Nachbarn

Grundfall (nicht nur) für Anfangssemester, Strafrecht

von Life and Law am 01.12.2014

+++ Raub, § 249 StGB ++ Finalzusammenhang beim Raub +++ Diebstahl in einem besonders schweren Fall, §§ 242 I, 243 StGB +++

Sachverhalt: Gunter (G) ist schlecht gelaunt. Als ihm dann auch noch sein Nachbar Jürgen (J), mit dem er seit langen Jahren im Streit lebt, über den Weg läuft, schlägt er diesen nieder. J geht bewusstlos zu Boden. Dabei entdeckt G, dass J überraschenderweise in seiner Jackentasche 200,- € bei sich führt. Kurz entschlossen nimmt G das Geld an sich.

Bearbeitervermerk: Prüfen Sie die Strafbarkeit des G nach dem StGB;
die §§ 223 ff., 240 StGB sind hierbei außer Betracht zu lassen.

A) Sound

In diesem Fall steht der Grundtatbestand des Raubes gem. § 249 I StGB im Mittelpunkt. Während die Diebstahls- und die Nötigungskomponente hier für sich allein betrachtet unproblematisch bejaht werden können, ist näher auf die zudem erforderliche Finalität zwischen diesen beiden Komponenten einzugehen. G hat nämlich den Schlag, der zur Bewusstlosigkeit seines Nachbarn führte, zunächst nicht ausgeführt, um diesem die 200,- € zu entwenden.

Im Anschluss an die Prüfung des Raubes ist bei Verneinung einer Strafbarkeit nach § 249 StGB i.R.d. Diebstahls auf das Regelbeispiel des § 243 I S. 2 Nr. 6 StGB einzugehen.

B) Gliederung

I. Raub, § 249 I StGB

1. Objektiver Tatbestand

a) Diebstahlskomponente (+)

b) Nötigungskomponente (+)
Niederschlagen des J
= Gewalt gegen eine Person

c) (P) finale Verknüpfung zw. Diebstahls- und Nötigungskomponente (-)

Gewaltanwendung hier zum Zeitpunkt der Wegnahme bereits abgeschlossen, lediglich Gewaltwirkung noch fortdauernd

2. Ergebnis:
§ 249 I StGB (-)

II. Besonders schwerer Fall des Diebstahls, §§ 242 I, 243 I S. 2 Nr. 6 StGB

1. Objektiver Tatbestand
fremde, bewegliche Sache (+)
Wegnahme (+)

2. Subjektiver Tatbestand
Vorsatz (+)
Zueignungsabsicht (+)

3. Rechtswidrigkeit und Schuld (+)

4. (P) § 243 I S. 2 Nr. 6 StGBHilflosigkeit des J zum Stehlen
ausgenutzt? i. Erg. (+)

III. Ergebnis:

Strafbarkeit des G gem.
§§ 242 I, 243 I S. 2 Nr. 6 StGB

C) Lösung

Zu prüfen ist die Strafbarkeit des G nach dem StGB.

I. Raub, § 249 I StGB

G könnte dadurch, dass er den J niederschlug und sodann die 200,- € aus dessen Jackentasche an sich nahm, einen Raub begangen haben.

1. Objektiver Tatbestand

Es müssten zunächst die objektiven Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen.

a) Diebstahlskomponente

Bei den 200,- € handelt es sich um eine für den G fremde und bewegliche Sache, da das Geld im Eigentum des J stand.

Weiterhin wäre erforderlich, dass G dem J diese Sache weggenommen hat, wozu der Bruch fremden Allein- oder Mitgewahrsams und die Begründung neuen, nicht notwendig tätereigenen Gewahrsams erforderlich ist.

Fraglich ist jedoch, ob J zu dem Zeitpunkt, als G das Geld an sich nahm, noch Gewahrsam hatte, da er bereits bewusstlos war. Mittlerweile geht die h.M. in Rechtsprechung und Literatur davon aus, dass auch ein Bewusstloser noch Gewahrsam an den von ihm mitgeführten Sachen hat, da ein potenzieller Gewahrsamswille noch fortbesteht. Dies gilt entgegen einer Mindermeinung unabhängig davon, ob der Bewusstlose später das Bewusstsein nochmals wiedererlangt oder verstirbt.

b) Nötigungskomponente

Die von § 249 I StGB geforderte Nötigungs­handlung liegt im Niederschlagen des J, sodass hier Gewalt gegen eine Person in Form von vis absoluta angewendet wurde.

hemmer-Methode: Unterscheiden Sie i.R.d. Gewaltbegriffs vis absoluta und vis compulsiva.

Von vis absoluta spricht man bei einer physisch vermittelten Zwangswirkung durch Schaffen eines unüberwindlichen Hindernisses (Beispiel: Bewusstlosschlagen des Opfers).

Vis compulsiva zielt dagegen darauf ab, den Willen des Opfers zu beugen und einen rein tatsächlich noch möglichen Widerstand zu brechen (Beispiel: Abgabe von Schreckschüssen).

In der Klausur ist es für das Ergebnis meist irrelevant, welche Form der Gewalt vorliegt. Eine Entscheidung ist dennoch anzuraten, da sie von vielen Klausurerstellern erwartet wird.

c) Finale Verknüpfung zwischen Diebstahls- und Nötigungskomponente

Weiterhin setzt der Tatbestand des Raubes voraus, dass die (qualifizierte) Nötigung des Opfers und die Wegnahme der fremden, beweglichen Sache in einer inneren Beziehung und in einem bestimmten zeitlichen Verhältnis zueinander stehen.

Erforderlich ist insofern, dass der Täter seinen Wegnameentschluss spätestens während der noch fortdauernden Gewaltanwendung fasst.

Nutzt der Täter dagegen -- wie G im vorliegenden Fall -- lediglich die fortdauernde Wirkung der von ihm ohne Wegnahmevorsatz verübten Gewalt aus, ohne dass die Nötigungshandlung als solche noch fortdauert, so ist die erforderliche Finalbeziehung zwischen Nötigung und Wegnahme nicht gegeben.

hemmer-Methode: Anders wäre der Fall zu beurteilen, wenn der Täter das Opfer zunächst ohne Wegnahmevorsatz in den Polizeigriff genommen hätte und sich, noch während er das Opfer festhält, entschließt, diesem die Brieftasche zu entwenden. Hier dauert die Gewaltanwendung noch fort.

2. Ergebnis

G hat keinen Raub begangen.

II. Besonders schwerer Fall des Diebstahls, §§ 242 I, 243 I S. 2 Nr. 6 StGB

Das Verhalten des G könnte aber als Diebstahl zu bestrafen sein.

1. Objektiver Tatbestand

G hat dem J die 200,- €, eine aus der Sicht des G fremde und bewegliche Sache, weggenommen.

2. Subjektiver Tatbestand

G handelte mit Wissen und Wollen hinsichtlich der objektiven Tatbestandsmerkmale. Zudem hatte er die Absicht, sich die 200,- € rechtswidrig zuzueignen.

3. Rechtswidrigkeit und Schuld

Die Tat war rechtswidrig und schuldhaft.

4. Besonders schwerer Fall des Diebstahls, § 243 I S. 2 Nr. 6 StGB

G könnte das Regelbeispiel des § 243 I S. 2 Nr. 6 StGB verwirklicht haben und wegen Diebstahls in einem besonders schweren Fall zu bestrafen sein.

§ 243 I S. 2 Nr. 6 StGB verlangt, dass der Täter die Hilflosigkeit eines anderen, einen Unglücksfall oder eine gemeine Gefahr zum Stehlen ausnutzt. Kennzeichnend für dieses Regelbeispiel ist damit die besonders verwerfliche Begehungsweise des Täters in Situationen, in denen der Selbstschutz des Opfers beeinträchtigt und deshalb ein erhöhtes Schutzbedürfnis gegeben ist. Hilflosigkeit ist zu bejahen, wenn das Opfer zur Zeit der Tat -- verschuldet oder nicht -- außer Stande ist, sich ohne Hilfe anderer gegen eine ihm drohende Gefahr selbst zu helfen.

G hat hier die Hilflosigkeit des bewusstlos geschlagenen J zur Begehung des Diebstahls vorsätzlich ausgenutzt, sodass ein besonders schwerer Fall des Diebstahls i.S.d. § 243 I S. 2 Nr. 6 StGB vorliegt.

III. Ergebnis

G ist gem. §§ 242 I, 243 I S. 2 Nr. 6 StGB zu bestrafen.

D) Zusammenfassung

Begründet der Täter den Entschluss der Wegnahme während der noch fortdauernden Gewaltanwendung, so begeht er einen Raub. Ist dagegen die Gewaltanwendung bereits abgeschlossen und nutzt der Täter lediglich die fortdauernde Wirkung der von ihm zunächst ohne Wegnahmevorsatz ausgeübten Nötigungshandlung im Rahmen eines neuen Entschlusses zur Entwendung von Sachen, so ist bereits der objektive Tatbestand des Raubes zu verneinen.

Das Regelbeispiel des § 243 I S. 2 Nr. 6 StGB ist erfüllt, wenn der Täter die Hilflosigkeit eines anderen, einen Unglücksfall oder eine gemeine Gefahr zum Stehlen ausnutzt. Kennzeichnend ist insofern die besonders verwerfliche Begehungsweise in Situationen, in denen der Selbstschutz des Opfers beeinträchtigt und deshalb ein erhöhtes Schutzbedürfnis gegeben ist.

E) Zur Vertiefung

  • BGH, Beschluss vom 25.09.2012 -- 2 StR 340/12 = Life & Law 2013, 275 ff. : Nutzt der Täter die Wirkungen zuvor mit anderer Zielrichtung verübter Gewalt zu einer Wegnahme aus, so ist der raubspezifische Finalzusammenhang erst erfüllt, wenn der Täter hierauf im Wege einer neuen, nach dem Entschluss zur Wegnahme erfolgten Gedankenäußerung als konkludente Drohung Bezug nimmt.
  • Allein der Umstand, dass die Wirkungen der ohne Wegnahmeabsicht ausgeübten Gewalt noch andauern und der Täter dies ausnutzt, genügt für die Annahme eines Raubes nicht, vgl. BGH, NStZ 2006, 508 f. = Life & Law 2006, 767 ff. Dort finden Sie im hemmer-Background auch instruktive und sehr lesenswerte Hinweise zu dem schwierigen Problemfeld, ob eine „Gewaltanwendung durch Unterlassen" möglich ist.