Dauerobservation, gestützt auf Generalklausel? -- Zur Not ja!

OVG Münster, Urteil vom 05.07.2013 -- 5 A 607/11, DVBl. 2013, 1267

von Life and Law am 01.07.2014

+++ Rechtsgrundlage für die offene Dauerobservation rückfallgefährdeter Straftäter +++ Rechtsschutz gegen polizeiliche Realakte +++ Unvermeidbare Betroffenheit von Angehörigen +++

Sachverhalt (vereinfacht): T wurde im Jahr 2010 wegen sexuellen Missbrauchs zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. T zog nach dem Ende seiner Haftstrafe im Jahr 2013 zu seiner Mutter M in die Nordrhein-westfälische Stadt Coesfeld (C). Ein Gutachten hatte zwar ergeben, dass T noch immer akut gefährdet ist, schwere Sexualstraftaten zu begehen. Eine nachträgliche Sicherungsverwahrung war, nach Urteilen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, aus rechtlichen Gründen aber nicht möglich.

In der Stadt C regte sich gegen den „unerwünschten neuen Einwohner" Widerstand. Die örtliche Polizei beschloss daraufhin, T 24 Stunden am Tag, sieben Tage pro Woche durch Polizeibeamte zu überwachen, damit dieser keine Straftaten mehr begehen kann.

Da sich T weitestgehend in dem Haus seiner Mutter aufhielt, fand der größte Teil der Observation durch Beamte vor dem Haus der M statt.

M fühlt sich selbst von der Observation betroffen und hält diese für rechtswidrig. Zum einen bestehe für eine solche Dauerobservation ihres Wissens nach keine Rechtsgrundlage. Jedenfalls könne es doch nicht angehen, dass sie selbst, die sich noch nie etwas hat zu Schulden kommen lassen, faktisch mit observiert würde.

M erhebt daher Klage vor dem örtlich zuständigen Verwaltungsgericht Münster und verlangt, dass der Polizei die Observation untersagt werde.

Hat die Klage Aussicht auf Erfolg?

A) Sounds

1. § 16a PolG NRW ist keine ausreichende Rechtsgrundlage für eine offene Dauerobservation hochgradig rückfallgefährdeter Sexual- und Gewaltstraftäter, die aus Rechtsgründen nicht in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden können.

2. Fehlt für die Dauerobservation eines rückfallgefährdeten Straftäters eine spezielle Rechtsgrundlage, so kann eine solche Maßnahme vorübergehend und unter strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf die polizeiliche Generalklausel gestützt werden.

3. Die polizeiliche Generalklausel deckt auch die Mitbeobachtung anderer Personen ab, die nicht Ziel der Observation, von dieser aber unvermeidbar betroffen waren.

B) Problemaufriss

Seit der Einschränkung der Möglichkeit einer nachträglichen Sicherungsverwahrung durch BVerfG1 und EGMR2 verlagert sich die problematische Frage, wie mit rückfallgefährdeten Straftätern zu umzugehen ist, aus dem Strafprozessrecht heraus in das Recht der Gefahrenabwehr: Der Straftäter wird nach Ablauf der Haftzeit entlassen und nun muss die Polizei die Bevölkerung vor dem weiterhin gefährlichen Ex-Häftling schützen (bzw. in manchen Fällen auch den Ex-Häftling vor der Bevölkerung ... ).

Weil diese Situation aber recht neu ist, fehlen bislang weitgehend gesetzliche Grundlagen für eine solche Gefahrenabwehr. Nötig wären solche Rechtsgrundlagen in den Landespolizeigesetzen.

Diese Konstellation hat einige Entscheidungen der Verwaltungsgerichte hervorgebracht, die über die Rechtmäßigkeit polizeilicher Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Straftaten von verurteilten Straftätern zu urteilen hatten. Kernproblem dieser Fälle ist die Suche nach einer einschlägigen Rechtsgrundlage für das Handeln der Polizei.

C) Lösung

Zu prüfen sind die Erfolgsaussichten der Klage.

Die Klage der M hätte Erfolg, wenn die Entscheidungskompetenz des Gerichts gegeben wäre (I.) und die Klage zulässig (II.) und begründet (III.) ist.

Anmerkung: Hier wurde ein dreistufiger Aufbau gewählt. Es ist aber ebenso gut vertretbar, die Entscheidungskompetenz des Gerichts und die Zulässigkeitsvoraussetzungen unter einem Punkt „Sachentscheidungsvoraussetzungen" zusammenzufassen. Teilweise wird die Entscheidungskompetenz des Gerichts noch immer als Zulässigkeitsvoraussetzung angesehen. Dies ist aber aufgrund § 83 VwGO i.V.m. § 17a II S. 1 GVG zumindest ungenau, weil hiernach bei einer Unzuständigkeit des Gerichts keine Abweisung der Klage als unzulässig erfolgt, sondern die Sache an das zuständige Gericht verwiesen wird.

I. Entscheidungskompetenz des VG

Zunächst müsste die Entscheidungskompetenz des Gerichts eröffnet sein.

1. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

Mangels aufdrängender Sonderzuweisung richtet sich die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs nach der Generalklausel des § 40 I S. 1 VwGO. Nachdem hier Normen des PolG NRW, die nach der Subordinationstheorie dem öffentlichen Recht zuzuordnen sind, streitentscheidend sind, liegt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vor, die mangels doppelter Verfassungsunmittelbarkeit auch nichtverfassungsrechtlicher Art ist.

Es dürfte aber auch keine abdrängende Sonderzuweisung bestehen. Eine solche könnte hier mit § 23 I S. 1 EGGVG einschlägig sein. Hiernach sind Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit von Justizverwaltungsakten, also repressiven Maßnahmen, den ordentlichen Gerichten zugewiesen. Eine solche repressive Maßnahme könnte hier vorliegen, nachdem die Polizei in erster Linie tätig geworden ist, weil T bereits Straftaten begangen hat.

Anmerkung: Versuchen Sie auch, die Andeutungen im Sachverhalt richtig einzuordnen. Indem die M ausführte, die Dauerobservation sei doch nur eine zweite Strafe für die Taten des T, ist das Problem, ob die Maßnahme eventuell repressiven Charakter hat, aufgeworfen und muss sich in der Lösung an allen hierfür relevanten Stellen wiederfinden.

Hier geht es der Polizei aber erkennbar darum, T von weiteren Straftaten abzuhalten. Der absolute Schwerpunkt der Maßnahme liegt damit im präventiven Bereich. Es liegt damit kein Justizverwaltungsakt vor. § 23 I S. 1 EGGVG ist nicht einschlägig.3

Somit ist der Verwaltungsrechtsweg gem. § 40 I S. 1 VwGO eröffnet.

2. Zuständigkeit des VG

Laut Sachverhalt hat die M Klage zum VG Münster erhoben. Dies ist vorliegend auch gem. § 45 VwGO sachlich und nach dem Bearbeitervermerk auch örtlich zuständig.

3. Zwischenergebnis

Die Entscheidungskompetenz des VG Münster ist eröffnet.

II. Zulässigkeit

Die Klage müsste auch zulässig sein.

1. Statthafte Klageart

Fraglich ist, welche Klageart vorliegend statthaft ist. Dies richtet sich gem. § 88 VwGO grundsätzlich nach dem Klagebegehren. Hier möchte M durch ihre Klage erreichen, dass der Polizei die Fortführung der Observation untersagt wird. Begehrt wird also das Unterlassen einer polizeilichen Maßnahme. Diese Maßnahme stellt einen Realakt dar.

Anmerkung: Dieses Ergebnis ist zwingend. Es wäre falsch, wenn hier das Standardwissen zum Vorliegen eines Verwaltungsakts wegen konkludenter Duldungsanordnung „abgespult" würde. Die Maßnahme erschöpft sich nämlich darin, dass die Polizei jemanden beobachtet. Diese Beobachtung erfolgt zwar nicht heimlich, sondern offen. Es hängt trotzdem vom Zufall ab, ob und wann der Betroffene bemerkt, dass er observiert wird. Eine Bekanntgabe, die auch Voraussetzung einer konkludenten Duldungsanordnung ist - es muss schließlich die Duldung angeordnet werden -, fehlt somit. Mangels irgendwie gearteter (und bekannt gegebener) Regelung, die den Beobachten treffen könnte, liegt damit jedenfalls kein Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG vor!

Statthafte Klageart, um das Unterlassen polizeilicher Realakte prozessual durchzusetzen, ist die allgemeine Leistungsklage in Gestalt der Unterlassungsklage. Zwar ist die allgemeine Leistungsklage in der VwGO nicht ausdrücklich geregelt. Sie wird jedoch als selbstverständlich an mehreren Stellen in der VwGO vorausgesetzt (§§ 43 II, 111, 113 IV VwGO).

2. Klagebefugnis, § 42 II VwGO analog

Fraglich ist weiterhin, ob M überhaupt klagebefugt ist. Zwar sieht das Gesetz in § 42 II VwGO das Erfordernis einer möglichen Rechtsverletzung nur als Zulässigkeitsvoraussetzung für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen vor. Hieraus wird aber das allgemeine Gebot, Popularklagen zu vermeiden, abgeleitet. Dieses Gebot gilt auch im Rahmen der allgemeinen Leistungsklage.

Die Klagebefugnis könnte vorliegend daran scheitern, dass M gar nicht das Ziel der Observation war, sondern nur „nebenbei" mit beobachtet wurde.

Dies kann auf die Klagebefugnis der M aber keine Auswirkungen haben, weil die mögliche Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einer Person nicht davon abhängt, ob sie gezielt beobachtet wird oder nicht. Der Eingriff in Persönlichkeitsrechte lässt sich gerade nicht an äußeren objektiven Umständen fest machen, sondern in der Beeinträchtigung der eigenen freien Entfaltung. Geschützt ist also durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die daraus abgeleiteten Rechte das Leben ohne ein inneres Unbehagen, in der Kenntnis, dass man beobachtet wird. Dieses Unbehagen besteht aber unabhängig von der Frage, aus welchem Grund der Betroffene beobachtet wird.4

Anmerkung: Die Frage, ob eine Observation der M, die sog. Nichtstörerin ist, auch rechtmäßig ist, wird erst im Rahmen der Begründetheit relevant und ist hier daher noch nicht zu erörtern.

3. Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen

Vom Vorliegen der sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzungen ist auszugehen.

Anmerkung: In einer Klausur müsste hier jedenfalls noch auf die beteiligtenbezogenen Zulässigkeitsvoraussetzungen eingegangen werden. Erörterungen über Form und Rechtsschutzbedürfnis sind in der Regel unnötig. Eine Frist ist im Rahmen der allgemeinen Leistungsklage nicht einzuhalten.

III. Begründetheit

Die Klage der M wäre begründet, wenn ihr der geltend gemachte Unterlassungsanspruch zusteht.

1. Anspruchsgrundlage für öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch

Fraglich ist zunächst, auf welche Anspruchsgrundlage ein Unterlassungsbegehren im öffentlichen Recht gestützt werden kann. Eine spezialgesetzliche Anspruchsgrundlage besteht insoweit nicht.

Dennoch ist allgemein anerkannt, dass wegen Art. 19 IV GG, der umfassenden Rechtsschutz gebietet, ein solcher Anspruch besteht. Uneinigkeit herrscht einzig über die gesetzliche Grundlage. Teilweise wird vertreten, dass ein solcher Anspruch aus der allgemeinen Abwehrfunktion der Grundrechte gegen rechtswidriges staatliches Handeln abzuleiten sei. Die andere Ansicht zieht hingegen den zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch aus § 1004 BGB analog heran.

Eine Entscheidung über die Herleitung kann letztlich (auch in der Klausur) unterbleiben, da die Existenz eines solchen Anspruchs unstreitig ist.

Tatbestandsvoraussetzungen sind mithin, dass entweder bereits andauernd (schlichter Unterlassungsanspruch) oder bevorstehend (vorbeugender Unterlassungsanspruch) ein rechtswidriger Eingriff durch hoheitliches staatliches Handeln in subjektive Rechte des Betroffenen vorliegt.

2. Hoheitlicher Eingriff in subjektive Rechte der M?

Erste Voraussetzung wäre somit, dass das Handeln der Polizei einen Eingriff in die Rechte der M darstellt. Insoweit kommt ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der M in Betracht, das aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG abgeleitet wird. In den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts fällt insbesondere der Schutz der Privat- und Intimsphäre als engerer Lebensbereich.5

Anmerkung: Neben dem Schutz der Privat- und Intimsphäre werden aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht auch der Schutz der Selbstdarstellung abgeleitet, der insbesondere das Recht am eigenen Bild, das Recht am eigenen Wort und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung beinhaltet, sowie der Schutz der persönlichen Ehre und der Schutz der Grundbedingungen der Persönlichkeitsentfaltung. Letzterer beinhaltet auch das Recht von Straftätern auf Resozialisierung.

Der Staat ist daraus folgend gehalten, einer sozialen Isolierung entgegenzuwirken. Dieser Teil des Schutzbereichs wäre hinsichtlich der Dauerobservation des T durchaus relevant. Da es hier aber nur um die M geht, die selbst weder Straftäterin ist noch resozialisiert werden müsste, kommt ein Eingriff insoweit nicht in Betracht.

Nachdem die Polizeibeamten den T dauerhaft observieren und diese Observation auch erfolgt, wenn sich dieser in seiner Wohnung befindet, in der auch die M wohnt, findet faktisch teilweise auch eine Observation der M statt. Die Beobachtung erfolgt dabei insbesondere im privaten Bereich der M, sodass ein Eingriff in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der M aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG vorliegt.

3. Rechtswidrigkeit

Dieser Eingriff müsste aber auch rechtswidrig sein. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist nicht schrankenlos gewährleistet, sondern unterliegt der Schrankentrias nach Art. 2 I HS 2 GG. Hieran ändert nach h.M. auch die Einwirkung von Art. 1 I GG in das allgemeine Persönlichkeitsrecht nichts, da es sich hierbei um eine reine Interpretationsrichtlinie handelt.

Als Teil der Schrankentrias kommt daher insbesondere eine Rechtfertigung aufgrund der Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung in Betracht. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht steht somit unter einfachem Gesetzesvorbehalt.

a) Rechtsgrundlage für die Dauerobservation

Eine Rechtfertigung läge also vor, wenn sich das Handeln der Polizei auf eine ausreichende Rechtsgrundlage stützen ließe.

§ 16a PolG NRW

Als Rechtsgrundlage für die Dauerobservation eines rückfallgefährdeten Straftäters kommt zunächst § 16a PolG NRW in Betracht.

Hiernach kann die Polizei

personenbezogene Daten erheben durch eine durchgehend länger als 24 Stunden oder an mehr als an zwei Tagen vorgesehene oder tatsächlich durchgeführte und planmäßig angelegte Beobachtung (längerfristige Observation)

  1. über die in den §§ 4 und 5 genannten und unter den Voraussetzungen des § 6 über die dort genannten Personen, wenn dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erforderlich ist,
  2. *über Personen, soweit Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass

    diese Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wollen, sowie über deren Kontakt- oder Begleitpersonen, wenn die Datenerhebung zur vorbeugenden Bekämpfung dieser Straftaten erforderlich ist*.

Dabei dürfen auch personenbezogene Daten über andere Personen erhoben werden, soweit dies erforderlich ist, um eine Datenerhebung nach Satz 1 durchführen zu können."

Das OVG Münster sieht in § 16a PolG NRW jedoch (in Übereinstimmung zur überwiegenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung in anderen Bundesländern6) keine ausreichende Rechtsgrundlage für solche Fälle.

Zwar erfasse der oben wiedergegebene Wortlaut im weiteren Sinne auch die in Rede stehende Fallgestaltung. Zudem sollte die erstmals mit § 16 PolG NRW a.F. geschaffene besondere Rechtsgrundlage für eine Datenerhebung durch Observation nach dem Willen des Gesetzgebers nicht nur zu verdeckten, sondern auch zu offenen Observationen ermächtigen.

teleologische Reduktion des § 16a PolG NRW

Eine jahrelange, die Betroffenen auf Schritt und Tritt begleitende Observation rückfallgefährdeter Gewalt- bzw. Sexualstraftäter habe dem Gesetzgeber bei der Schaffung dieser Vorschrift jedoch nicht vor Augen gestanden. Er habe dementsprechend deren spezifische Eingriffslage und weitere Besonderheiten nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise abgewogen und in den formellen und materiellen Tatbestandsvoraussetzungen nicht hinreichend berücksichtigt.

Darüber hinaus ziele § 16a PolG NRW nach dem Sinn und Zweck in erster Linie auf eine Datenerhebung ab. Dies komme zum einen durch die systematische Stellung im Unterpunkt „III. Besondere Mittel der Datenverarbeitung" zum Ausdruck. Zum anderen weise auch der Wortlaut einen spezifischen Bezug zur Datenerhebung auf. Eine längerfristige - offene - Observation der hier im Streit stehenden Art diene aber der Gefahrenabwehr in erster Linie nicht durch eine Datenerhebung, die nur als Randerscheinung der Observation „mitverwirklicht" wird.

Vorrangig bezweckt sei vielmehr eine fortwährende Beeinflussung des Verhaltens des Observierten. Ein Hangstraftäter, dem es nicht an jeder Steuerungsfähigkeit mangelt, werde sich durch die lückenlose und auf lange Zeit angelegte polizeiliche Beobachtung außerhalb seiner Wohnräume regelmäßig von der Begehung weiterer Straftaten abhalten lassen. Denn er weiß, dass er aller Voraussicht nach gefasst und darüber hinaus schon an der Tat gehindert würde. Notfalls soll der Polizei durch die Observation ein derartiges sofortiges Eingreifen ermöglicht werden. Damit ziele die Maßnahme nicht in erster Linie auf Eingriffe in das Recht des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung ab, sondern beeinträchtige zu allererst die Privatsphäre des Betroffenen.

Aus diesen Gründen scheidet § 16a PolG NRW als Rechtsgrundlage vorliegend aus.

§ 8 I PolG NRW

Nachdem § 16a PolG NRW als spezielle Rechtsgrundlage daher ausscheidet und auch im Übrigen keine speziellen Rechtsgrundlagen ersichtlich sind, stellt sich die Frage, ob die Maßnahme stattdessen auf die polizeiliche Generalklausel, § 8 I PolG NRW, gestützt werden kann.

Zwar ist ein Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel als Auffangtatbestand grundsätzlich problematisch, wenn es um Maßnahmen geht, die eine derart hohe Eingriffsintensität aufweisen, wie die vorliegende. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BVerfG7 können aber Maßnahmen auch dann auf die Generalklausel gestützt werden, wenn und soweit dies für eine effektive Gefahrenabwehr notwendig ist, um auf veränderte tatsächliche oder rechtliche Umstände reagieren zu können, die der Gesetzgeber noch nicht erfassen und regeln konnte.

Anmerkung: Die Notwendigkeit dieses Rückgriffs ist den unterschiedlichen Reaktionszeiten von Legislative und Exekutive geschuldet. Die Verwaltung ist nämlich sofort mit den veränderten Umständen konfrontiert und muss hierauf reagieren. Die Legislative braucht hingegen im Gesetzgebungsverfahren einen beträchtlichen Zeitraum, um ein Gesetz zu verabschieden, das neu aufgetretene Fälle regelt. Es liegt auf der Hand, dass insbesondere im Bereich der Gefahrenabwehr der Behörde die Möglichkeit eingeräumt sein muss, vor dem Gesetzgeber auf derartige Fälle zu reagieren. Im Spannungsverhältnis steht diese Notwendigkeit zu dem Vorbehalt des Gesetzes und somit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 III GG, das die Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung gerade einschränkt und den Gesetzgeber zur verfassungskonformen Regelung sämtlicher Fälle zwingt. Dieses Spannungsverhältnis lösen das OVG Münster und auch das BVerfG mit einer zeitlichen Begrenzung und strengen Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf (dazu näher unten).

Das OVG Münster setzt sich vor diesem Hintergrund auch damit auseinander, ob es sich überhaupt noch gem. Art. 92 GG im Rahmen der rechtsprechenden Gewalt bewegt, wenn es faktisch als (Aushilfs-)Gesetzgeber agiert. Insoweit führt es aus, dass durch diese Rechtsprechung sogar die Notwendigkeit der Gesetzgebung mit dem damit verbundenen Zeitaufwand anerkannt werde, also dem Gesetzgeber hierdurch nur die nötige Zeit verschafft werde, um die neuen Fälle ausreichend zu regeln.

Lösung des OVG Münster

Das OVG Münster bejaht die Möglichkeit, die Maß-nahmen der Polizei im vorliegenden Fall auf die Generalklausel des § 8 I PolG NRW zu stützen.

In der Rechtsprechung sei anerkannt, dass es aus übergeordneten Gründen des Gemeinwohls geboten sein kann, eine Behördenpraxis, die erst aufgrund eines Wandels der verfassungsrechtlichen Anschauungen den bis dahin angenommenen Einklang mit der Verfassung verliert, vorübergehend hinzunehmen, bis der Gesetzgeber Gelegenheit gehabt hat, die Regelungslücke zu schließen.

Eine solche Lückenschließung komme danach jedenfalls dann in Betracht, wenn dies zur Schließung gravierender, bei einer Abwägung der gegenläufigen verfassungsrechtlichen Positionen nicht mehr vertretbarer Schutzlücken geboten ist.

Eine solche Situation habe in dem vorliegenden Fall vorgelegen: Ein Verbot der längerfristigen polizeilichen Observation gefährlicher Sexualstraftäter in diesem Zeitraum hätte der öffentlichen Sicherheit einen Schaden zugefügt, der außer Verhältnis zu den Nachteilen stünde, welche die hiervon Betroffenen durch den gesetzlich unzureichend geregelten Zustand hinnehmen mussten. Der Schutz der Allgemeinheit vor solchen Verurteilten, von denen auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen schwere Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, stelle ein überragendes Gemeinwohlinteresse dar. Es sei Aufgabe des Staates, diesen Schutz durch geeignete Mittel zu gewährleisten. Die Schutzlücke bestehe vor allem aufgrund des seit dem 10.05.2010 endgültigen Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte,8 in dessen Folge zahlreiche Verurteilte aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden mussten, obwohl bei ihnen weiterhin die Gefahr bestand, dass sie erhebliche Straftaten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Hinzu kommen Einzelfälle, in denen trotz hoher Gefahr erneuter schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach vollständiger Verbüßung der Haft

  • wie hier - aus Rechtsgründen ausgeschlossen war.

b) Formelle Rechtmäßigkeit

Von der formellen Rechtmäßigkeit der Maßnahme ist entgegen anderslautender Anhaltspunkte auszugehen.

c) Materielle Rechtmäßigkeit

Fraglich ist jedoch, ob die Maßnahme materiell rechtmäßig war. Hierzu müsste zunächst der Tatbestand der Rechtsgrundlage erfüllt sein und die gewählte Maßnahme auch auf Rechtsfolgenseite verhältnismäßig und ermessensfehlerfrei sein.

Tatbestand

Tatbestandlich setzt § 8 I PolG NRW eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit voraus.

Als konkrete Gefahr wird eine Sachlage bezeichnet, in der im konkreten Einzelfall bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zukunft ein Schaden für die geschützten Rechtsgüter eintreten wird.9 Hier ist auf die Rückfallwahrscheinlichkeit des T abzustellen, die durch das Gutachten attestiert wurde. Hiernach ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zukunft mit erneuten Straftaten des T zu rechnen, wobei insbesondere die körperliche und psychische Integrität des Opfers beeinträchtigt würde, das einen Schaden für Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit darstellen würde.

Der Tatbestand des § 8 I PolG NRW ist somit erfüllt.

Betroffenheit der M

Fraglich ist aber, wie es sich auswirkt, dass nicht allein der T (als Störer) von der Maßnahme betroffen ist, sondern faktisch auch die M, die selbst nicht für die Gefahr verantwortlich ist.

Diesbezüglich stellt das OVG Münster zunächst klar, dass es sich bei M weder um einen Störer, noch um einen „Nichtstörer" i.S.d. § 6 PolG NRW handelt. Gegen einen „Nichtstörer" i.S.d. § 6 PolG NRW müssten nämlich gezielt (als ultima ratio) Maßnahmen getroffen werden. Dies ist vorliegend aber nicht der Fall. Die M ist vielmehr rein faktisch durch die Maßnahme betroffen, ohne dabei „Störer" oder „Nichtstörer" i.S.d. Polizeirechts zu sein.

Nach Ansicht des OVG Münster ist diese faktische Mitbetroffenheit von Personen, die sich in der Nähe des Störers befinden, von § 8 I PolG NRW mit umfasst, soweit die Betroffenheit unvermeidbar ist. Andernfalls würde eine Maßnahme wie die vorliegende nur in sehr wenigen Fällen rechtmäßig sein können, da sich praktisch immer irgendjemand in der Nähe des Störers aufhalten wird. Hierdurch würden die Überlegungen zur übergangsweisen Anwendung der polizeirechtlichen Generalklausel für die Dauerobservation gefährlicher Straftäter „ad absurdum geführt".

Die Betroffenheit der M ändert somit an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme nichts.

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Als zentrale Einschränkung der übergangsweisen Anwendung der Generalklausel auf Fälle wie den vorliegenden, hat das OVG Münster aber die strikte Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorgeschrieben.

legitimer Zweck und Geeignetheit

Die Gefahrenabwehr ist ein legitimes Ziel. Die Dauerobservation ist auch geeignet, um den T von weiteren Straftaten abzuhalten, da dieser mit einer Entdeckung bzw. unmittelbaren Verhinderung der Tat durch die Polizeibeamten rechnen muss.

Erforderlichkeit

Ein milderes Mittel ist nicht ersichtlich, um den T mit der gleichen Wirksamkeit von Straftaten abzuhalten.

Angemessenheit

Fraglich ist aber, ob die Maßnahme auch angemessen ist. Abzuwägen sind die Beeinträchtigungen der Rechtsposition des T gegen das öffentliche Interesse an der Maßnahme.

Anmerkung: Beachten Sie, dass für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme auf die Rechtsposition des T abzustellen ist, nachdem dieser das „Ziel" der Maßnahme ist. Dass die M von der Maßnahme faktisch betroffen werden darf, wurde bereits oben festgestellt.

Gegen die Angemessenheit spricht zunächst, dass T in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und somit in einem bedeutenden Grundrecht betroffen ist. Durch die Dauerobservation findet zudem ein Eingriff von hoher Intensität statt, da sich der T praktisch nicht mehr frei bewegen kann, ohne ständig beobachtet zu werden.

Auf der anderen Seite ist aber zu beachten, dass die von T ausgehende Gefahr erheblich ist. Die Schäden, die bei potenziellen Opfern einzutreten drohen, sind gravierend. Die körperliche Unversehrtheit ist grundsätzlich höher zu gewichten als das allgemeine Persönlichkeitsrecht.

Hinzu kommt, dass T in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nur hinsichtlich der Sozialsphäre betroffen ist, während die Intimsphäre unberührt bleibt. Die Wohnräume, in denen sich T aufhält, sind von der Observation nicht betroffen. Hier kann sich T also frei und ohne Zwänge bewegen.

Legt man die sog. Sphärentheorie des BVerfG10 zugrunde, so sind hier keine über den allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hinausgehende Anforderungen zu stellen. Selbst wenn man die Privatsphäre über den räumlichen Bereich der Wohnung des Betroffenen ausdehnt, so wären die Anforderungen der Sphärentheorie an Eingriffe in die Privatsphäre gewahrt. Hier braucht es Belange des Gemeinwohls, die das Geheimhaltungsinteresse des Betroffenen deutlich überwiegen. Nach oben Gesagtem ist auch dies hier der Fall.

Die Maßnahme ist folglich auch verhältnismäßig.

Ermessen

Ermessensfehler sind nicht ersichtlich.

d) Zwischenergebnis

Die Maßnahme ist somit materiell rechtmäßig. Der Eingriff ist demnach nicht rechtswidrig. Ein Unterlassungsanspruch scheidet folglich aus.

IV. Ergebnis

Die Klage hat keinen Erfolg.

D) Kommentar

(mg). Die Entscheidung überzeugt auf ganzer Linie, wenngleich sie auf den ersten Blick überrascht. Das OVG Münster erklärt § 16a PolG NRW (fast schon kleinlich) für nicht einschlägig, um dann als Auffangtatbestand die polizeiliche Generalklausel heranzuziehen. Dieses absurd erscheinende Vorgehen ist aber in der Sache absolut konsequent. Hätte das OVG Münster § 16a PolG NRW für anwendbar erklärt, was angesichts des Wortlauts der Norm durchaus vertretbar gewesen wäre, so hätte es damit eine dauerhafte Lösung für die Behandlung solcher Fälle geschaffen. Der Gesetzgeber hätte selbst nicht mehr tätig werden müssen. Dies hätte die unerträgliche Konsequenz gehabt, dass Dauerobservationen und somit Eingriffe von sehr hoher Intensität dauerhaft auf eine Rechtsgrundlage hätten gestützt werden können, die dieser verfassungsrechtlichen Dimension des Eingriffs keine Rechnung trägt, weil der Gesetzgeber solche Fälle schlicht nicht vor Augen hatte, als er den § 16a PolG NRW geschaffen hat. Das Gericht hat somit den Gesetzgeber dazu gezwungen, zeitnah eine entsprechende Rechtsgrundlage zu schaffen. Auch die Art und Weise, wie das Gericht die Generalklausel „modifiziert", um dem Vorbehalt des Gesetzes gerecht zu werden, überzeugt. Die strenge Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und eine zeitliche Begrenzung sind adäquate Mittel, um die Behörden trotz des weit gefassten Tatbestandes von uferlosen Maßnahmen abzuhalten. Das Ergebnis sichert die Streitbarkeit des Rechtsstaats auch in Ausnahmesituationen.

E) Zur Vertiefung

  • Zu den Rechtsgrundlagen im Polizeirecht

Hemmer/Wüst, Polizeirecht Bayern, Rn. 91 ff.

F) Wiederholungsfragen

  1. Was sind die Voraussetzungen für den öffentlich-rechtlichen

    Unterlassungsanspruch?

  2. Was ist die statthafte Klageart gegen polizeiliche Realakte und

    woraus wird diese Klageart hergeleitet?


  1. BVerfG, NJW 2011, 1931

  2. EGMR, Urt. v. 17.12.2009 - 19359/04 -, NJW 2010, 2495 zur Neufassung des Unterbringungsrechts vgl. BVerfG, 2 BvR 2302/11; 2 BvR 1279/12 -- Beschluss vom 11.07.2013 = Life & Law 2013, 906

  3. Vgl. zur Schwerpunktbildung BayVGH, Beschluss vom 05.11.2009, Az. 10 C 09.2122; OVG Lüneburg, Beschluss vom 08.11.2013 -- 11 OB 263/13 = Life & Law 01/2014

  4. Vgl. zu dieser subjektiven Dimension des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vertiefend Grieger/Morawietz, Rechtsschutz gegen polizeiliche Videoüberwachungsmaßnahmen, Life & Law 08/2012, 598, 604 f.

  5. Maunz/Dürig, Art. 2 GG, Rn. 216.

  6. Vgl. etwa VG Freiburg, Urt. v. 14.02.2013 - 4 K 1115/12.; OVG Saarland, Beschl. V. 16.12. 2010 - 3 B 284/10

  7. BVerfG, Beschl. v. 08.11.2012, 1 BvR 22/12

  8. EGMR, Urt. v. 17.12.2009 - 19359/04 -, NJW 2010, 2495

  9. Voßkuhle, JuS 2007, 908.

  10. BVerfGE 89, 69, 82 f.