Helmtragen im Jahr 2011: Das Volk ist noch nicht so weit -- daher volle Haftung!

BGH, Urteil vom 17.06.2014, VI ZR 281/13, NJW 2014, 2493 ff.

von Life and Law am 01.10.2014

+++ Nichttragen eines Helms +++ Schadensgeringhaltung +++ Kürzung wegen Mitverschuldens +++ § 9 StVG, § 254 BGB +++

Sachverhalt (abgewandelt und gekürzt): A befuhr mit ihrem Fahrrad im Frühjahr 2011 eine Straße, an welcher am rechten Fahrbahnrand Autos parkten. Auch B parkte zu der Zeit an dieser Stelle. Sie öffnete die Fahrertür, um ihr Fahrzeug zu verlassen, als A von hinten heranfuhr. Diese konnte nicht mehr ausweichen, prallte gegen die Tür, stürzte zu Boden und fiel auf den Hinterkopf.

A, die ohne Fahrradhelm unterwegs war, erlitt bei dem Unfall schwere Hirnverletzungen. Ein Sachverständiger stellte später fest, dass das Nichttragen eines Helms für die Schwere der Verletzungen mitursächlich war. Die Verletzungen wären geringer ausgefallen, wenn A einen Helm getragen hätte.

A begehrt von B Schadensersatz. Diese ist nur dazu bereit, den Schaden in Höhe von 50 % zu ersetzen. Die A müsse sich eine Anspruchskürzung wegen Mitverschuldens zurechnen lassen.

A meint, B sei vollständig für die Schäden verantwortlich. Ob sie -- die A -- beim Radfahren einen Helm trage, sei ihre Privatangelegenheit. Insbesondere gebe es -- anders als beim Fahren mit dem Motorrad -- keine gesetzliche Regelung, welche ihr gebiete, einen Helm zu tragen. Die Schäden seien B daher vollständig anzulasten.

Kann A von B Ersatz in vollem Umfang verlangen? Anmerkung: Bei der Lösung ist zu unterstellen, dass nur ca. 10 % aller Radfahrer einen Helm im Straßenverkehr tragen.

A) Sound

Der Schadensersatzanspruch eines Radfahrers, der im Straßenverkehr bei einem Verkehrsunfall Kopfverletzungen erlitten hat, die durch das Tragen eines Schutzhelms zwar nicht verhindert, wohl aber hätten gemildert werden können, ist jedenfalls bei Unfallereignissen bis zum Jahr 2011 grundsätzlich nicht wegen Mitverschuldens gem. § 9 StVG, § 254 I BGB gemindert.

B) Problemaufriss

Die vorliegende Entscheidung war mit Spannung erwartet worden. Was herausgekommen ist, ist ein für den Moment überzeugend begründetes Ergebnis. Der BGH lässt für die Zukunft jedoch erkennen, dass auch anders entschieden werden kann (dazu sogleich).

Für die Klausur ist der Fall bestens geeignet. Unfallereignisse im Straßenverkehr sind in steter Regelmäßigkeit Prüfungsstoff des Ersten und Zweiten Staatsexamens. Dabei könnte dieser Fall als Ergänzung problemlos eingefügt werden. Auf den ersten Blick ist dies auch aufbautechnisch einfach in den Griff zu bekommen.

Gerade wenn es jedoch um Anspruchsgrundlagen aus dem StVG geht, können Klausuren leicht unter dem Strich landen, wenn man die spezielle Systematik des Gesetzes nicht beherrscht. Das Verhältnis verschiedener Ausschluss- und Haftungsbegrenzungstatbestände muss bekannt sein.

In einem Background zu diesem Fall wird darauf näher eingegangen.

Doch nun zum Fahrradhelm.

C) Lösung

Zu prüfen ist, ob A gegen B einen Anspruch auf Ersatz der Schäden hat, die durch den Unfall verursacht wurden.

Anmerkung: Auch auf der Rechtsfolgenseite bietet sich ein weites Spektrum an Problemen, die in Straßenverkehrsklausuren relevant werden können.

Dies betrifft zum einen den Umfang der Ersatzpflicht bei Personenschäden (Behandlungskosten, Schmerzensgeld, Erwerbsminderungsrente, ggf. Ansprüche mittelbar Betroffener wie Unterhalt gem. § 844 II BGB). Aber auch bei Sachschäden müssen Sie über spezielle Kenntnisse verfügen. Dies betrifft insbesondere die Frage, welche Möglichkeiten des Ersatzes bei Kfz-Schäden bestehen. Begriffe wie Wiederbeschaffungswert, Wiederbeschaffungsaufwand, Restwert, Zeitwert, fiktive Abrechnung, 130 %-Grenze, Abrechnung auf Neuwagenbasis etc. müssen Ihnen etwas sagen.1

I. Anspruch aus § 7 I StVG i.V.m. § 11 S. 1 u. 2 StVG

A könnte gegen B einen Anspruch auf Schadensersatz gem. § 7 I StVG haben. Auf der Rechtsfolgenseite beinhaltet dieser Anspruch den Ersatz von Personenschäden, insbesondere ist seit 2002 auch eine billige Entschädigung in Geld wegen erlittener Schmerzen geschuldet.

Anmerkung: Bei Verkehrsunfällen mit Beteiligung eines Kfz müssen Sie letztlich immer an vier Anspruchsgrundlagen denken: §§ 7, 18 StVG, §§ 823 I, 823 II BGB i.V.m. StVO- bzw. StGB-Normen. Wesentliche Unterschiede ergeben sich insbesondere im Hinblick auf die Verschuldensanforderungen. § 7 StVG ist ein Fall der verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung, § 18 StVG normiert eine Haftung für vermutetes Verschulden; im Rahmen des § 823 BGB haftet man grundsätzlich nur bei nachgewiesenem Verschulden.2 Bei der Prüfungsreihenfolge sollten Sie sich angewöhnen, stets mit § 7 StVG zu beginnen. Dieser verdrängt zwar deliktische Ansprüche nicht, es bestehen aber Wechselwirkungen (dazu im Background), welche zu komplizierten Inzidentprüfungen führen würden, wenn Sie mit § 823 BGB beginnen. Im Übrigen entspricht es der Vorgehensweise in der Praxis, mit der Norm zu beginnen, welche die geringsten Anforderungen an die Verwirklichung des Tatbestandes stellt.

1. Tatbestand des § 7 I StVG

Voraussetzung für eine Haftung wäre, dass B Halterin des betreffenden Fahrzeugs ist, und die Verletzung der A bei Betrieb dieses Fahrzeugs erfolgte.

B als Halterin

Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass die B Halterin des von ihr genutzten Fahrzeugs ist.

Anmerkung: Halter ist, wer die Gefahrenquelle unterhält, das heißt tatsächlich darüber befindet, dass sich die Gefahrenquelle im Straßenverkehr aufhält. Die Eigentümerposition ist dafür nicht zwingend erforderlich; so ist z.B. der Leasingnehmer beim Finanzierungsleasing Halter. Auch der Sicherungsgeber bei der Sicherungsübereignung ist Halter.

bei Betrieb des Kfz?

Die A müsste bei Betrieb des Kfz der B verletzt worden sein. Hier geht es insbesondere um die Frage, ob sich ein Kfz-spezifisches Risiko verwirklicht hat, wegen dessen der Gesetzgeber die Norm geschaffen hat. Die Gefährdungshaftung beruht insbesondere auf der Erwägung, dass durch die motorbedingte Kraftentfaltung Gefahren entstehen können, die nicht in jeder Situation beherrschbar sind.

Fraglich ist, ob sich dieses Risiko auch im vorliegenden Fall verwirklicht hat. Denn das Fahrzeug der B parkte am Straßenrand, als es zu dem Unfall kam. Umstritten war in solchen Fällen lange Zeit, ob sich hier noch ein Kfz-typisches Risiko verwirklichen könne.

Nach heute ganz h.M. ist dies jedoch der Fall. Das Fahrzeug muss nicht zwingend motorbetrieben in Bewegung sein, um Gefahren in den Straßenverkehr zu tragen. Der vorliegende Fall macht deutlich, dass unabhängig von der Motorkraft Gefahr für den sonstigen Verkehr besteht, wenn ordnungswidrig die Tür ohne Blick nach hinten geöffnet wird und das Auto für den nachfolgenden Verkehr zur Gefahr wird.

Von einer Verletzung bei Betrieb ist daher auszugehen, sodass der Tatbestand des § 7 I StVG verwirklicht ist.

2. Ausschlusstatbestände

Zu prüfen ist im Weiteren, ob die Haftung aufgrund von Ausschlusstatbeständen ausnahmsweise ausgeschlossen ist. Der Sachverhalt bietet für eine Prüfung derartiger Tatbestände aber keine Anhaltspunkte.

Insbesondere handelt es sich nicht um einen Fall höherer Gewalt i.S.d. § 7 II StVG. Dies allein deshalb, weil es um einen rein verkehrsinternen Vorgang geht, höhere Gewalt aber eine Einwirkung von außen verlangt.

Anmerkung: Weitere Ausschlusstatbestände wären die Fälle des § 8 StVG, § 7 III StVG bei nicht fahrlässig ermöglichtem Diebstahl, ein vertraglich vereinbarter Haftungsausschluss (beachte aber § 8a StVG) sowie -- im Verhältnis mehrerer Halter zueinander -- ein unabwendbares Ereignis gem. § 17 III StVG.

3. Kürzung wegen Mitverschuldens der A

Möglicherweise ist der Anspruch aber deshalb zu kürzen, weil A keinen Fahrradhelm trug und sich dies laut Sachverständigenaussage kausal auf die Intensität der Verletzungen ausgewirkt hat.

In Betracht kommt insoweit eine Kürzung gem. § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB. Die Norm ist vorliegend auch anwendbar, weil kein Fall des § 17 II StVG vorliegt.

Anmerkung: Genau dieses Spannungsverhältnis der Normen des § 9 StVG und § 17 II StVG muss Ihnen geläufig sein. Beide Normen führen zu einer Kürzung des Anspruchs. Sie verdrängen sich gegenseitig. Während § 17 StVG stets das Verhältnis der Halter zueinander betrifft, regelt § 9 StVG die Fälle, in denen ein Halter von einem verletzten Fußgänger, Radfahrer oder sonst von jemandem in Anspruch genommen wird, dessen Sache beschädigt wurde. Näheres dazu im Background!

Zu klären ist daher, ob aus dem Nichttragen eines Fahrradhelms ein Mitverschuldensvorwurf abgeleitet werden kann. Dies ist insbesondere deshalb problematisch, weil es eine gesetzliche Verpflichtung, einen Fahrradhelm zu tragen, nicht gibt. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass nicht jede objektive Mitverursachung automatisch zu einer Anspruchskürzung führen kann. Maßgeblich ist, ob auch in subjektiver Hinsicht eine Sorgfaltspflichtverletzung vorgeworfen werden kann. Der Maßstab dafür sind im Straßenverkehr grundsätzlich die vom Gesetzgeber kodifizierten Verhaltenspflichten, auch wenn ein Mitverschulden nicht zwingend den Verstoß gegen eine gesetzliche Regelung erfordert (s.u.).

Grundsätze der Anspruchskürzung

Der Vorschrift des § 254 BGB liegt der allgemeine Rechtsgedanke zugrunde, dass der Geschädigte für jeden Schaden mitverantwortlich ist, bei dessen Entstehung er in zurechenbarer Weise mitgewirkt hat. § 254 BGB ist eine Ausprägung des in § 242 BGB festgelegten Grundsatzes von Treu und Glauben.3

Da die Rechtsordnung eine Selbstgefährdung und Selbstbeschädigung nicht verbietet, geht es im Rahmen von § 254 BGB nicht um eine rechtswidrige Verletzung einer gegenüber einem anderen oder gegenüber der Allgemeinheit bestehenden Rechtspflicht, sondern nur um einen Verstoß gegen Gebote der eigenen Interessenwahrnehmung, also um die Verletzung einer sich selbst gegenüber bestehenden Obliegenheit.4

Die vom Gesetz vorgesehene Möglichkeit der Anspruchsminderung des Geschädigten beruht auf der Überlegung, dass jemand, der diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die nach Lage der Sache erforderlich erscheint, um sich selbst vor Schaden zu bewahren, auch den Verlust oder die Kürzung seiner Ansprüche hinnehmen muss, weil es im Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem unbillig erscheint, dass jemand für den von ihm erlittenen Schaden trotz eigener Mitverantwortung vollen Ersatz fordert.5

Verletzung einer Rechtspflicht erforderlich

Eine Anspruchskürzung gemäß § 254 I BGB hängt nicht davon ab, dass der Geschädigte eine Rechtspflicht verletzt hat.

Zwar ist es nicht zwingend erforderlich, dass er gegen eine gesetzliche Vorschrift oder eine andere Verhaltensanweisung wie etwa eine Unfallverhütungsvorschrift verstoßen hat. Gleichwohl liegt in einem solchen Fall der Verstoß gegen eine Rechtspflicht auf der Hand.

Ein Mitverschulden des Verletzten im Sinne von § 254 I BGB kann aber auch dann anzunehmen sein, wenn dieser diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt.

Er muss sich „verkehrsrichtig" verhalten, was sich nicht nur durch die geschriebenen Regeln der Straßenverkehrsordnung bestimmt, sondern durch die konkreten Umstände und Gefahren im Verkehr sowie nach dem, was den Verkehrsteilnehmern zumutbar ist, um diese Gefahr möglichst gering zu halten.

Danach würde es für eine Mithaftung der A ausreichen, wenn für Radfahrer das Tragen von Schutzhelmen zur Unfallzeit im Jahr 2011 nach allgemeinem Verkehrsbewusstsein zum eigenen Schutz erforderlich war.

Im Hinblick darauf ist also entscheidend, ob das allgemeine Verkehrsbewusstsein das Tragen eines Fahrradhelms als quasi selbstverständlich ansieht, sich also in der Praxis das Tragen eines Helms so verfestigt hat, dass jedermann klar sein muss, im Falle eines Unfalls eine Kürzung der eigenen Ansprüche hinnehmen zu müssen.

Fraglich ist, ob dafür nicht bereits spricht, dass jedermann die erheblichen Gefahren bewusst sein müssen, die gerade im Hinblick auf Kopfverletzungen bestehen, wenn man ohne das Tragen eines Helms auf die Straße stürzt. 6 Dieser Gedanke würde gestützt von einer in den letzten Jahren steigenden Aufklärung im Fernsehen sowie in Kindergärten und Schulen, wo Kindern das Tragen von Radhelmen als wichtig vermittelt wird, sodass es für diese eine Selbstverständlichkeit ist, den Helm zu tragen.

Anmerkung: Und das ist der springende Punkt. Die Frage ist, ob dieses Bewusstsein bereits die gesamte Gesellschaft erreicht hat. Für die Generation „40 plus", gilt, dass es entsprechende verkehrserzieherische Maßnahmen in Schulen und Kindergärten nicht gab. Dass Eltern diese Aufgabe schon damals übernommen haben, ist nicht überliefert. Insoweit ist das Problem, ob das Bewusstsein schon die „Mitte der Gesellschaft" erreicht hat. Nach Ansicht des BGH ist dies (noch) nicht der Fall.

BGH: Tragen eines Helms gehört noch nicht zum allgemeinen Verkehrsbewusstsein

Nach Ansicht des BGH genügen das Verletzungsrisiko und die Kenntnis davon jedoch nicht für die Annahme eines verkehrsgerechten Verhaltens nur dann, wenn man als Radfahrer einen Helm trägt.

Insoweit mag der Fortschritt der Sicherheitstechnik zwar in gewissem Maße Berücksichtigung finden. Die technische Entwicklung hat aber nur bedingte Aussagekraft für die Beurteilung der Frage, welches Verhalten tatsächlich dem heutigen allgemeinen Verkehrsbewusstsein entspricht.

Anmerkung: Der BGH stellt an dieser Stelle einen Vergleich mit einer Entscheidung aus dem Jahr 1974 an, in der es um die identische Frage für das Tragen von Helmen beim Motorradfahren ging. Auch dort argumentierte er damit, dass die Existenz von Gefahren -- auch bedingt durch die zunehmende Mobilität -- alleine nicht genügen kann, um zu einem Mitverschuldensvorwurf zu kommen. Insoweit ein gutes Beispiel dafür, wie sich die juristische Beurteilung eines Falles im Laufe der Jahre ändern kann.

Zudem führte die Durchführung repräsentativer Umfragen in der Praxis zu der Feststellung, dass die „Helmtragequote" zur Zeit des Unfalls nur bei ca. 10 % lag -- wenn auch mit leicht steigender Tendenz.

Auch der Umstand, dass das Thema der Helmtragepflicht in der Politik schon seit Jahren diskutiert wird, eine gesetzliche Normierung bislang jedoch aus verkehrspolitischen Erwägungen unterblieben ist, macht deutlich, dass das Tragen eines Helms heute noch nicht zum anerkannten Verkehrsbewusstsein gehört.

Daher ist mit der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung und der überwiegenden Auffassung der Literatur daran festzuhalten, dass Schadensersatzansprüche eines Radfahrers, der im Straßenverkehr bei einem Verkehrsunfall Kopfverletzungen erlitten hat, die durch das Tragen eines Schutzhelms zwar nicht verhindert, wohl aber hätten gemildert werden können, jedenfalls bei Unfallereignissen bis zum Jahr 2011 grundsätzlich nicht wegen Mitverschuldens gemäß § 9 StVG, § 254 I BGB gemindert sind.

II. Endergebnis

A kann von B Schadensersatz in vollem Umfang gem. § 7 I StVG verlangen. Die Haftung lässt sich in gleicher Weise auf § 18 StVG7, §§ 823 I, II BGB i.V.M. § 1 StVO stützen.8

D) Kommentar

(cda). In der Rechtsprechung wird z.T. noch danach differenziert, ob eine andere Sichtweise angezeigt ist, wenn es um das Radfahren als Sportart geht (Radrennsport).9

Der BGH lässt die Frage dahinstehen, weil sie nicht entscheidungserheblich ist. Gleichwohl erscheint die Differenzierung in der Sache gerechtfertigt, zumal Radrennsportler oft mit erhöhten Geschwindigkeiten unterwegs sind, und -- zum Leidwesen von Autofahrern -- auch häufig nicht auf Radwegen unterwegs sind, auch wenn diese parallel zur Autostraße verlaufen.

Für den „normalen Radfahrer" dürfte sich in den nächsten Jahren bei der juristischen Beurteilung also erst einmal nichts ändern. Es bleibt abzuwarten, ob das vom BGH angedachte Verkehrsbewusstsein in den kommenden Jahren eine Änderung erfährt. Unabhängig von einem Mitverschuldensvorwurf - und damit von einer juristischen Bewertung - gilt natürlich, dass eine volle Haftung auch nicht in der Lage ist, das Gehirn wieder genesen zu lassen. Oder wie es in einem -- zugegeben eher flachen -- Witz heißt: „Auf dem Grabstein steht: Er hatte Vorfahrt".

E) Background

Im Background soll auf das Verhältnis der Normen § 9 StVG und § 17 II StVG zueinander eingegangen werden. Beide Normen führen zu einer Anspruchskürzung, nachdem man einen Anspruch aus § 7 StVG tatbestandlich bejaht hat. Sie schließen sich jedoch gegenseitig aus, sodass ihr jeweiliger Anwendungsbereich abgesteckt werden muss. In der Klausur mit der jeweils falschen Norm zu arbeiten, gilt als schwerwiegender Fehler und muss daher unbedingt vermieden werden!

Im Folgenden soll dies zunächst jeweils abstrakt erfolgen, sodann sollen die Probleme anhand eines BGH-Falles verdeutlicht werden.

I. § 17 II StVG

§ 17 StVG regelt generell das Verhältnis mehrerer Halter (Fahrer bzw. Fahrer/Halter, § 18 III StVG) zueinander. In der Variante des § 17 I StVG besteht (mindestens) ein Drei-Personen-Verhältnis dergestalt, dass mehrere Halter einem Dritten zum Ersatz verpflichtet sind. Es handelt sich dann um eine Situation einer gesamtschuldnerischen Haftung, bei welcher der von dem Dritten in Anspruch genommenen Halter gem. § 17 I StVG Ersatz verlangen kann. § 17 I StVG ist also eine eigenständige Anspruchsgrundlage! Diese verdrängt § 426 I BGB auch dann, wenn parallel zur StVG-Haftung der einzelnen Halter auch deliktische Ansprüche bestehen. Die verdrängende Wirkung lässt sich damit erklären, dass die Kriterien, welche in die Abwägung einfließen, Kfz-spezifisch sind und daher vorrangig auch bei deliktischen Ansprüchen zur Anwendung kommen sollen.

§ 17 II StVG regelt zwar auch das Verhältnis mehrerer Halter zueinander, ist aber keine eigene Anspruchsgrundlage (!), sondern -- wie bereits erwähnt -- eine Kürzungsnorm im Rahmen der wechselseitig bestehenden Ansprüche aus § 7 StVG. Auch in einer solchen Beziehung muss die Haftungsquote geklärt werden. Die Bezugnahme auf § 17 I StVG macht deutlich, dass dieselben Kriterien in die Abwägung einfließen sollen.

Ausgangspukt dieser Abwägung ist die Überlegung, dass zwar beide Halter aus Gefährdungshaftung verantwortlich sind, im Innenverhältnis allerdings nicht zwingend eine hälftige Aufteilung der Verantwortung erfolgen kann, weil -- um es einfach auszudrücken -- nicht jedes Fahrzeug gleich gefährlich ist. Ein höherer Gefährdungsgrad wirkt sich zwar nicht im Außenverhältnis aus, im Innenverhältnis jedoch schon. Die „Gefährlichkeit" beschreibt man juristisch mit dem Begriff der Betriebsgefahr eines Kfz. Darunter versteht man die Summe aller gefährdenden Merkmale, die von dem konkreten Kfz in der konkreten Situation in den Verkehr getragen werden.

Man kann also die Betriebsgefahr nie abstrakt einschätzen bzw. beurteilen, da sich die abstrakt gefährdenden Merkmale auch in der konkreten Unfallsituation kausal ausgewirkt haben müssen.

Bsp.: Verfügt ein Fahrzeug laut Sachverhalt etwa über schlechte Bremsen, beeinflusst das den Umfang der Betriebsgefahr dann nicht, wenn sich die schlechten Bremsen in der Unfallsituation nicht auch gefährdend ausgewirkt haben, also kausal für das Unfallereignis geworden sind.

Ausgangspunkt der Betrachtung ist dabei, dass sich jeweils sog. einfache Betriebsgefahren gegenüberstehen, was zu einer hälftigen Haftung führen würde. Sodann betrachtet man, ob bei einem der Fahrzeuge von einer erhöhten Betriebsgefahr auszugehen ist, was zu einer Verschiebung der Quote führen kann. So erhöht z.B. ein Fahrfehler des Fahrers (Haftungseinheit zwischen Fahrer und Halter) die Betriebsgefahr des Kfz, wenn sich dies wiederum im Schadensereignis widerspiegelt (Kausalität).10

Danach wird auch beim anderen Kfz geprüft, ob eine Erhöhung der Betriebsgefahr in Betracht kommt, so dass sich die Quote ggfs. auf 50:50 „zurück"-verschiebt.

Denkbar ist auch, dass im Innenverhältnis einer der Halter gar nicht haftet. Dies ist der Fall, wenn es sich bei dem Unfall um ein unabwendbares Ereignis handelt, § 17 III S. 1 StVG (stets vor obiger Abwägung zu prüfen). Dabei stellt man auf einen Idealfahrer ab, der den strengsten Sorgfaltsanforderungen genügt und sich absolut verkehrsgerecht verhält.

Auch wenn § 17 III S. 1 StVG nicht greift, kann die Haftung vollständig ausgeschlossen sein, aufgrund einer Quotenbildung im oben beschriebenen Sinne. Dies kommt dann in Betracht, wenn auf der einen Seite nur eine einfache Betriebsgefahr besteht, auf der anderen Seite eine erhöhte Betriebsgefahr mit grob verkehrswidrigem Verhalten des Fahrers zusammentrifft.

II. § 9 StVG

Hat man die Systematik des § 17 StVG verstanden, wird deutlich, warum der Gesetzgeber meinte, eine weitere Kürzungsnorm schaffen zu müssen. Nicht immer stellt sich die Frage nach der Verantwortung mehrerer Halter zueinander. In der Unfallsituation kann es auch darum gehen, dass ein sonstiger Verkehrsteilnehmer Ansprüche aus § 7 StVG geltend macht, sich selbst aber nicht korrekt verhalten hat, sodass eine Kürzung wegen „Mit"-Verschuldens11 in Betracht kommt.

Es streiten in solchen Fällen nicht die Betriebsgefahren mehrerer Fahrzeuge miteinander. Bei § 9 StVG geht es daher stets um das Verhältnis eines Halters zu einem sonstigen Verkehrsteilnehmer (insbesondere Fußgänger oder -- wie im oben besprochenen BGH-Fall -- Radfahrer).

§ 9 StVG beinhaltet dabei die Maßgabe, dass das Verschulden desjenigen, welcher die tatsächliche Gewalt über die Sache ausübt, dem Verschulden des Verletzten gleichsteht. In einem solchen Fall wird also Verschulden unabhängig vom Bestehen eines Schuldverhältnisses zugerechnet. Denn im BGB kann ein Fehlverhalten Dritter nur bei Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 254 II S. 2, 278 BGB zugerechnet werden. Dabei handelt es sich nach h.M. um eine Rechtsgrundverweisung auf § 278 BGB, sodass der Tatbestand (u.a. also das Vorliegen einer Sonderverbindung) erst einmal bejaht werden können muss.

Eine Verschuldenszurechnung Dritter ist daher im StVG unter leichteren Voraussetzungen möglich, als dies im BGB der Fall ist. Hintergrund ist der Umstand, dass die Haftung im StVG auch strenger ist. Quasi als Ausgleich soll dann eine Anspruchskürzung leichter möglich sein, als nach der Systematik des BGB.12

III. Beispielsfall zur Abgrenzung13

LG und LN schließen einen Finanzierungsleasingvertrag über die Dauer von vier Jahren. LN verursacht mit dem Leasingfahrzeug schuldhaft einen Unfall mit dem Kfz des K, der den Unfall ebenfalls schuldhaft herbeigeführt hat. LG als Eigentümer des Leasingfahrzeugs nimmt nun K aus § 7 I StVG sowie § 823 I BGB in Anspruch.14 Haftet K in vollem Umfang, oder muss sich LG das Fehlverhalten des LN anspruchskürzend zurechnen lassen? Es ist von einer Verantwortungsquote von 50:50 im Verhältnis LN und K auszugehen.

1. Anspruch aus § 7 I StVG

Der Tatbestand des § 7 I StVG ist unproblematisch verwirklicht. Bei Betrieb des Kfz des Halters K ist eine Sache -- das Leasingfahrzeug -- des LG beschädigt worden. Soweit es um die Kürzung des Anspruchs wegen Mitverschuldens des LN geht, muss zunächst geklärt werden, welche Kürzungsnorm in dieser Situation anwendbar ist. § 9 StVG würde vom Wortlaut her auf die Situation passen, weil der LN die tatsächliche Gewalt über das beschädigte Leasingfahrzeug ausübt. § 9 StVG wäre aber nur dann anwendbar, wenn nicht vorrangig auf § 17 II StVG abzustellen wäre. Hier müsste diskutiert werden, ob sich die Betriebsgefahr um das Mitverschulden des Fahrers LN erhöht hat. Voraussetzung der Anwendbarkeit wäre aber, dass es im Verhältnis von K und LG um das Verhältnis zweier Halter zueinander geht. Dann müsste LG Halter des Leasingfahrzeugs sein. Das ist aber nach einhelliger Ansicht beim klassischen Finanzierungsleasing nicht der Fall, weil hier die Gewalt über die Sache dauerhaft vom Leasingnehmer ausgeübt wird, in dessen Interesse und auf dessen Risiko und Rechnung das Fahrzeug im Straßenverkehr bewegt wird. Da LG also nicht Halter seines Kfz ist, kommt es gem. des damit anwendbaren § 9 StVG zur Kürzung des Anspruchs.

2. Anspruch aus § 823 BGB

Bei einem Anspruch aus § 823 I BGB -- der tatbestandlich verwirklicht wurde -- ist zunächst zu prüfen, ob sich LG das Fehlverhalten des LN gem. §§ 254 II S. 2, 278 BGB zurechnen lassen muss. Wie bereits erwähnt, handelt es sich jedoch um eine Rechtsgrundverweisung, nach welcher eine Sonderverbindung zwischen LG und K bestehen müsste, im Rahmen derer LN mit Wissen und Wollen des LG eingesetzt wird. Die Sonderbeziehung der unerlaubten Handlung ist aber keine i.S.d. § 823 I BGB, da sie erst mit dem Unfallereignis entsteht, im Vorfeld also denknotwendig der LG den LN nicht wissentlich und willentlich eingesetzt haben kann.

§ 9 StVG findet keine analoge Anwendung (s.o.), sodass der Anspruch ungekürzt besteht.

Anmerkung: Man hat hier also das seltene Ergebnis, dass die Haftung nach Delikt weiter reicht als die nach StVG. Für K ist dies jedoch nicht schlimm, da er bei LN Regress nehmen kann. Denn auch LN wäre dem LG zum Ersatz verpflichtet. Unabhängig vom Leasingvertrag haftet er diesem nämlich nach § 823 I BGB auf Schadensersatz.15 Demgemäß besteht eine Gesamtschuld zwischen K und LN, sodass K nach § 17 I StVG gegen LN vorgehen kann.16

F) Zur Vertiefung

  • Zur Systematik der §§ 249 ff. BGB bei Unfällen im Straßenverkehr Hemmer/Wüst, Schadensersatzrecht III, Rn. 118 ff.

G) Wiederholungsfragen

  1. Was setzt ein Mitverschuldensvorwurf voraus?
  2. Wonach bemisst sich die Frage nach einem Verstoß gegen eine Rechtspflicht, wenn es an einer gesetzlichen Kodifikation fehlt?

  1. Vgl. Sie dazu ausführlich Hemmer/Wüst, Schadensersatzrecht III, Rn. 118 ff.

  2. Mit „grundsätzlich" ist gemeint, dass es Fälle der Beweislastumkehr in der Rechtsprechung gibt, so z.B. im Rahmen der Produzentenhaftung. In Fällen des § 823 II BGB neigt der BGH dazu, aus der Verletzung des Schutzgesetzes auf ein Verschulden zu schließen, vgl. Palandt, § 823 BGB, Rn. 81 m.w.N. Faktisch liegt in solchen Fällen dann auch eine Haftung für vermutetes Verschulden vor.

  3. BGH, VersR 1981, 1178 ff.

  4. BGH, VersR 2010, 270 ff.

  5. BGH, VersR 1998, 1443 ff.

  6. So im Ergebnis die Vorinstanz, OLG Schleswig, Urteil vom 05.06.2013, 7 U 11/12.

  7. Ein Fahrer, der nicht zugleich Halter ist, verliert die Eigenschaft als Fahrer erst in dem Moment, in dem er die Gewalt über das Fahrzeug aufgibt. Voraussetzung ist aber, dass er es ordnungsgemäß abgestellt hat. Setzt sich das am Hang geparkte Fahrzeug z.B. in Bewegung, nachdem es der Fahrer dort abgestellt hat, ohne die Handbremse anzuziehen, wirkt die Fahrereigenschaft quasi noch nach.

  8. Hinweis für Referendare: Beim Abfassen eines Urteils empfiehlt es sich, die Entscheidungsgründe an § 7 StVG auszurichten und im Hilfsgutachten kurz auf die sonst in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen zu verweisen. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Klage allein auf Basis von § 7 StVG vollständig begründet ist. In dem seltenen Fall, dass sich -- etwa wegen der erleichterten Zurechnung von Mitverschulden Dritter gem. § 9 StVG -- nur aus § 823 BGB eine volle Haftung ergibt (vgl. dazu den Background zu dieser Entscheidung), gehören die Ausführungen dazu natürlich in die Entscheidungsgründe. Dabei prüft der BGH vorrangig § 823 II BGB, weil er häufig aus der Verletzung des Schutzgesetzes auf ein Verschulden schließt.

  9. Mitverschulden bejaht von OLG Düsseldorf, NZV 2007, 614, 618.; OLG Saarbrücken, NJW-RR 2008, 266 f.

  10. Es würde also -- wie bei dem Beispiel mit den schlechten Bremsen -- nicht genügen, z.B. festzustellen, dass der Fahrer unter Alkoholeinfluss stand, wenn sich dies nicht auf den konkreten Unfall ausgewirkt hat.

  11. Der Begriff ist hier etwas problematisch, weil die Haftung selbst ja nicht (zwingend) verschuldensabhängig ist, sodass auch nur auf der Seite des Verletzten ein Verschulden gegeben sein kann. Der Begriff kann trotzdem verwendet werden, weil im Ergebnis natürlich nichts anderes gelten kann, als in einer Situation, in der alle Beteiligten schuldhaft agiert haben.

  12. Daher findet § 9 StVG -- anders als § 17 StVG -- auch keine analoge Anwendung auf deliktische Ansprüche. Eine dem § 9 StVG vergleichbare Systematik findet sich im Rahmen der Produkthaftung gem. § 1 I S. 1 ProdHaftG. Auch dort findet sich eine Kürzungsnorm, die nicht auf die Existenz einer Sonderverbindung abstellt, § 6 ProdHaftG.

  13. Nach BGH, Urteil vom 10.07.2007, VI ZR 199/06 = Life & Law 12/2007, 817 ff.

  14. In einer Klausur wäre parallel noch an eine Haftung aus § 18 StVG sowie § 823 II BGB i.V.m. § 1 StVO zu denken. Es geht vorliegend aber nur darum, die Unterschiede in den Haftungssystemen von StVG und BGB darzustellen, sodass auf diese Anspruchsgrundlagen nicht eingegangen werden soll. In der Klausur müssten diese aber natürlich auch geprüft werden.

  15. Eine Haftung gem. § 7 I StVG besteht demgegenüber nicht, denn das Leasingfahrzeug, welches beschädigt wurde, fällt nicht in den Schutzbereich des § 7 I StVG, weil es darum geht, Dritte vor den Gefahren des Leasingfahrzeugs zu schützen, nicht aber zugunsten der Gefahrenquelle selbst eine Gefährdungshaftung zu statuieren, vgl. BGH, Urteil vom 07.12.2010, VI ZR 288/09 = Life & Law 04/2011, 240 ff.

  16. Auch wenn LN nicht gem. § 7 I StVG haftet, wendet die h.M. in diesem Fall § 17 I StVG an, der seinem Wortlaut ja nur nach einer gesetzlichen Haftung verlangt, die mit § 823 I BGB ja besteht. Nur so können auch die Betriebsgefahren der beiden Kfz gegeneinander abgewogen werden.