Keine Körperverletzung, kein Schadensersatz; auch nicht bei Verdacht!

BGH, Urteil vom 17.09.2013, VI ZR 95/13; NJW 2013, 3634 f.

von Life and Law am 01.02.2014

+++ Tatbestandsvoraussetzungen des § 823 I BGB bzw. des § 7 I StVG +++ Differenzierung zwischen Diagnose- und Heilbehandlungskosten +++ §§ 7, 18 StVG, §§ 823 I, II BGB +++

Sachverhalt (abgewandelt und vereinfacht): S verursachte mit ihrem Pkw schuldhaft einen Verkehrsunfall, indem sie frontal in das entgegenkommende Fahrzeug der G fuhr. Die Fahrzeuge hatten dabei eine sehr geringe Geschwindigkeit.

G klagte später über Schmerzen im Bereich der oberen Wirbelsäule. Sie suchte daraufhin den Arzt A auf, der unfallbedingte Verspannungen diagnostizierte. Da er sich nicht sicher war, ob eine Fraktur eines Wirbelkörpers vorliegt, überwies A die G in das Krankenhaus K. Dort wurde eine MRT-Untersuchung durchgeführt. Dabei haben sich keine Anhaltspunkte für eine Fraktur oder eine Verdrehung der Wirbelsäule ergeben.

A und K stellten für Ihre Tätigkeiten Rechnungen, welche G in der Folgezeit beglich. Die entsprechenden Beträge verlangt sie nun von S ersetzt.

Hat G einen durchsetzbaren Anspruch gegen S auf Schadensersatz?

A) Sound

Ein Unfallgeschädigter kann die durch eine ärztliche Untersuchung oder Behandlung entstandenen Kosten vom Schädiger nur ersetzt verlangen, wenn der Unfall zu einer Körperverletzung geführt hat. Die bloße Möglichkeit oder der Verdacht einer Verletzung genügen dafür nicht.

B) Problemaufriss

Im Original -- und das ist in der Praxis die Regel -- wurde der Rechtsstreit zwischen Versicherungen geführt. G war gesetzlich krankenversichert. Ihre Krankenversicherung hat die Behandlungskosten getragen. Gem. § 116 I SGB X gehen etwaige Ersatzansprüche gegen einen Schädiger des Versicherten sodann kraft Gesetzes auf die Krankenversicherung über. Da bei Kfz-Unfällen ein Direktanspruch gegen die Haftpflichtversicherung des Fahrzeughalters besteht, § 3a PflVG, § 115 VVG, ist auch dieser Anspruch vom Übergang gem. § 116 I SGB X erfasst.

Voraussetzung ist aber das Bestehen der Ersatzpflicht des Fahrzeughalters. Diese Ersatzpflicht kann sich einmal aus den Normen des StVG, aber auch aus den §§ 823 ff. BGB ergeben.

Im Rahmen einer Verkehrsunfallklausur sind standardisiert folgende vier Anspruchsgrundlagen zu prüfen:

Anspruchsgrundlagen
bei Straßenverkehrsunfall

1. § 7 I StVG: Haftung des Halters wegen Gefährdung

2. § 18 StVG: Haftung des Fahrers wegen vermuteten Verschuldens

3. § 823 I BGB: Haftung des Schädigers wegen nachgewiesenen Verschuldens

4. § 823 II BGB: Haftung des Schädigers wegen schuldhafter Schutzgesetzverletzung; insbes. § 229 StGB, § 1 StVO

Die Anspruchsgrundlagen stehen in Anspruchskonkurrenz zu einander, verdrängen sich also nicht gegenseitig. Gleichwohl ist es üblich, mit den spezielleren Normen des StVG zu beginnen, weil es hier auf ein Verschulden nicht ankommt. Ein Richter würde sich daher nicht die Mühe machen, die verschuldensabhängige BGB-Haftung zu prüfen.

Das bedeutet jedoch nicht, dass die deliktischen Ansprüche neben den StVG-Normen generell bedeutungslos wären. Gem. § 12 StVG bestehen in bestimmten Situationen Höchstbeträge, die das Deliktsrecht nicht kennt.

Sollten also diese Beträge überschritten sein, käme es fallentscheidend auf ein Verschulden an. Gleiches gilt für die Möglichkeit der Zurechnung von Drittverschulden. Dies ist gem. § 9 StVG unter geringeren Voraussetzungen möglich als gem. §§ 254 II S. 2, 278 BGB, welche für deliktische Ansprüche gelten, weil es auf eine Sonderverbindung im Bereich des StVG nicht ankommt.

Zuletzt sei die häufig übersehende Norm des § 15 StVG zitiert.1

Vorliegend geht es um Fragen der Tatbestandsverwirklichung, die sich bei § 7 I StVG und § 823 I BGB in gleicher Weise stellen. Eine Besonderheit gilt im Hinblick auf die Prüfung des Anspruchs aus § 823 II BGB; dazu in der Lösung.

C) Lösung

Zu prüfen ist, ob G gegen S ein durchsetzbarer Anspruch auf Schadensersatz zusteht.

I. Anspruch auf Schadensersatz gem. § 7 I StVG

Ein Anspruch könnte sich aus § 7 I StVG ergeben. Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte im Sachverhalt ist davon auszugehen, dass S die Halterin ihres Pkw ist.

Für eine Haftung nach § 7 I StVG ist erforderlich, dass es bei Betrieb des Kfz zu einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit der S gekommen ist.

Bei Betrieb hat eine Verletzung dann stattgefunden, wenn sich Gefahren realisieren, zu deren Abwendung die Vorschrift des § 7 I StVG erlassen wurde. Es muss sich also um eine kfz-spezifische Gefährdungssituation gehandelt haben. Dies ist vorliegend unproblematisch der Fall, da die S mit ihrem Pkw in den Gegenverkehr geraten ist.

Anmerkung: Auf den Streit zwischen der sog. verkehrstechnischen und der maschinentechnischen Auffassung zu dem Merkmal „bei Betrieb" kommt es vorliegend nicht an. Nach der verkehrstechnischen Auffassung beginnt der Betrieb mit dem Ingangsetzen des Motors und endet mit dem Motorstillstand außerhalb des öffentlichen Verkehrsbereichs. Nach der (engeren und kaum noch verwendeten) maschinentechnische Auffassung steht ein Kfz in Betrieb, solange der Motor das Kfz bewegt.2

Fraglich ist indes, ob es überhaupt zu der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit3 gekommen ist und die Arztrechnungen kausale, darauf basierende Schäden darstellen.

Anmerkung: Dieser Prüfungspunkt ist bei Ansprüchen aus § 18 StVG, der auf § 7 I StVG verweist, und § 823 I BGB in gleicher Weise relevant. Es handelt sich um ein Element der Tatbestandsprüfung, weil für dessen Verwirklichung zunächst eine Rechtsgutverletzung erforderlich ist. Bei einem Anspruch aus § 823 II BGB kommt es demgegenüber im Tatbestand nicht auf eine Rechtsgutverletzung an sondern nur darauf, ob ein Schutzgesetz verletzt wurde. Sofern es bei Verwirklichung des Schutzgesetztes sodann aber um den Ersatz von Behandlungskosten geht, ist auf der Rechtsfolgenseite ein Ersatz materieller (§ 249 I BG) bzw. immaterieller (§ 253 II BGB) Schäden nur bei Vorliegen einer Körperverletzung möglich, vgl. unten. Im Ergebnis gibt es diesbezüglich also keinen Unterschied!

1. Körperverletzung „Verspannungen"

Laut Sachverhalt hat G Verspannungen im Wirbelsäulenbereich erlitten. Dabei müsste es sich um eine Beeinträchtigung der körperlichen Integrität handeln. Das Recht am eigenen Körper ist ein gesetzlicher ausgeformter Teil des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Schutzgut ist das Seins- und Bestimmungsfeld der Persönlichkeit, das sich in der körperlichen Befindlichkeit verwirklicht.4

Eine Verletzung ist jeder Eingriff in die körperliche Integrität. Da laut Sachverhalt die Verspannungen auf den Unfall zurückzuführen sind, ist insoweit von einer Körperverletzung auszugehen. Die dadurch bedingten Behandlungskosten sind als kausaler Schaden ersatzpflichtig.5

2. HWS-Leiden?

Fraglich ist, ob darüber hinaus von einer Gesundheitsbeeinträchtigung im Hinblick auf eine Schädigung bzw. Verdrehung der Wirbelsäule ausgegangen werden kann.

Läge eine Gesundheitsbeeinträchtigung vor, würde die Ersatzfähigkeit der entstandenen Kosten jedenfalls nicht daran scheitern, dass die MRT-Untersuchung nicht der Behandlung des entsprechenden Leidens diente, sondern der Verifizierung der Verletzung, sog. Diagnosekosten. Denn selbstverständlich darf sich der Verletzte dazu herausgefordert fühlen, die entstandenen Verletzungen nach den Regeln der ärztlichen Kunst feststellen zu lassen. Nur dann kann eine fachgerechte Behandlung des Leidens erfolgen.

Diese Erwägungen sind aber Gegenstand der haftungsausfüllenden Kausalität, also die Frage danach, ob ein kausaler Schaden entstanden ist. Für die Tatbestandsverwirklichung ist zunächst die Verletzung eines von § 7 I StVG geschützten Rechtsguts erforderlich. Vorliegend hat sich nach Durchführung der MRT-Untersuchung herausgestellt, dass die Wirbelsäule nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Ist eine Primärverletzung nicht bewiesen, fehlt es an einer Rechtsgutverletzung im Sinne der Haftungstatbestände der § 7 I StVG, § 823 I BGB. Der bloße Verletzungsverdacht steht einer Verletzung haftungsrechtlich nicht gleich.

Anmerkung: Diese Erwägungen des BGH, welche bereits die Vorinstanz so angestellt hatte, sind juristisch betrachtet vollkommen überzeugend. Praktisch betrachtet mag das Ergebnis unbefriedigend sein, denn es entspricht auch den Regeln einer ordnungsgemäßen ärztlichen Behandlung, bei Vorliegen entsprechender Symptome eine weitergehende Abklärung vorzunehmen. Anders formuliert: Hätte der Arzt die MRT-Untersuchung nicht angeordnet und hätte sich später eine Verletzung der Halswirbelsäule ergeben, könnte der Arzt wegen etwaiger daraus resultierender Schäden in Anspruch genommen werden.

Dies gilt nicht nur für Behandlungskosten, sondern auch für Befunderhebungs- und Diagnosekosten. Die Aufwendungen für den Arzt und für die von ihm aufgrund seiner Verdachtsdiagnose eingeleiteten Maßnahmen und auch die Kosten eines von ihm ausgestellten Attests, das der Geschädigte zur Durchsetzung seiner Ersatzansprüche wegen der vermeintlich erlittenen Personenschäden verwenden will, sind nur entschädigungspflichtig, wenn die angenommene unfallbedingte Körper- oder Gesundheitsverletzung tatsächlich verifiziert wird, weil nur sie und nicht schon der Unfall als solcher gesetzlicher Anknüpfungspunkt für die Haftung gem. § 7 I StVG ist.

Dieselben Erwägungen führen bei einem Anspruch aus § 18 I StVG sowie einem solchen aus § 823 I BGB zu einer Ablehnung der Ersatzpflicht.

II. Anspruch aus §§ 823 I, II, 229 StGB bzw. § 1 StVO

Anders als bei den zuvor geprüften Ansprüchen bedarf es für die Verwirklichung des Tatbestandes des § 823 II BGB keiner Rechtsgutverletzung.

Sofern allerdings § 229 StGB als Schutzgesetz in Betracht kommen soll, ist für dessen Verwirklichung wiederum eine Körperverletzung erforderlich, die jedenfalls im Hinblick auf die Wirbelsäule nicht nachgewiesen ist, s.o. Nur wenn aber ein Schutzgesetz verwirklicht wurde, kann der daraus resultierende Schaden ersetzt werden.

Fraglich ist, ob sich ein anderes ergibt, wenn man auf § 1 StVO als Schutzgesetz abgestellt. Denn diese Norm verlangt nicht nach einer Rechtsgutverletzung; auch ist davon auszugehen, dass S durch das Hineinfahren in den Gegenverkehr die im Straßenverkehr erforderliche Rücksichtnahme vernachlässigt hat.

Zu berücksichtigen ist sodann allerdings im haftungsausfüllenden Tatbestand, dass nur solche Schäden ersetzt werden, welche wiederum kausal auf der Schutzgesetzverletzung basieren.

Im Fall von Behandlungskosten verlangt § 249 II S. 1 BGB das Vorliegen einer Körperverletzung, soweit es um materielle Schäden geht.

Wird Schmerzensgeld verlangt, ist gem. § 253 II BGB ebenfalls eine Verletzung des Körpers erforderlich. Auf der Rechtsfolgenseite stellen sich daher beim Anspruch aus § 823 II BGB dieselben Probleme wie im Übrigen auf Tatbestandsebene.

Daher scheidet auch ein Anspruch aus § 823 II BGB i.V.m. § 1 StVO aus.

III. Endergebnis

G kann von S Ersatz der Heilbehandlungskosten verlangen, welche auf den unfallbedingten Verspannungen im Nackenbereich basieren. Ein angemessenes Schmerzensgeld kann insoweit ebenfalls geltend gemacht werden.

Sofern es um die Kosten der Verifizierung einer Verletzung der Wirbelsäule geht, muss ein Ersatzanspruch allerdings ausscheiden.

D) Kommentar

(cda). Juristisch ist also die Frage nach medizinisch indizierten Untersuchungen und im Ergebnis ersatzfähigen Behandlungen strikt zu trennen. In der Praxis empfiehlt sich daher, im Vorfeld einer kostspieligen medizinischen Untersuchung das Einverständnis der gegnerischen Haftpflichtversicherung einzuholen. In der Regel wird die Zustimmung erfolgen, weil das Risiko für die Versicherung viel zu groß wäre, im Falle des Unterbleibens der Untersuchung für eventuelle (viel höhere) Folgeschäden einstandspflichtig zu sein.

Umgekehrt macht der Fall aber auch sehr deutlich, dass man die bloße Unfallverursachung durch die Gegenseite als Geschädigter nicht als eine Art Freifahrtschein verstehen darf, die medizinische Diagnosemaschine „mit Vollgas anzuwerfen".

Völlig zu Recht differenziert der BGH nicht zwischen Diagnosekosten einerseits und eigentlichen Behandlungskosten andererseits. Denn auch für die Diagnosekosten ist die Verwirklichung eines Tatbestandes erforderlich, auf dessen Basis Ersatz verlangt werden kann. Der Vorwurf darf sich nicht auf die Verursachung des Unfalls beschränken!

E) Zur Vertiefung

  • Tatbestand des § 823 I BGB

Hemmer/Wüst, Deliktsrecht I, Rn. 17 ff.

  • Tatbestand des § 7 I StVG

Hemmer/Wüst, Deliktsrecht II, Rn. 317 ff.

F) Wiederholungsfragen

1. Worin liegt der wesentliche Unterschied zwischen § 7 I StVG und § 823 I BGB?

2. In welchen Fällen kommt es entscheidend darauf an, neben § 7 StVG noch § 823 I BGB als Anspruchsgrundlage zur Verfügung zu haben?


  1. Die Vorschrift ist insbesondere für Referendare wichtig, wenn in einer Anwaltsklausur der Unfallgeschädigte nach Ablauf der entsprechenden Verwirkungsfrist in der Kanzlei erscheint und eine Geltendmachung der Ansprüche durch den Mandanten bislang unterblieben ist. StVG-Ansprüche dürfen dann nur noch hilfsgutachtlich geprüft werden. Es wäre ein grober Fehler, dazu in der Klageschrift Ausführungen zu machen! Es handelt sich bei § 15 StVG um eine von Amts wegen zu berücksichtigende Einwendung, Hentschel/König, § 15 StVG, Rn. 1.

  2. Demnach wäre § 7 I StVG also nicht verwirklicht, wenn das Fahrzeug an einer abschüssigen Straße geparkt wird und sich dann in Bewegung setzt (z.B. Defekt der Handbremse). Dies ist nicht überzeugend, weil sich trotz abgestellten Motors Gefahren realisieren, die aus der Funktionsweise des Kfz bzw. dem Funktionieren seiner Vorrichtungen resultieren. Vgl. zum Ganzen: Hentschel/König, § 7 StVG, Rn. 4 ff.

  3. Ein Unterschied zwischen Körper- und Gesundheitsverletzung wird praktisch nicht relevant, weil sich die Folgen decken. Nach Palandt, „gehen die Verletzungen ineinander über", § 823 BGB, Rn. 4; man sollte in der Klausur daher auf diese Abgrenzung nicht zu viel Zeit verwenden.

  4. Palandt, § 823 BGB, Rn. 4 m.w.N.

  5. Diese Frage war Anlass für den BGH, die Sache zurückzuverweisen, weil insoweit keine ausreichenden Feststellungen getroffen wurden zu der Frage, ob die angegebenen Beschwerden als auf den Unfall zurückzuführen anzusehen sind.