Das Kreuz mit dem Kreuz!

von RA Michael Grieger

von Life and Law am 01.03.2014

Das Kreuz ist eines der ältesten Symbole der Menschheit. Seine Verwendung geht zurück bis in die Steinzeit. Es findet sich bspw. in vielen Felsenmalereien. Zum Teil war es ein Symbol für Himmel und Erde, zum Teil für die vier Himmelsrichtungen, im alten Ägypten wiederum stützen die vier Säulen des Kreuzes das Himmelsgewölbe.

Kreuz als christliches Symbol

Heute wird das Kreuz vor allen Dingen als Zeichen des Christentums verstanden. Es wurde im Jahr 431 durch das Konzil von Ephesos offiziell als christliches Zeichen eingeführt. Das Zeichen leitet sich von der Kreuzigung Christi ab und ist in der christlichen Theologie eng mit den Themen Schuld und Sühne sowie dem Tod verbunden.

Über viele Jahrhunderte war das Kreuz dabei auch ein Zeichen der staatlichen Macht, schon als Beleg dafür, dass viele Herrscher „gottgesandt" waren bzw. die Bevölkerung dies glauben machen wollten. So findet sich in vielen Wappen und Flaggen das Kreuz wieder. Die meisten Reichskleinodien der deutschen Kaiser enthalten bspw. ein Kreuz -- sei es nun Reichskrone, Reichsapfel oder Reichsschwert.

Insoweit ist das Verlangen nach einem „kreuzfreien" öffentlichen Raum ein relativ junges Phänomen und erst ab den 60er Jahren gehäuft aufgetreten.

In diesem Beitrag wird das „Kreuz" im öffentlichen Raum als Klausurproblem an Hand der wichtigsten hierzu ergangenen Entscheidungen dargestellt.

I. Kreuz im Gerichtssaal

Die erste wichtige Entscheidung betraf ein Kreuz im Gerichtssaal.

Gerichtssäle werden in Deutschland traditionell auch noch bis zum heutigen Tag mit einem Kreuz ausgestattet, ohne dass dies freilich gesetzlich geregelt wäre.

Widerspricht ein Prozessbeteiligter der Anbringung des Kreuzes, muss dieses grundsätzlich entfernt werden.

Der Leitsatz des Beschlusses des BVerfG vom 17.07.1973, 1 BvR 308/68 lautet:

Der Zwang, entgegen der eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung in einem mit einem Kreuz ausgestatteten Gerichtssaal verhandeln zu müssen, kann das Grundrecht eines Prozessbeteiligten aus Art. 4 I GG verletzen."

Das BVerfG stellt dabei darauf ab, dass durch das Kreuz „auch heute noch" der Eindruck einer engen Verbundenheit mit christlichen Vorstellungen erweckt werde.

Gegen einen Eingriff in Art. 4 I GG spreche zwar, dass durch das bloße Vorhandensein eines Kreuzes von den Prozessbeteiligten „weder eine eigene Identifizierung mit den darin symbolhaft verkörperten Ideen oder Institutionen noch ein irgendwie geartetes aktives Verhalten" verlangt werde.

„Dennoch muss anerkannt werden, dass sich einzelne Prozessbeteiligte durch den für sie unausweichlichen Zwang, entgegen eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen „unter dem Kreuz" einen Rechtsstreit zu führen und die als Identifikation empfundene Ausstattung in einem rein weltlichen Lebensbereich tolerieren zu müssen, in ihrem Grundrecht aus Art. 4 I GG verletzt fühlen können. Das als unverletzlich gewährleistete Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit steht - wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt betont hat - in enger Beziehung zur Menschenwürde als dem obersten Wert im System der Grundrechte und muss wegen seines Ranges extensiv ausgelegt werden. Das in ihm verkörperte Freiheitsrecht, von staatlichen Zwängen in weltanschaulich-religiösen Fragen unbehelligt zu bleiben, kann einen Minderheitenschutz selbst vor verhältnismäßig geringfügigen Beeinträchtigungen jedenfalls dort rechtfertigen, wo - wie im Bereich der staatlichen Gerichtsbarkeit - die Inanspruchnahme dieses Schutzes nicht mit Rechten einer Bevölkerungsmehrheit zur Ausübung ihrer Glaubensfreiheit kollidiert."

Anmerkung: Diese Ausführungen sind grundlegend für die weitere Rechtsprechung deutscher Gerichte zum Zwang, unter dem Kreuz zu verhandeln, zu lernen, zu arbeiten. Ein entscheidender Punkt, den das BVerfG in dieser Entscheidung nur andeutet, ist, dass die negative Religionsfreiheit desjenigen, der das Kreuz im Verhandlungssaal ablehnt, nicht mit der positiven Religionsfreiheit der anderen Prozessbeteiligten kollidiert, da ein staatlich angebrachtes Kreuz im Gerichtssaal nicht von dieser Religionsfreiheit gedeckt ist. Art. 4 I GG gibt keinen grundsätzlichen Anspruch auf ein Kreuz im Gerichtssaal.

Das BVerfG betont in seiner Entscheidung noch, dass jedenfalls aufgrund Art. 140 GG, Art. 136 III S. 1 WRV keine überhöhten Anforderungen an den Prozessbeteiligten gestellt werden dürfen, der aus religiösen Gründen die Entfernung des Kreuzes verlangt.

Anmerkung: Interessant an der Entscheidung des BVerfG ist, dass das BVerfG eine Rechtfertigungsprüfung allenfalls andeutet. Die positive Religionsfreiheit der anderen Prozessbeteiligten ist jedenfalls grundsätzlich nicht geeignet, den Eingriff in die negative Religionsfreiheit zu rechtfertigen. Zum einen gibt es -- wie eben dargelegt -- keinen Anspruch aus Art. 4 I GG auf die staatliche Anbringung eines Kreuzes. Zum anderen würde sich selbst dann, wenn man dies anders sähe, eine Mehrheitsentscheidung verbieten, da Grundrechte gerade Minderheitenrechte sind.

Das Kreuz im Saal eines eigentlich religiös neutralen Gerichtes ist auch nicht damit zu rechtfertigen, wie dies traditionell geschehen ist, dass demjenigen, der den Eid mit religiöser Beteuerung leistet, ein „Schwurgegenstand" zur Verfügung gestellt werden soll.1 Hierfür ist -- schon angesichts des absoluten Ausnahmecharakters der eidlichen Aussage -- kein permanentes Kreuz im Saal notwendig. Das BVerfG stellt insoweit klar, dass die Gerichte nicht gehindert sind, im Fall einer Eidesleistung dem Wunsch des Zeugen nach einem Kreuz in diesem Moment zu entsprechen, zumal ein derartiger, auf den konkreten Anlass beschränkter Gebrauch des Kreuzes im Gerichtssaal Andersdenkende nicht beschweren kann und unmissverständlicher Ausdruck religiöser Toleranz gegenüber dem jeweiligen Eidespflichtigen ist.

hemmer-Methode: Diese grundlegende Entscheidung des BVerfG darf allerdings nicht so verstanden werden, dass ein allgemeiner Anspruch auf einen „kreuzfreien" Gerichtssaal bestünde. Das BVerwG hat zutreffend bereits in einer im Jahr 1971 ergangen Entscheidung betont, dass jemand, der nicht Prozessbeteiligter ist, nicht die Entfernung einer bestimmten Wandausstattung aus dem Gerichtssaal verlangen kann.2 Insoweit war es nicht ganz nachvollziehbar, dass das OLG München offenbar den Forderungen türkischer Politiker und Journalisten nachkam, das Kreuz aus dem Sitzungssaal für den NSU-Prozess zu entfernen. Jedenfalls war das Kreuz nach diesen Beschwerden ohne Begründung des Gerichts „verschwunden".

II. Kreuz in der Schule

Die nächste grundlegende Entscheidung zu dem Themenkomplex „Kreuz" ließ über zwanzig Jahre auf sich warten, war dafür aber ein umso größerer Paukenschlag.

1. BVerfG: „Ausnahmsloses" Kreuz im Klassenzimmer verfassungswidrig

Am 16.05.1995 urteilte das BVerfG in seinem Beschluss 1 BvR 1087/913 wie folgt:

„Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 I GG."

Ausgangspunkt der Entscheidung war der damalige § 13 der Volksschulordnung in Bayern (VSO): „Die Schule unterstützt die Erziehungsberechtigten bei der religiösen Erziehung der Kinder. Schulgebet, Schulgottesdienst und Schulandacht sind Möglichkeiten dieser Unterstützung. In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen. Lehrer und Schüler sind verpflichtet, die religiösen Empfindungen aller zu achten."

hemmer-Methode: Entgegen vieler Vorurteile existiert in Bayern kein „Kruzifix-Gesetz", sondern ein Kreuzgesetz. Das Kruzifix (von lateinisch „cruci fixus", das heißt „ans Kreuz geheftet") ist die künstlerische Darstellung des gekreuzigten Christus. Im Unterschied zum einfachen Kreuz trägt das Kruzifix den Leib des Gekreuzigten.

Nachdem Eltern das Abhängen des Kreuzes erfolglos von der Schulleitung verlangt und hiergegen erfolglos prozessiert hatten, erhoben sie Verfassungsbeschwerde zum BVerfG.

Mit Erfolg! Die wesentlichen Gründe des BVerfG lauten dabei wie folgt:

„Art. 4 I GG schützt die Glaubensfreiheit. Der Staat darf dem Einzelnen einen Glauben oder eine Religion weder vorschreiben noch verbieten. Zur Glaubensfreiheit gehört aber nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln. Insbesondere gewährleistet die Glaubensfreiheit die Teilnahme an den kultischen Handlungen, die ein Glaube vorschreibt oder in denen er Ausdruck findet."

negative Religionsfreiheit von Art. 4 I GG geschützt

Dem entspricht umgekehrt die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. Diese Freiheit bezieht sich ebenfalls auf die Symbole, in denen ein Glaube oder eine Religion sich darstellt. Art. 4 I GG überlässt es dem Einzelnen zu entscheiden, welche religiösen Symbole er anerkennt und verehrt und welche er ablehnt. Zwar hat er in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Davon zu unterscheiden ist aber eine vom Staat geschaffene Lage, in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist.

Im Verbund mit Art. 6 II S. 1 GG, der den Eltern die Pflege und Erziehung ihrer Kinder als natürliches Recht garantiert, umfasst Art. 4 I GG auch das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. Es ist Sache der Eltern, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten. Dem entspricht das Recht, die Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die den Eltern falsch oder schädlich erscheinen.

Grundsatz staatlicher Neutralität

Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, kann die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selber in Glaubensfragen Neutralität bewahrt. Der Grundsatz der staatlichen Neutralität, Art. 140 GG, Art. 137 I WRV, untersagt die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wie die Ausgrenzung Andersgläubiger. Auf die zahlenmäßige Stärke oder die soziale Relevanz der Glaubensgemeinschaften kommt es dabei nicht an.

Eingriff im Zusammenspiel mit Schulpflicht

Zusammen mit der allgemeinen Schulpflicht führen Kreuze in Unterrichtsräumen dazu, dass die Schüler während des Unterrichts von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit mit diesem Symbol konfrontiert sind und gezwungen werden, „unter dem Kreuz" zu lernen. Dadurch unterscheidet sich die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern von der im Alltagsleben häufig auftretenden Konfrontation mit religiösen Symbolen der verschiedensten Glaubensrichtungen. Zum einen geht diese nicht vom Staat aus, sondern ist eine Folge der Verbreitung unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen und Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft. Zum anderen besitzt sie nicht denselben Grad von Unausweichlichkeit. Zwar hat es der Einzelne nicht in der Hand, ob er im Straßenbild, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder beim Betreten von Gebäuden religiösen Symbolen oder Manifestationen begegnet. Es handelt sich in der Regel jedoch um ein flüchtiges Zusammentreffen, und selbst bei längerer Konfrontation beruht diese nicht auf einem notfalls mit Sanktionen durchsetzbaren Zwang.

Anmerkung: Das BVerfG betont in diesem Zusammenhang, dass die Zwangswirkung bei einem Kreuz im Klassenraum noch stärker ist als bei einem Kreuz im Gerichtssaal, was schon angesichts eines Vergleichs von Dauer der Schulpflicht und Dauer eines normalen Gerichtsverfahrens überzeugt!

Rechtfertigung

Das Grundrecht der Glaubensfreiheit ist vorbehaltlos gewährleistet. Das bedeutet aber nicht, dass es keinerlei Einschränkungen zugänglich wäre. Diese müssen sich jedoch aus der Verfassung selbst ergeben. Eine Errichtung von Schranken, die nicht bereits in der Verfassung angelegt sind, steht dem Gesetzgeber nicht zu. Verfassungsrechtliche Gründe, die den Eingriff zu rechtfertigen vermöchten, sind hier aber nicht vorhanden.

Solches kollidierendes Verfassungsrecht liegt aus Sicht des BVerfG nicht vor.

Die Anbringung des Kreuzes rechtfertigt sich insbesondere nicht aus der positiven Glaubensfreiheit der Eltern und Schüler christlichen Glaubens. Die positive Glaubensfreiheit kommt allen Eltern und Schülern gleichermaßen zu, nicht nur den christlichen. Der daraus entstehende Konflikt lässt sich nicht nach dem Mehrheitsprinzip lösen, denn gerade das Grundrecht der Glaubensfreiheit bezweckt in besonderem Maße den Schutz von Minderheiten.

Außerdem gibt Art. 4 I GG keinen umfassenden Anspruch darauf, seine Glaubensüberzeugung im Rahmen staatlicher Institutionen zu betätigen.

Anmerkung: Dies ist noch zurückhaltend formuliert. Es geht bei dem „staatlich aufgehängten Kreuz" eigentlich überhaupt nicht um die Betätigung der individuellen Glaubensüberzeugung. Dies wäre der Fall, wenn der christliche Schüler ein eigenes Tischkreuz aufstellen würde. Oder deutlicher formuliert gibt Art. 4 I GG keinen Anspruch darauf, dass der Staat ein Kreuz für den Einzelnen aufhängt! Art. 4 I GG ist ein Abwehr- und kein Leistungsrecht!

In diesem Punkt unterscheidet sich das Kreuz im Klassenzimmer entscheidend vom Kopftuch der muslimischen Lehrerin. Diese kann sich auf ihre positive Religionsfreiheit berufen, sodass hier eine Kollision zwischen der Religionsfreiheit der Lehrerin und der der Schüler vorliegt, die im Rahmen einer praktischen Konkordanz zu lösen ist! Dabei ist es nach Ansicht des BVerwG nicht zu beanstanden, wenn der Religionsfreiheit der Schüler grundsätzlich der Vorrang eingeräumt wird.4

Der Eingriff in die negative Religionsfreiheit kann auch nicht mit dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag nach Art. 7 I GG gerechtfertigt werden. Zwar darf der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Schulwesens durchaus christliche Bezüge einfließen lassen. Die Anbringung des Kreuzes überschreitet das zulässige Maß aber schon angesichts der damit verbundenen Unausweichlichkeit.

Anmerkung: Diese sog. „Kruzifix-Entscheidung" des BVerfG war auch intern heftig umstritten, was allein schon daran zu erkennen ist, dass gleich drei Richter nach § 30 II BVerfGG eine abweichende Meinung veröffentlichten. Hätte sich nur ein weiterer Richter dem angeschlossen, wäre die Entscheidung anders ausgefallen und das Kreuzgesetz verfassungsgemäß, vgl. § 15 IV S. 3 BVerfGG. Auch die Kritik der Kirchen und gerade der bayerischen Politik fiel durchaus heftig aus -- was aber nichts daran ändert, dass die Entscheidung überzeugt. Die Schulpflicht begründe einen Zwang, unter dem Kreuz zu lernen, der nicht mit kollidierendem Verfassungsrecht gerechtfertigt werden kann.

Die Entscheidung dürfte auch nicht anders ausfallen, wenn es um das Klassenzimmer eines Gymnasiums geht. Hier mag zwar in der Oberstufe rechtlich keine Schulpflicht mehr bestehen, faktisch allerdings schon. Die allgemeine Hochschulreife als Teil der Berufsausbildung, Art. 12 I GG, kann in der Masse nur an staatlichen Gymnasien erworben werden.

Die Entscheidung des BVerfG steht auch nicht unmittelbar im Widerspruch zur Entscheidung des EGMR v. 18.11.2011, Az. 30814/11. Zwar wird dort festgestellt, dass ein Kreuz im Klassenraum nicht gegen die Religionsfreiheit nach der EMRK verstoße. Dies wird aber zum einen v.a. damit begründet, dass es um den Bereich des Schulwesens gehe, für den die EMRK nicht gelte. Zum anderen hindert diese engere Auslegung der EMRK den deutschen Verfassungsgeber nicht daran, ein Mehr an Grundrechtsschutz über Art. 4 I GG zu geben. Lediglich ein Zurückbleiben hinter den Standards der EMRK wäre problematisch.

Reaktion auf BVerfG: Neues Kreuzgesetz!

Der Bayerische Gesetzgeber reagierte auf die Entscheidung des BVerfG mit dem Erlass des Art. 7 III (nunmehr IV) BayEUG. Auch nach dieser Vorschrift wird wiederum ein Kreuz im Klassenraum angebracht. Anders als bei § 13 VSO sieht Art. 7 III BayEUG nunmehr aber auch eine Lösung für den Fall vor, dass ein Erziehungsberechtigter der Anbringung des Kreuzes aus Glaubensgründen widerspricht. In diesem Fall „versucht die Schulleiterin bzw. der Schulleiter eine gütliche Einigung. Gelingt eine Einigung nicht, hat sie bzw. er nach Unterrichtung des Schulamts für den Einzelfall eine Regelung zu treffen, welche die Glaubensfreiheit des Widersprechenden achtet und die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen aller in der Klasse Betroffenen zu einem gerechten Ausgleich bringt; dabei ist auch der Wille der Mehrheit, soweit möglich, zu berücksichtigen".

2. BVerwG: Widerspruchslösung verfassungskonform

Diese Widerspruchslösung ist aus Sicht des BVerwG zumindest bei der gebotenen verfassungskonformen Auslegung verfassungskonform.5

Art. 7 III BayEUG verstößt insbesondere nicht gegen die Bindungswirkung der Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1995, § 31 I BVerfGG. Das BVerfG stellt in seiner Begründung gerade darauf ab, dass der Zwang, unter dem Kreuz zu lernen, gerade wegen seiner Unausweichlichkeit Art. 4 I GG verletzt. Eben diese Unausweichlichkeit besteht mit der Widerspruchslösung nicht mehr.

Schule kein absolut „kreuzfreier" Raum

Das BVerfG hat gerade nicht festgestellt, dass die Schule zwingend und absolut „kreuzfrei" zu sein hat. Dies ergibt sich insbesondere nicht aus dem Neutralitätsprinzip des Art. 140 GG, Art. 137 I WRV. Die Verpflichtung des Staates zur weltanschaulich-religiösen Neutralität ist

  • anders als der Grundsatz des Laizismus, auf den bspw. die französische Verfassung aufbaut - nicht gleichzusetzen mit einer strikten Trennung von Staat und Kirche. Schon dem Wortlaut des Grundgesetzes lässt sich in vielfältiger Weise entnehmen, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht als ein laizistischer Staat verfasst ist. Ein Beleg ist bspw. die Benennung Gottes in der Präambel des Grundgesetzes. Außerdem ist nach Art. 7 III GG der Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen ordentliches Lehrfach.

kein Verstoß gegen Art. 140 GG, Art. 136 III WRV

Die Widerspruchslösung des bayerischen Gesetzgebers verstößt auch nicht gegen Art. 140 GG, Art. 136 III WRV.

Nach Art. 136 III S. 1 WRV ist niemand verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Allerdings steht auch dieses Recht unter dem ungeschriebenen Schrankenvorhalt kollidierender Verfassungsgüter. Da die negative Religionsfreiheit hier mit den religiösen Überzeugungen der christlichen Schüler kollidieren kann, ist es dem Einzelnen zumutbar, seine religiösen Überzeugungen durch den Widerspruch „gegen das Kreuz" offenzulegen.

Allerdings muss es für die Erfüllung der Darlegungspflicht dann ausreichen, wenn die widersprechenden Eltern religionsunmündiger Kinder zu erkennen geben, dass sie es als Atheisten oder Angehörige einer nichtchristlichen Glaubensgemeinschaft als unzumutbar empfinden, wenn ihr Kind dem Einfluss des Kreuzes ausgesetzt wird.

Anmerkung: Der Widersprechende muss nicht weiter erklären, warum es mit seinem Glauben unvereinbar ist, unter dem Kreuz zu lernen, insbesondere nicht, worin konkret die unzumutbare Beeinflussung des Kindes zu sehen ist. Nur in offenkundigen Missbrauchsfällen kann der Widerspruch an mangelnder Ernsthaftigkeit scheitern.

Nach dem Wortlaut des Art. 7 III BayEUG kommt es auf den Widerspruch des Erziehungsberechtigten an. Ab der Religionsmündigkeit des Schülers, die aufgrund der Wertungen des § 5 RelKErzG zumindest im Normalfall ab dem vierzehnten Lebensjahr bejaht wird, muss jedoch auch der Widerspruch des Schülers entsprechende Beachtung finden.

aber: keine Mehrheitsentscheidung im Konfliktfall

Wenn ein Widerspruch eines Erziehungsberechtigten vorliegt, eine Einigung durch den Schulleiter nicht herbeigeführt werden kann, dann muss aber entgegen des Wortlauts des Art. 7 III BayEUG der Widerspruch Erfolg haben und das Kreuz entfernt werden. Der entscheidende Leitsatz der Entscheidung des BVerwG lautet:

Die Widerspruchsregelung ist bundesverfassungskonform dahin auszulegen, dass sich die Widersprechenden dann, wenn sie sich auf derartige ernsthafte und einsehbare Gründe stützen, eine Einigung nicht zustande kommt und andere zumutbare, nicht diskriminierende Ausweichmöglichkeiten nicht bestehen, letztlich durchsetzen müssen".

Keinesfalls kann der Widerspruch mit der Begründung abgewiesen werden, dass die Mehrheit in der Klasse das Kreuz wünscht -- auch wenn dies der Gesetzeswortlaut des Art. 7 III BayEUG nahelegt. Die Grundrechte sind gerade Minderheitenrechte und Grundrechtseingriffe können deshalb auf keinen Fall über einen Mehrheitswillen gerechtfertigt werden. Hinzu tritt, dass es jedem christlichen Schüler unbenommen ist, sein eigenes Kreuz mit sich zu führen. Er benötigt kein „staatliches" Kreuz, um seinen Glaubensüberzeugungen Ausdruck zu verleihen, sodass seine Interessen hinter der negativen Religionsfreiheit nichtchristlicher Schüler zurücktreten müssen.

Widerspruchsrecht für den Lehrer?

Während der Widerspruch von Schülern bzw. deren Eltern sich im Konfliktfall durchsetzt, ist dies für den Widerspruch eines Lehrers jedenfalls nicht zwingend.

Nach Ansicht des BayVGH steht diesem zwar grundsätzlich ein Abwehrrecht gegen das Kreuz aus Art. 4 I GG zu.

„Sein Grundrecht erfährt allerdings erhebliche Einschränkungen durch die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums gemäß Art. 33 V GG, durch die daraus herzuleitende beamtenrechtliche Gehorsams- und Loyalitätspflicht gegenüber dem Dienstherrn und infolgedessen durch die Pflicht, die dem staatlichen Gestaltungswillen in Art. 7 I GG anvertraute und von ihm geprägte Organisation des Schulwesens anzuerkennen und sich ihr einzuordnen."6

Religionsfreiheit auch für Lehrer

Der VGH stellt in seiner Entscheidung zunächst klar, dass auch ein Lehrer sich jedenfalls auf den Kernbereich der Religionsfreiheit berufen kann, diese also auch im sog. Sonderstatusverhältnis „Beamter" zur Geltung kommt. Dies ist schon wegen des Menschenwürdegehalts des Art. 4 I GG zwingend.

Auch bei einem Lehrer kann der Zwang, „unter einem Kreuz zu unterrichten", gegen Art. 4 I GG verstoßen und einen Anspruch auf die Entfernung des Kreuzes begründen.

kein kollidierendes Recht auf ein Kreuz der Schüler/Eltern

Mit dem Recht des Lehrers kollidiert hier nicht ein Anspruch der Schüler bzw. Eltern auf die Anbringung des Kreuzes. Der VGH stellt bemerkenswert deutlich klar, dass es ein solches Recht nicht gibt (s.o.):

„Zur Religionsfreiheit und ihrem Schutzbereich gehören auch die Symbole, in denen ein Glaube oder eine Religion sich darstellt, also insbesondere das Kreuzzeichen. Dies darf jedoch andererseits nicht dazu führen, dass der Staat positiv für dessen Propagierung als Symbol des christlichen Glaubens in Anspruch genommen werden kann. Art. 4 Abs. 1 GG verleiht dem Einzelnen und den religiösen Gemeinschaften vielmehr grundsätzlich keinen Anspruch darauf, ihrer Glaubensüberzeugung mit staatlicher Unterstützung Ausdruck zu verleihen."

aber: Pflicht des Lehrers zur Neutralität und Toleranz

Die Rechte des Lehrers aus Art. 4 I GG sind aber eingeschränkt durch die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums gemäß Art. 33 V GG. Er hat deshalb insbesondere den Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates zu beachten und darf nicht die Religionsfreiheit der Eltern und Schüler verletzen, sondern ist als Amtswalter grundsätzlich zur Neutralität in religiösen Fragen verpflichtet.

„Insofern gewinnt das an sich von jedem Beamten zu beachtende allgemeine Gebot der Zurückhaltung bei Äußerungen vor allem im dienstlichen Bereich eine spezifische Qualität. Der Lehrer muss sich stets des starken Einflusses bewusst sein, den sein gesamtes Verhalten im Unterricht auf die Schüler - zumal im Volksschulalter - hat. Er wirkt immerhin auf Personen ein, die aufgrund ihrer Jugend in ihren Anschauungen noch nicht gefestigt sind, Kritikvermögen und Ausbildung eigener Standpunkte erst erlernen sollen und daher einer mentalen Beeinflussung besonders leicht zugänglich sind. Bei Meinungsäußerungen ist noch die besondere Situation der Abhängigkeit der Schüler vom Lehrer in Rechnung zu stellen. Schüler könnten sich dadurch wirklich oder vermeintlich einem gewissen Anpassungszwang an die zur Schau getragene Meinung des Lehrers ausgesetzt sehen, um schulische Nachteile zu vermeiden. Dazu kommt noch der Umstand, dass die Stellung eines Schülers durch die Einbindung in seine Klasse und die Gefahr, durch Vertreten einer eigenen Meinung - also einer anderen, als vom Lehrer möglicherweise propagiert und von den Mitschülern akzeptiert - in eine Außenseiterrolle zu geraten, weit größer als bei Erwachsenen ist. Dies gilt insbesondere für das jüngere Schulkind, das noch kaum zur kritischen Selbstbehauptung seiner eigenen Position gegenüber seiner Umgebung in der Lage ist. Freilich bedeutet die Pflicht des Lehrers zur Offenheit gegenüber der Vielfalt möglicher Anschauungen und zum Vermeiden von Werbung für eine Anschauung im Sinn einer Identifizierung nicht den Zwang zu einer „absoluten Neutralität". Sie kann es angesichts der Bindungen der Schule an die objektiven Wertentscheidungen des Grundgesetzes und der Bayerischen Verfassung ohnehin so nicht geben. Für die angemessene Rücksichtnahme auf die in einer pluralistischen Gesellschaft vertretenen und vertretbaren vielfältigen Anschauungen genügt es, wenn der Lehrer seine eigenen Überzeugungen auf der Grundlage von Verfassung und Schulgesetzen einbringt und dabei insbesondere in den sehr sensiblen Bereichen ethischer, weltanschaulicher oder politischer Fragen Zurückhaltung bewahrt. Sollte jedoch der Lehrer nicht zu diesem Verhalten bereit sein, indoktrinierend oder polarisierend wirken und die Bereitschaft, Toleranz zu vermitteln und auch selber zu leben, vermissen lassen, so kann sich die Einschränkung des Grundrechts aus Art. 4 I, II GG für den Lehrer aus einer Kollision mit den ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern der von der Schule (und dem Lehrer) gegenüber den Schülern (und deren Eltern) zu beachtenden religiös-weltanschaulichen Neutralität und der Bewahrung des religiösen Friedens in der Schule ergeben, sofern ein schonender Ausgleich dieser einander entgegenstehenden Rechtsgüter nicht möglich ist. Ein solcher Ausgleich wird namentlich dann nicht möglich sein, wenn das Verhalten objektiv und aus der Sicht eines gewöhnlichen Schülers bewertet mit gezielter Provokation eine Intoleranz ausstrahlt, wie dies auch bei einem entsprechenden Verhalten eines Mitschülers nicht zu dulden ist".

entsprechende Anwendung des Art. 7 III BayEUG

Den Konflikt zwischen der Religionsfreiheit des Lehrers und seiner Pflicht zur weltanschaulichen Toleranz löst der VGH über eine entsprechende Anwendung des Art. 7 III (nunmehr IV) BayEUG. Im Rahmen der Abwägung der widersprechenden Rechtsgüter hat der Lehrer eine schwächere Position. Er ist eben nicht nur - als Person - Grundrechtsträger, sondern zugleich auch Amtsträger.

Anmerkung: Die Argumentation des VGH ist auf den ersten Blick bestechend. Zwar gibt es keinen Anspruch der Schüler auf ein staatlich angebrachtes Kreuz, mit dem die Religionsfreiheit des Lehrers kollidieren kann. Durch seinen Widerspruch gegen das Kreuz bringt der Lehrer aber u.U. eine Intoleranz zum christlichen Glauben Ausdruck, die wiederum seiner beamtenrechtlichen Pflicht zur weltanschaulichen Neutralität widersprechen kann!

Auf den zweiten Blick liegt in der Argumentation aber ein Widerspruch: Der Lehrer hat aus Art. 4 I GG ein Widerspruchsrecht, nimmt er dieses aber wahr, kann dies wiederum bereits als Intoleranz gegenüber christlichen Schülern gewertet werden. Diese Intoleranz kann wiederum der Grund sein, warum sein Widerspruch gegen das Kreuz keine Beachtung findet. Dies bedeutet im Ergebnis, dass ein Lehrer, der aus religiösen Gründen besonders deutlich und heftig dem Kreuz widerspricht, weniger Chancen hat, als ein zurückhaltender agierender Lehrer. Dementsprechend hat der Kläger in dem dem VGH vorliegenden Fall gerade deshalb gewonnen, weil er sich nicht völlig gegen christliche Symbole gestellt hat, sondern nur das Kreuz ablehnte, als Kompromiss aber angeboten hat, ein christlich geprägtes Gemälde in seinem Klassenraum anzubringen. Ein absoluter Atheist oder ein Angehöriger einer nichtchristlichen Glaubensgemeinschaft hätte diese Chance einer Kompromisslösung gerade nicht und liefe eben deshalb Gefahr, mit seinem Antrag zu unterliegen.

III. Kreuze in anderen öffentlichen Räumen

Das „Problem mit dem Kreuz" ist nicht auf Gerichtssäle oder Klassenzimmer beschränkt. So lautet der Tenor einer Entscheidung des VGH Kassel:

„Einem Kreistagsmitglied kann wegen des kommunalrechtlichen Zwanges zur Sitzungsteilnahme auf Grund seiner negativen Bekenntnisfreiheit ein Anspruch auf Entfernung eines im Sitzungssaal des Kreistages dauerhaft angebrachten Kreuzes zustehen."7

Neben dem Kreistagssaal sind der Gemeinderatssaal oder auch der Parlamentssaal vergleichbare Schauplätze einer Klage auf Entfernung des Kreuzes.

Diese Fälle unterscheiden sich von den zuvor vorgestellten allerdings dadurch, dass der Anspruchsteller gerade als Mandatsträger betroffen ist. In diesem Fall scheint es vorzugswürdig, den entsprechenden Anspruch auf Entfernung des Kreuzes nicht unmittelbar mit Grundrechten, sondern mit organschaftlichen Teilhabe- und Mitwirkungsrechten bzw. -pflichten zu begründen. Die Grundrechte sind ja gerade Rechte für den Staat und keine Rechte gegen den Staat. Entscheidend ist deshalb, dass ein nichtchristlicher Mandatsträger sein Teilnahmerecht nicht ordnungsgemäß wahrnehmen kann, wenn er gezwungen ist, dies unter einem Symbol eines für ihn fremden Glaubens zu tun!

Anmerkung: Die Situation entspricht insoweit der Frage, wieweit ein Mandatsträger ein Rauchverbot im Gemeinderatssaal verlangen kann. Auch hier haben die Gerichte in aller Regel nicht direkt aus Art. 2 II S. 1 GG einen Abwehranspruch gegen das gesundheitsbeeinträchtigende Rauchen hergeleitet, sondern auf die organschaftlichen Rechte abgestellt8

IV. Zusammenfassung

Ein Anspruch auf Entfernung eines Kreuzes als Symbol des christlichen Glaubens kann dem Einzelnen immer dann zustehen, wenn er unausweichlich und zwingend mit diesem Kreuz konfrontiert wird.

Keiner kann demnach verlangen, dass Wegekreuze entfernt oder Kirchen verhängt werden. Hier lautet die einzig vernünftige Antwort auf Beschwerden über das Kreuz „Schau halt weg!". Genau dies ist aber in den dargestellten Fällen nicht möglich.

In einer Klausur müssen Sie damit rechnen, dass der Klausurersteller nicht unbedingt eine der bekannten Konstellationen abprüft, sondern Ihnen eine Transferleistung abverlangt. Denkbar wäre bspw. ein Kreuz im Wahlraum oder in einem Behördenraum, den ein Betroffener zwingend aufsuchen muss, wie bspw. das Einwohnermeldeamt. In diesen Fällen kann dem Betroffenen aber u.U. entgegengehalten werden, dass die Dauer seiner Betroffenheit doch sehr überschaubar ist und ihm dieses deshalb evtl. zugemutet werden kann.


  1. Vgl. OLG Nürnberg, NJW 1966, 1926 und BayVerfGH 20, 87

  2. BVerwG, Beschluss vom 07. Mai 1971 -- VII B 65.70

  3. BVerfGE 93, 1 ff.

  4. BVerwGE 116, 359 vgl. auch BVerwGE 131, 242 , wonach an ein Verbot bei Referendaren jedenfalls in der Lehrerausbildung deutlich höhere Anforderungen zu stellen sind.

  5. BVerwGE 109, 40 ff.

  6. VGHE BY 55, 52

  7. VGH  Kassel, NVwZ 2003, 1544

  8. Vgl. OVG Münster, DVBl. 1991, 488