen. Die Anforderungen an eine verfassungskonforme Interpretation des Fortbestehens eines Rechtsschutzbedürfnisses für eine gerichtliche Entscheidung in Strafvollzugssachen nach Erledigung haben die Gerichte verkannt.

Soweit sich bei der Entscheidung über das Vorliegen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses aus den Umständen Anhaltspunkte dafür ergeben, dass Gefangene rechtswidrigen Haftbedingungen ausgesetzt werden und dabei versucht wird, gerichtlichen Beanstandungen gezielt durch fallweise Erledigung zu entgehen, müssen die Gerichte diesen Hinweisen im Rahmen ihrer Pflicht zur Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts aber nachgehen.21 Indem sie ein fortbestehendes Feststellungsinteresse von vornherein abgelehnt haben, haben sie diese Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung und das Gebot effektiven Rechtsschutzes verletzt.

Anmerkung: Art. 19 IV GG wird schrankenlos gewährt. Eine Einschränkung kraft kollidierenden Verfassungsrechts kommt vorliegend nicht in Betracht. Der Eingriff bedeutet somit gleichzeitig eine verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigende Verletzung.

III. Endergebnis

Die Verfassungsbeschwerde des A ist zulässig und begründet und hat Aussicht auf Erfolg.

hemmer-Methode: Folglich hat das BVerfG die vorhergehenden Beschlüsse aufgehoben und zur Entscheidung in der Sache an das Landgericht zurückverweisen.

D) Kommentar

(bb). Dass auch ein Strafgefangener, der Nichtraucher ist, einen Anspruch darauf hat, nicht passiv dem Rauch anderer Häftlinge ausgesetzt zu werden, ergibt sich schon einfachgesetzlich aus den Nichtraucherschutzgesetzen. Dieses Ergebnis lässt sich verfassungsrechtlich untermauern, da das Grundrecht des nichtrauchenden Gefangenen auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 II S. 1 GG mit Blick auf die Gefahren des Passivrauchens tangiert ist. Insoweit bringt die Entscheidung keine wesentlichen neuen Erkenntnisse mit sich, was aber keinesfalls gegen die Examensrelevanz dieses rechtspolitisch immer noch viel diskutierten Bereichs spricht.

Auch die Bejahung eines Rechtsschutzbedürfnisses bei Erledigung ist mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung des BVerfG konsequent. Erstmals betont wird indes das Ziel der Verhinderung von Missbrauch durch gezielte Erledigung von Hoheitsakten und die zu besorgende Überprüfung derartiger Verdachtsfälle durch die Gerichte.

Dabei erscheinen die Ausführungen des BVerfG in dem der Entscheidung zugrunde liegenden -- im Ergebnis zustimmungswürdigen -- Urteil aber teilweise unstimmig. Dort wird zwar von der gezielten Erledigung gesprochen, gleichzeitig jedoch gefordert, dass vom erkennenden Gericht Erfahrungen in anderen Fällen ermittelt werden sollen. Auch der Begriff der „Strategie der Mängelverwaltung" deutet eher auf eine systematische als auf eine gezielte Erledigung hin. Ob hinter der rechtswidrigen Maßnahme ein System steht, ist aus Sicht des beeinträchtigten Beschwerdeführers jedoch gänzlich irrelevant.

Über den Einzelfall hinaus lässt sich daher keine Verallgemeinerung einer Fallgruppe der „gezielten Erledigung" ableiten. Es bleibt dabei, dass für das Rechtsschutzbedürfnis in jenen Fällen auf den nicht zu verwirklichenden Grundrechtsschutz bei Zeitablauf abzustellen ist. Die Argumentationslinie des BVerfG sollte aber zusätzlich zur Begründung herangezogen werden.

E) Zur Vertiefung

  • Zum Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit

Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 168 ff.

  • Zum Gebot effektiven Rechtsschutzes

Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 323 ff.

F) Wiederholungsfragen

  1. Welche Anforderungen sind an das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis

    bei der Verfassungsbeschwerde zu stellen?

  2. Wann ist trotz Erledigung bei der Verfassungsbeschwerde ein

    Rechtsschutzbedürfnis des Beschwerdeführers zu bejahen?


  1. Zur Abgrenzung der Regelungsbefugnisse vgl. Rossi/Lenski, NJW 2006, 2657.

  2. Vgl. BGBl. I 2007, S. 1595.

  3. Vgl. BVerfG, NJW 2008, 2409 = Life & Law 2008, 619 ff.; siehe auch zum „bayerischen Rauchverbot" im sog. Gesetz zum Schutz der Gesundheit (GSG) weitergehend Life & Law 2010, 634 ff.

  4. Vgl. BVerfGE 21, 102, 104 Maunz / Dürig, Grundgesetz, § 90 BVerfGG, Rn. 175a ff.

  5. Vgl. BVerfGE 81, 138, 140 f. zu den weiteren Fallgruppen siehe Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 61.

  6. Zum Ganzen vgl. Hemmer/Wüst, Verwaltungsrecht II, Rn. 118 ff.; zu den Besonderheiten des Feststellungsinteresses beim Antrag nach § 115 StVollzG siehe Feest/Lesting, § 115 StVollzG, Rn. 71 ff.

  7. Vgl. BVerfG, NJW 2011, 2499 = Life & Law 2011, 507 ff.

  8. Vgl. Maunz/Dürig, Art. 2 II S. 1 GG, Rn. 55 ff.

  9. Vgl. BVerfG, NJW 2008, 2409, 2412 = Life & Law 2008, 619, 623 ff.

  10. Vgl. grundlegend BVerfGE 31, 1, 42 (Abtreibungsurteil)

  11. Vgl. BVerfGE 56, 54, 78

  12. Vgl. BVerfGE 39, 1, 42; 46, 160, 164; 115, 118, 152

  13. So schon BVerfGK 13, 67, 68; OLG Celle, NJW 2004, 2766, 2767; OLG Frankfurt/Main, NStZ 1989, 96.

  14. Vgl. Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 108.

  15. Vgl. BVerfGE 35, 382, 401 f.; 104, 220, 231 ff.

  16. Vgl. BVerfGE 96, 27, 39; 104, 220, 232; 125, 104, 137

  17. Vgl. BVerfGE 104, 220, 232

  18. Vgl. BVerfGE 104, 220, 232 ff.

  19. Vgl. BVerfGE 96, 27, 39 f. 110, 77, 86; 117, 71, 122 f. für den Haftvollzug vgl. BVerfGK 11, 54, 59; BVerfG, StraFo 2012, 129, 130.

  20. Vgl. treffend im vorliegend besprochenen Urteil das BVerfG, NJW 2013, 1943, 1944: „Es wäre nicht hinnehmbar, wenn die Strafvollzugsbehörden sich in einzelnen Bereichen der gerichtlichen Kontrolle erheblich grundrechtseingreifender Maßnahmen systematisch dadurch entziehen könnten, dass sie, ohne damit ein vorausgegangenes Unrecht einzuräumen, deren Erledigung herbeiführen, bevor es zu einer gerichtlichen Entscheidung kommt."

  21. Zur Sachverhaltsaufklärungspflicht vgl. schon BVerfGK 9, 460, 463 f.